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Die Lage in der Türkei
HDP spricht von Putsch der Regierung

In der Nacht blieb es weitgehend ruhig in der Türkei - vermutlich aus Angst vor Repressionen. Bei der Oppositionspartei HDP, deren Führung gestern festgenommen war, ist inzwischen von einem weiteren Putschversuch im Land die Rede. Derweil erklärte sich die Terrororganisation IS für den gestrigen Anschlag mit neun Toten verantwortlich.

Christian Buttkereit | 05.11.2016
    Sirri Süreyya Önder auf dem Beifahrersitz eines schwarzen Autos, ein anderer Mann fährt das Fahrzeug.
    Der HDP-Abgeordnete Sirri Süreyya Önder wurde wieder freigelassen und verlas eine Botschaft von Parteichef Demirtas. (AFP / Ilyas Akengin)
    So wie hier in Ankara gab es nur vereinzelt Proteste gegen die Festnahme der HDP-Parteichefs Demirtas und Yüksekdag. Aus Istanbul berichten Augenzeugen von einzelnen Molotowcocktails im Stadtteil Tarlabasi, wo viele vor allem ärmere Kurden leben.
    Dass es nicht zu größeren Protesten kam; dürfte zwei Gründe haben. Zum einen sind viele Menschen eingeschüchtert. Sie befürchten persönliche Nachteile, wenn sie den Staat kritisieren. Zum anderen waren die sozialen Netzwerke im Internet gestern so gut wie gar nicht zu erreichen. Es war also nicht möglich, sich beispielsweise über Twitter oder Facebook zu einer Demonstration zu verabreden.
    "Wir werden weiterhin gegen diesen Putsch angehen"
    Während gegen HDP-Parteichef Selahattin Demirtas und seine Co-Vorsitzende Figen Yüksekdag Haftbefehl erlassen wurde, kamen andere Abgeordnete wieder frei. Unter ihnen Sirri Süreyya Önder, der eine Botschaft des inhaftierten Parteichefs verlas: "Wir erleben eine neue Phase eines Putsches, ein Putsch, der von der Regierung und dem Staatspräsidenten angezettelt wurde. Ich und meine Mitstreiter, wir werden weiterhin gegen diesen Putsch angehen. Wir möchten die Menschen wissen lassen, dass wir den Kampf der Menschen für Freiheit, Frieden und Demokratie weiterhin unterstützen werden."
    Den festgenommenen HDP-Politikern wird vorgeworfen, die kurdische Arbeiterpartei PKK unterstützt zu haben. Sie gilt als Terrororganisation und ist deshalb in der Türkei aber auch in Deutschland verboten. Politiker aus Europa und den USA hatten gegen die Festnahme protestiert. Der deutsche Außenminister Steinmeier bestellte den türkischen Gesandten ein.
    Was bleibt das noch in diesem Land? Nur die Faschisten
    Nach der Razzia und den Verhaftungen bei der traditionsreichen Zeitung Cumhuriyet am Montag und der Festnahme von Oppositionspolitkern gestern hieß es aus der US-Regierung, die Unterdrückung fundamentaler Freiheiten sei kein geeignetes Mittel gegen Terrorismus. Can Dündar, der frühere Chefredakteur der Cumhuriyet hält die derzeitigen Entwicklungen für genauso gefährlich wie den Umsturzversuch am 15. Juli.
    Am 15. Juli wurde das Parlament bombardiert. Staatspräsident Erdogan hat das Parlament nun erneut angegriffen. Letztendlich ist es in etwa das Gleiche. Parlamentarier einzusperren ist im Grunde nichts anderes, als das Parlament zu bombardieren. Ohne Parlament, ohne funktionierende Justiz, ohne freie Presse. Was bleibt das noch in diesem Land? Nur die Faschisten.
    Can Dündar kritisiert die deutsche Bundesregierung
    Dündar war selbst wegen Geheimnisverrats ins Gefängnis gesteckt worden. Er hatte in der Cumhuriyet darüber berichtet, dass der türkische Geheimdienst Waffen an islamistische Milizen in Syrien lieferte. Inzwischen hat sich Dündar nach Deutschland abgesetzt. Der Bundesregierung wirft er vor, zu spät auf die Entwicklungen in der Türkei reagiert zu haben: "Ich habe die deutsche Regierung bereits vor einem Jahr gewarnt und gesagt, die Situation in der Türkei ist sehr alarmierend. Das war vor einem Jahr. Wenn die Bundesregierung jetzt Ankara kritisiert, ist das ja gut und schön. Aber befinden wir uns nicht mehr nur in einer alarmierenden Situation, jetzt brennt es richtig."
    Zu dem Anschlag auf ein Polizeigebäude in Diyarbakir wenige Stunden nachdem die HDP-Abgeordneten festgenommen wurden, bekannte sich inzwischen die Terrormiliz IS. Die türkische Regierung hatte zuvor die PKK bezichtigt. Bei dem Anschlag waren neuen Menschen ums Leben gekommen und rund 100 verletzt worden.