Donnerstag, 18. April 2024

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Das Jahr 1923
Die Zerreißprobe der Weimarer Republik

Ruhrbesetzung, Hyperinflation, Hitler-Putsch - im Jahr 1923 musste die Weimarer Republik viele Krisen überstehen. Mehrere Bücher unterschiedlicher Machart beleuchten das spannungsgeladene Jahr und setzen Bezüge zur Gegenwart.

Von Melanie Longerich | 13.01.2023
Die Buchcover von Jutta Hoffritz: „Totentanz. 1923 und seine Folgen“, Peter Reichel: „Rettung der Republik? Deutschland im Krisenjahr 1923“ und Volker Ullrich: „Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund“
Vor 100 Jahren: 1923 war die bis dahin schwerste Belastungsprobe für die Weimarer Republik (Hanser, HarperCollins u. C.C. Beck)
„Kein Volk der Welt hat erlebt, was dem deutschen ‚1923‘-Erlebnis entspricht“, erinnerte sich 1939 der Journalist Sebastian Haffner im englischen Exil. Und der Schriftsteller Stefan Zweig schrieb etwa zur gleichen Zeit in seiner Autobiographie „Die Welt von gestern“, dass er eigentlich geglaubt habe, Geschichte gründlich zu kennen, doch seines Wissens habe sie Zitat: „nie eine ähnliche Tollhauszeit in solchen riesigen Proportionen produziert.“
Von dieser „Tollhauszeit“ des Jahres 1923 erzählen gleich mehrere Bücher, die in diesen Wochen erschienen sind.

Hitler-Biograph Volker Ullrich über ein "Jahr am Abgrund"

„Es war ein Jahr, in dem die Geldentwertung schwindelerregende Ausmaße annahm, in dem faktisch ein Ausnahmezustand in Permanenz herrschte, das politische System dem Kollaps nahe war, rechte und linke Extremisten zum Sturm auf die Republik ansetzten und separatistische Bewegungen den Bestand des Reiches bedrohten. Hinzu kam massiver Druck von außen. […] Schon Zeitgenossen erschien es fast wie ein Wunder, dass die erste deutsche Demokratie diese existentielle Gefährdung überlebte“, schreibt der Historiker, Journalist und Hitler-Biograph Volker Ullrich in seinem Vorwort zu „Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund“.
Eine Auffassung, die wohl auch der Hamburger Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Peter Reichel und die Journalistin Jutta Hoffritz unterschreiben würden. Auch ihre Buchtitel zeigen die Dramatik: „Rettung der Republik?“ fragt Reichel etwa - und liefert das „Krisenjahr 1923“ im Untertitel mit. „Totentanz“ hat Jutta Hoffritz ihr Buch genannt. Der Bezug ins Hier und Jetzt ist dabei von ihr – aber auch den anderen Autoren - durchaus gewollt. In Zeiten hoher Lebensmittel- und Energiepreise, Informationsblasen und sogenannten „Reichsbürgern“ mit mutmaßlichen Umsturzplänen gibt es Anknüpfungspunkte genug:
„Wenn man weiß, was Deutschland vor hundert Jahren ins Verderben führte, dann kann man Europa stärken und neues Unheil verhindern. Deshalb zahlt es sich aus, sich mit 1923 zu befassen.“

Herbst 1923 - Höhepunkt einer Krise

Dabei war der Herbst 1923 nur der Höhepunkt einer Krise, die sich schon zu Beginn der Weimarer Republik abzeichnete. Doch in diesem Jahr, das zeigen alle drei Autoren, kumulierte es: Ruhrkrise, Hyperinflation, Hitler-Putsch, das sind die drei Stichworte, die oft genannt werden, um Jahr 1923 einzuordnen. Auch die drei Autorinnen und Autoren räumen allen drei Ereignissen umfassend Raum ein. Aber es gibt auch die weniger bekannten Krisenmomente, die die Autorinnen und Autoren aufs Tableau bringen – und weshalb sich die Lektüre besonders lohnt. Vorneweg gesagt, in der Sicht auf die Dinge sind sich die Autorinnen und Autoren weitestgehend einig, für die Darstellung ziehen sie aber unterschiedliche Konsequenzen.
Volker Ullrich beschreibt seine im Vorwort so: „Wer sich als Historiker mit dem Irrwitz dieser Zeit beschäftigt, sieht sich mit einem geradezu atemlosen Ablauf des Geschehens konfrontiert. Die sich überstürzenden Ereignisse und Entwicklungen folgten nicht einem zeitlichen Nacheinander, sondern liefen zum Teil parallel ab, überlagerten und verstärkten sich. Das hat Konsequenzen für die Darstellung. Die Geschichte des extremen Jahres 1923 sperrt sich gegen eine rein chronologische Erzählung.“
Leser, die einen detaillierten Überblick bevorzugen, sollten mit der Lektüre von Volker Ullrichs Buch beginnen. Denn er entwirrt – eng angebunden an den aktuellen Forschungsstand - am konsequentesten das verwickelte Knäuel der Krisenphänomene, ordnet die Fäden unter verschiedenen thematischen Gesichtspunkten neu, zugleich lässt Ullrich aber auch Beobachtungen von Zeitgenossen einfließen. Gerade sie untermauern seine Methode, das Jahr 1923 aus dem Wissen der damaligen Zeit heraus zu begreifen.
„Dass sich die Weimarer Republik auch unter den extremen Belastungen dieses Jahres behauptete, ist in jedem Fall ein starkes Argument gegen die Annahme, sie sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen.“

Vertrauensverlust in Regierung und Währung

Ullrich skizziert den Weg zu Ruhrkampf und Hyperinflation, das politische Chaos, das separatistische Bestrebungen ebenso nährte wie Umsturzpläne von links und rechts.
Abgerundet wird sein Buch mit einem Kapitel über die blühende Kulturszene, das zeigt, wie widersprüchlich 1923 eben auch war. Denn neben dem fundamentalen Vertrauensverlust in Regierung und Währung florierte der deutsche Film, das Radio ging an den Start, in Weimar fand die erste Bauhaus-Ausstellung statt, die Partys waren rauschend, der Charleston eroberte die Tanzflächen. Eine Ambivalenz, die besonders lebendig wird in dem Buch der Journalistin Jutta Hoffritz.
„Das Jahr 1923 hätte gut anfangen können für Anita Berber. Sie ist Berlins begehrteste Tänzerin. Auch in Hamburg hat sie Furore gemacht: Sie hat den Nackttanz auf die Reeperbahn gebracht. […] Jetzt Wien! […] Ist es die Nacktheit selbst, die die Blicke auf sich zieht? Oder ist es der Gegensatz zwischen dem mädchenhaften Körper und der Morbidität der Darbietung? […] Die Wiener Zeitungen berichten fleißig: über die ausverkauften Vorstellungen, aber auch darüber, wie sich die dreiundzwanzigjährige Anita Berber im Kaffeehaus eine Kokainspritze in den Oberschenkel jagt.“

Jutta Hoffritz' Buch: Vier Personen im Zentrum

Während Volker Ullrich sich gegen eine rein chronologische Erzählung wehrt, bietet Jutta Hoffritz genau das. Monat für Monat verfolgt sie das Jahr an den persönlichen Endrücken verschiedenster Zeitgenossen und stellt vier Personen ins Zentrum: die Nackttänzerin Anita Berber, die auf dem Zenit ihrer skandalumwitterten Karriere ist, den Großindustriellen Hugo Stinnes, den die Inflation zum mächtigsten Unternehmer Deutschlands machte, den Reichsbankpräsidenten Rudolf Havenstein, der die Inflation schürte und die Künstlerin Käthe Kollwitz, die das allgemeine Elend auf Plakaten festhielt.
Sie erinnern sich? Das hat schon einmal funktioniert: In seinem Buch „1913“ erzählte Florian Illies vor zehn Jahren collageartig das Jahr vor dem Ersten Weltkrieg aus der Perspektive damaliger Akteure. Und machte dabei spürbar, wie sich dramatische gesellschaftliche Krisen aufbauen. Jutta Hoffritz‘ „Totentanz“ fügt sich hier ein. Die Getriebenheit der Zeit fängt sie auch sprachlich ein, in knappen Sätzen, atemlos. Der Politikwissenschaftler Peter Reichel hingegen will gar nicht erst das Jahr bis ins Detail ergründen. In drei Fallstudien analysiert er aus der Vogelperspektive erst die äußeren, dann die inneren Gefahren für die Weimarer Republik, um sich dann mit den republikanischen Rettungsversuchen zu beschäftigen:
„Es war die Stunde der Hasardeure – und der integren Staatsmänner. Deren Verfassungstreue und Verantwortungsbewusstsein behielten die Oberhand – diesmal noch.“
Denn, so macht Reichel klar, die generelle Unfähigkeit der Parteien, die Konflikte von 1923 durch Kompromiss und Verhandlung grundsätzlich zu lösen, führte dann eben doch zur Selbstzerstörung, die in die sogenannte Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 mündete.
„Wir erschrecken noch heute über ein Land, in dem Hass und Gewalt, Straßenkämpfe und Attentate, Parteiverbote, Putsche und rechtslastige Prozesse Ausdruck innerer Unzufriedenheit und Uneinigkeit waren. Deutschland stand im Herbst 1923 am Abgrund.“

Einmarsch der Franzosen ins Ruhrgebiet

Doch wie kam das Land eigentlich an diesen Abgrund? Aus heiterem Himmel sicher nicht, das ist allen drei Autorinnen und Autoren wichtig zu betonen.
Doch am 11. Januar 1923 verschärfte sich die Lage dramatisch – politisch und auch wirtschaftlich. An diesem Tag besetzten fünf französische Divisionen und eine belgische das Ruhrgebiet. Wenig mehr als vier Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs. Mit den Lieferrückständen der Deutschen hatte der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré offiziell den Einmarsch begründet. Der kriegerische Charakter sei aber unverkennbar gewesen, schreibt Volker Ullrich, und zitiert den Sonderkorrespondenten des „Berliner Tageblatts“, der am Tag der Invasion aus Essen berichtet:
„Gegen zwei Uhr erfolgte der Einmarsch der Franzosen in die Stadt. Voran einige Radfahrer, ihnen folgend Infanterie und anschließend einige tausend Mann Kavallerie im Trab. Langsam ratterten drei schwere Panzerautos durch die Straßen, ihnen folgte Infanterie und Artillerie, auch Maschinengewehre sah man.“

Vertrag von Versailles 1919

Innerhalb weniger Tage besetzte das Militär weitere Städte im Herzen der deutschen Schwerindustrie: Gelsenkirchen, Bochum, Recklinghausen, Dortmund. Ein Einmarsch mit Ansage. Peter Reichel:
„Auf den zahlreichen Reparationskonferenzen, die Versailles folgten, drohten die Sieger dem vormaligen Kriegsgegner wiederholt, dass alliierte Truppen das Ruhrgebiet besetzen würden, sollte Deutschland den vertraglichen Bestimmungen zuwiderhandeln oder die Entschädigungsforderungen nicht erfüllen.“
Im Rahmen des Versaillers Vertrags von 1919 hatte die Weimarer Republik, als Nachfolgerin des Kaiserreiches, harte Friedensbedingungen akzeptieren müssen: Im Frühjahr 1921 hatte die alliierte Reparationskommission ihre endgültige Rechnung vorgelegt: 132 Milliarden Goldmark an Reparationen für Kriegsschäden. Dazu nagte die Forderung der Alliierten an den Deutschen, die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg einzugestehen. Schon ein Jahr später war Deutschland mit den Reparationen in Verzug. Es fehlten Kohle- und Holzlieferungen, die Franzosen und Belgier aber dringend für den eigenen Wiederaufbau brauchten. Die Zerstörungen in den beiden Ländern waren immens, doch da der Erste Weltkrieg größtenteils außerhalb der Reichsgrenzen stattgefunden hatte, hatte die deutsche Bevölkerung ihr Ausmaß nicht mitbekommen. Peter Reichel:
„Mit der Besetzung des Ruhrgebietes durch belgische und französische Soldaten hätte man in Deutschland womöglich verstehen können, was Belgier und Franzosen beim Überfall durch die deutschen Truppen 1914 erlitten hatten; sie sprachen damals vom neuen ’Hunnensturm‘. Aber um diesen Zusammenhang zu erkennen und öffentlich diskutieren zu können, fehlte in jener Zeit eine im doppelten Wortsinn grenzüberschreitende kollektive Empathie und allgemeine politische Bewusstseinsreife.“

Der Ruhrkampf: Widerstand und Sabotage

Und so löste der Einmarsch in Deutschland einen parteiübergreifenden Sturm der Entrüstung aus. Die Reichsregierung unter dem wertkonservativen, parteilosen Kanzler Wilhelm Cuno ermutigte die Bevölkerung im Ruhrgebiet zu passivem Widerstand. Die Arbeiter streikten, Fördertürme und Kohlewaggons standen still, es kam zu Sabotageakten.
„Diese Strategie war zunächst durchaus erfolgreich. In den ersten Wochen des Ruhrkampfes sah alles danach aus, dass der Versuch Frankreichs, die Kohlegruben als ‚produktive Pfänder‘ in Besitz zu nehmen, misslingen würde. […] Die Frage war allerdings, wie lange der passive Widerstand durchgehalten werden konnte“, schreibt Volker Ullrich. Denn die Unterstützung des Widerstandes kam die Reichskasse teuer zu stehen, schon im Juni 1923 war die kurzfristige Verschuldung auf 22 Billionen Mark angewachsen.
Und die Belastungen wurden wieder mal mit der Notenpresse finanziert. Schon nach dem Ersten Weltkrieg war sie angeworfen worden. Für eine Zeit lang war das gut gegangen. Die deutsche Wirtschaft boomte, während andere Länder wie die USA und Großbritannien mit einer restriktiven Geldpolitik in eine Wirtschaftskrise trudelten. Doch mit dem Übergang zur Hyperinflation im Sommer 1922 war es vorbei mit der deutschen Sonderkonjunktur.  Wer Geld in die Hand bekam, versuchte es sofort in Ware umzutauschen. Die kompletten Ersparnisse vieler Familien wurden vernichtet. Kein Geld für das Nötigste war die Folge – und Hunger. Der Vertrauensverlust in Staat und Währung war so tief, dass er die Deutschen bis heute umtreibt.
„In Deutschland wird der Muttertag mitten in der Hyperinflation eingeführt – und zwar vom Verband der Deutschen Blumengeschäftsinhaber. Der will den gebeutelten Floristen Einnahmen verschaffen. […] Auch Käthe Kollwitz denkt in diesem Jahr oft übers Muttersein nach, denn die KPD gibt ein Plakat zum Thema ‚Abtreibung‘ bei ihr in Auftrag. So lange schon kämpfen die Frauen in Deutschland um dieses Recht, aber es tut sich nichts.“

Reichskanzler Wilhelm Cuno drängt auf Stützung der Währung

„Familienglück ist ein Luxus, den man sich leisten können muss“, formuliert Jutta Hoffritz Kollwitz‘ Gedanken und blickt dann zum Reichsbankchef Rudolf Havenstein, der im Mai ganz andere Sorgen hatte. Die Inflation galoppierte weiter. Und Reichskanzler Wilhelm Cuno drängte ihn erneut auf Stützung der Währung.
„Havenstein ist strikt dagegen, seine knappen Reserven für eine Intervention einzusetzen. Das hat er der Regierung schon bei der ersten Stützaktion im Februar gesagt. Solange die Reparationsfrage nicht politisch gelöst sei, sei die Währung nicht zu stabilisieren. […] Havenstein beschließt, der Sache nicht kampflos zuzustimmen. Er fordert, dass die Industrie ihn mit ihren Devisen unterstützt. […] Alle Großkonzerne sollen sich beteiligen, auch Ruhrbaron Hugo Stinnes, der beim letzten Mal keinen Dollar rausrückte. Stinnes hat die erste Aktion boykottiert. Wenn nicht gar unterminiert. Devisenkäufe! Während Havenstein alles verkaufte, was er an Devisen besaß, um die Mark zu stützen. […] Stinnes hatte zwar behauptet, dass von ihm ‚an den Tagen des Marktsturzes keine Devisen gekauft worden sind‘. […] Aber keiner glaubt ihm. Schließlich macht jede Schwächung der Mark seine Produkte billiger und stärkt seine Position am Weltmarkt. Und Stinnes finanziert alles auf Kredit – er weiß, in der Inflation zahlen sich die Schulden wie von selbst zurück.“

Neue Hoffnung: der Nationalliberale Gustav Stresemann

Der Sturz der Mark ins Bodenlose setzte sich fort. Ende Juli musste für einen Dollar bereits 1 Million Mark gezahlt werden. Im August 1923 trat die Regierung Cuno zurück, der Widerstand war nicht länger durchzuhalten. Eine große Koalition aus SPD, Zentrum und Liberalen sollte den nationalen Notstand bewältigen. Kanzler und Außenminister wurde der Nationalliberale Gustav Stresemann. Stresemann, Republikaner eher aus Vernunft statt Überzeugung, setzte auf eine Verständigung mit Frankreich, und brach den aussichtslosen Ruhrkampf im September ab. Ein Vorgehen, das unumgänglich war, schreibt Ullrich, wollte die Große Koalition ihr wichtigstes Ziel erreichen: Geldstabilität.
„Zweifellos hatte Stresemann Mut bewiesen. Er übernahm die Verantwortung für eine Entscheidung, die unpopulär und in den Reihen der eigenen Partei umstritten war. Und was die außenpolitische Wirkung betraf, konnte er nicht einmal sicher sein, ob Poincaré den Schritt honorieren und sich zu Verhandlungen bereitfinden würde.“
In Bayern war die konservative Regierung des Freistaats so empört über die bedingungslose Kapitulation Stresemanns, dass sie den Ausnahmezustand erklärte und die Regierungsgeschäfte Gustav von Kahr als „Generalstabskommissar“ anvertraute - mit diktatorischen Vollmachten, derweil die extreme Rechte ungestört Umsturzpläne schmiedete. Das politische Chaos war perfekt: Im Rheinland und der Pfalz kämpften Separatisten für eine autonome „Rheinische Republik“. Und die Kommunisten wiederum wollten die russische Revolution nach Deutschland holen.
„Nicht nur die radikale Rechte witterte ihre Chance und schmiedete Putschpläne. Auch in Moskau hielt man die Situation reif für einen bewaffneten Aufstand, für einen ‚deutschen Oktober‘, der die proletarische Revolution nach Mittel- und Westeuropa tragen und die Sowjetunion aus ihrer Isolierung befreien sollte.“

Hitlers Putsch in München am 9. November

Volker Ullrich widmet dem „Deutschen Oktober“, diesem wenig bekannten Aspekt des Jahres, ein lesenswertes Kapitel. Die Einheitsfrontregierungen mit der SPD in Sachsen und Thüringen sollten für die Revolution in Deutschland das Sprungbrett bieten. Doch die Ende Oktober vollzogene „Reichsexekution“, also die Absetzung der sächsischen Regierung durch Reichswehrtruppen, machte ihre Pläne zunichte.
Anders als in Bayern gingen Regierung und Reichswehr in Sachsen und Thüringen äußerst vehement vor. Und das wiederum, macht Ullrich eindrücklich klar, hatte politischen Folgen fürs ganze Reich: Aus Protest nämlich gegen die ungleiche Behandlung der Fälle Sachsen und Bayern traten die sozialdemokratischen Minister am 2. November 1923 aus der Regierung der Großen Koalition aus. Und diese chaotische politische Gemengelage nutzte wenige Tage später bekanntlich Adolf Hitler für sich. Sein Putsch in München am 9. November scheiterte zwar und wäre wohl nicht weiter erwähnenswert, wenn er nicht den Stoff lieferte, auf den Adolf Hitler wenige Jahre später den Mythos um sich und die Nationalsozialisten aufbaute. Peter Reichel lenkt dabei besonders den Blick auf die antirepublikanisch eingestellte Strafjustiz, die ihm dabei half:
„Dass sich der Hochverräter mit Hilfe des Gerichtes und im volkstümlichen Kostüm des Weltkriegsgefreiten als Deutschlands kommender Führer empfehlen konnte, machte diese Zäsur im Aufstieg zur Macht zu seiner wohl wichtigsten, weil erfolgreichsten Niederlage – und die strafgerichtlich-politische Realsatire zu einem welthistorischen Ereignis.“

Reichskanzler Stresemann durch Misstrauensvotum gestürzt

Während Hitler aber erst einmal in Haft saß, wurden um den 20. November herum die ersten Scheine der neuen „Rentenmark“ ausgegeben, die das Vertrauen der Bevölkerung in ihr Zahlungsmittel zurückbringen und das krisenvolle Jahr befrieden sollte. Reichskanzler Stresemann selbst wurde ein paar Tage später aber durch ein Misstrauensvotum gestürzt. Volker Ullrich und auch Peter Reichel stellen ihm für seine kurze Kanzlerschaft ein überwiegend positives Zeugnis aus, weil sie zumindest das Fundament für die relative Stabilität der nächsten Jahre legte.
„Der Untergang der Weimarer Republik war keineswegs zwangsläufig. Sie hatte 1923 eine erstaunliche Überlebensfähigkeit bewiesen“, schreibt Volker Ullrich in seinen Schlussbetrachtungen. Aber eben doch keine langfristige Stabilität. Es ist nicht einfach, das Jahr 1923 in all seinen Aspekten zu fassen – und zu verorten, das machen alle drei Autorinnen und Autoren klar. Gerade deswegen lohnt die Lektüre – am besten nebeneinander.
Volker Ullrich: „Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund“, C.H. Beck Verlag, 441 Seiten, 28 Euro.
Jutta Hoffritz: „Totentanz. 1923 und seine Folgen“, HarperCollins Verlag, 336 Seiten, 23 Euro.
Peter Reichel: „Rettung der Republik? Deutschland im Krisenjahr 1923“, Hanser Verlag, 288 Seiten, 26 Euro.