Donnerstag, 28. März 2024

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Ruhrbesetzung vor 100 Jahren
"Deutschland wird zahlen!"

1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet. Der Grund: ein Lieferrückstand bei den deutschen Reparationsleistungen. Für die Deutschen ein Schock. Bei den Besatzern hingegen sind die Kriegstraumata allgegenwärtig.

Von Michael Kuhlmann | 10.01.2023
Französische Soldaten vor bewaffneten Fahrzeugen in Essen
Französische Soldaten stehen vor bewaffneten Fahrzeugen in Essen (picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Die Bundesstraße 1 im Osten Dortmunds. Auf sechs Spuren fließt hier der Verkehr durch eine der Hauptschlagadern des Ruhrgebiets. Nirgends kann man noch sehen, dass die B 1 hier einmal unterbrochen war: undurchdringlich abgeriegelt von der französischen Armee. Vor genau 100 Jahren – als Franzosen und Belgier das Ruhrgebiet besetzt hatten.
Französische Kavallerie gehörte im Ruhrgebiet 1923 zum Straßenbild
Französische Kavallerie auf den Straßen des Ruhrgebiets (picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
„Wir sind fest entschlossen, das zu bekommen, was uns zusteht. Wenn nötig, durch Gewalt“, so der belgische Außenminister Henri Jaspar am 9. Januar 1923. Zwei Tage später war es soweit: 60.000 französische und belgische Soldaten strömten ins Ruhrgebiet, bis an die Zähne bewaffnet. Eigentlich war der Erste Weltkrieg seit vier Jahren vorbei. Aber jetzt ging es um Geld. Franzosen und Belgier wollten entschädigt werden für die Verwüstungen, die die Deutschen bei ihnen angerichtet hatten.

Unterschiedliche Pläne der Siegermächte

„Die Franzosen mussten erreichen, dass Deutschland bezahlte, denn sie waren am Boden“, erklärt der Freiburger Historiker Professor Gerd Krumeich. „In Deutschland rauchten die Schornsteine wieder, und in Frankreich waren die Schornsteine der Fabriken eben tot. Das war der große Unterschied, wie man ihn auch auf zeitgenössischen Fotos und Filmdokumenten immer wieder gezeigt bekommt.“
Frankreich und Großbritannien hatten den Krieg gewonnen. Jetzt allerdings hatten beide unterschiedliche Pläne für die Zukunft. Der Historiker Stanislas Jeannesson von der Universität Nantes: „Großbritannien wollte Europa inmitten eines globalen Rahmens neu errichten, in dem auch Deutschland seinen Platz hätte finden können. Die Franzosen dagegen wollten vor allem ihr eigenes zerstörtes Land wiederaufbauen. Und sie wollten das wirtschaftliche Kräfteverhältnis zum übermächtigen Deutschland umkehren.“
Das wirtschaftliche Herz dieses Deutschlands schlug an der Ruhr. Von dort bekam Frankreich 1922 als Kriegsreparation 45.000 Tonnen Kohle und Koks. Nicht pro Monat. Pro Tag. Auch Stahl und Holz musste Deutschland abliefern – und hatte das lange Zeit auch getan. Ende 1922 aber gerieten die Deutschen damit in Rückstand. Darauf hatte der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré – ein Hardliner – nur gewartet. So gab er seiner Armee den Marschbefehl.

Alle Truppengattungen im Einsatz

Der französische Historiker Benjamin Volff: „Alle Truppengattungen sind dabei: die Kavallerie, die Infanterie, die Artillerie, die Luftwaffe und sogar die Marine, die auf dem Rhein operiert. Warum dieser massierte Einsatz? In Frankreich war man überzeugt, dass die Deutschen immer noch bereit seien, wieder zu den Waffen zu greifen. Wenn irgendwo ein Aufstand ausbrach, mussten die Franzosen sofort hin, um ihn niederzuschlagen. Deshalb war Kavallerie vor Ort, deshalb verfügten auch viele Soldaten über ein Fahrrad.“
Wozu die Deutschen militärisch fähig waren, das wussten die Franzosen nur zu gut: Vier Jahre hatten die Nachbarn den französischen Nordosten besetzt gehalten. Und wo die Front gelegen hatte, glich das einst blühende Land nun einer Wüste. Der Historiker Heinrich Theodor Grütter, Direktor des Essener Ruhrmuseums. „Die Truppen, die jetzt einmarschieren, kommen aus Gegenden, die im Ersten Weltkrieg komplett zerstört und auch auf dem Rückzug der Deutschen mit dem Prinzip der verbrannten Erde bestraft wurden. Da heißt: Da ist sehr viel an Hass, an tiefsitzender Verachtung auch gegenüber der deutschen Bevölkerung vorhanden, und das wird auch ein Stück weit ausgelebt.“

Streit um Reparationen

‚L‘Allemagne payera’ – Deutschland wird zahlen, so hieß es in Frankreich. Auf 132 Milliarden Goldmark belief sich die Rechnung. Das war das 2,7-fache des gesamten deutschen Volkseinkommens von 1913. Allerdings hatten die Deutschen selbst vorgemacht, wie man ein besiegtes Land ausplünderte: im Diktatfrieden mit Russland 1918.
1917: Der US-General John J. Pershing (l) neben dem damaligen französischen Präsidenten Raymond Poincaré
1917: Der US-General John J. Pershing (l) neben dem damaligen französischen Präsidenten Raymond Poincaré (m) (picture alliance / AP Images / Uncredited)
Und selbst wenn Poincaré Deutschland die Hand hätte reichen wollen – er hätte in Paris zu wenig Unterstützer gefunden. Stanislas Jeannesson. „Ich würde sagen, die öffentliche Meinung in Frankreich unterstützte die Besetzung, jedenfalls zu Beginn. Zunächst weil man glaubte, dass Frankreich im Recht sei. Dann weil man glaubte, dass Deutschland nicht kooperieren wolle. Und schließlich, weil man gar nicht bereit war, eine andere Lösung zu akzeptieren.“
Auch in Berlin kochte in den Stunden nach dem Einmarsch der Zorn hoch. Reichspräsident Friedrich Ebert und der rechtskonservative Kanzler Wilhelm Cuno verbreiteten einen Aufruf. „Alle Herzen erfüllt die ungeheure Bitterkeit dieser Stunde, wo über weite Teile unseres Vaterlandes das Schicksal hereinbricht, die Leiden der Fremdherrschaft ertragen zu müssen. Keine Handlung darf geschehen, die unsere gerechte Sache schädigt.“

Passiver Widerstand der Deutschen

Hier deutete sich schon die deutsche Reaktion an: passiver Widerstand. Zechen, Kokereien, Stahlwerke – alle weigerten sie sich, die Besatzer zu beliefern. Auch die langen Güterzüge der Reichsbahn standen still. Die Verwaltung stellte den Dienst ein, selbst Lebensmittelhändler sperrten sich dagegen, den Besatzungssoldaten Waren zu verkaufen. Rasch verhärteten sich die Fronten.
Viele deutsche Geschäfte und Restaurants lehnten Franzosen als Kunden ab
Viele deutsche Geschäfte und Restaurants lehnten Franzosen als Kunden ab (picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Wie das genau vor sich ging, ist bislang nur lückenhaft erforscht. In Marl nördlich von Gelsenkirchen hat es eine Geschichtswerkstatt versucht. Zu ihr gehören die Stadtführerin Sylvia Eggers und der Historiker Gert Eiben. „Ich glaube, schon dadurch, dass im März die Verhaftung des Amtmanns gewesen ist. Das hat alles schlagartig geändert; die haben wohl im Rathaus auch ziemlich gewütet, und dadurch, dass sie die Einrichtungsgegenstände da rausgenommen haben – war da nicht auch eine Sache mit ’nem Klavier zwischendurch?“ „In den Zechengasthäusern, die haben sie auch leergeräumt. Da waren zum Beispiel auch Klaviere, da fanden ja Unterhaltungsabende statt und so was – und die haben sie auch ratzfatz ausgeräumt.“

Wie die Besatzer auf Widerstand reagierten

Die Besatzungssoldaten hatten also regelrecht gehaust. Ähnliches geschah in der Handelskammer Bochum. Wer sich den Besatzern noch deutlicher in den Weg stellte, den wiesen sie kurzerhand aus. Historiker Gerd Krumeich: „Ausgewiesen hieß: Du wurdest in einen Lastwagen gesteckt, an die Grenze des Ruhrgebietes gefahren und dort ausgeladen! Mit dem Verbot, zurückzukommen. So sah das aus für Tausende und Tausende und Tausende von Leuten, die auf der Landstraße standen ohne Gepäck mit ihren Kindern und Frauen und nicht wussten, wo sie hin sollten!“
Der Historiker Gerd Krumeich
Der Historiker Gerd Krumeich (picture alliance / dpa / Soeren Stache)
Über 120.000 Menschen traf dieses Schicksal. Mit solch drakonischen Strafen wollten die Besatzer wohl auch abschrecken. Sie waren nämlich schon bald auch auf aktiven Widerstand gestoßen. Der Direktor des Westfälischen Wirtschaftsarchivs in Dortmund, Karl-Peter Ellerbrock [*]:
„Im Ruhrkampf sprengten vor allem rechtsradikale Sabotagetrupps Kanalbrücken und Gleise, um den Abtransport von Reparationsgütern zu verhindern, überfielen französische und belgische Posten und töteten Kollaborateure.“
Bis heute bekannt ist der Name des 29-jährigen Albert Leo Schlageter, später ein Idol der Nazis. Etwas jünger war Ludwig Knickmann aus Buer, heute Gelsenkirchen. Die Marler Stadtführerin Sylvia Eggers: „Ludwig Knickmann und sein Freund Karl Jackstien gerieten an eine belgische Patrouille, haben sofort geschossen, haben zwei belgische Soldaten erschossen, Ludwig Knickmann wurde selber angeschossen, die beiden versuchten, sich über die Lippe – das ist ein Fluss hier im Norden, da endete das besetzte Gebiet – sich zu retten, Ludwig Knickmann hat's nicht geschafft, er ist ertrunken, Karl Jackstien hat’s geschafft – dann wurde dieser Ludwig Knickmann später von den Nazis zum Helden, Verteidiger Deutschlands hochstilisiert,“
Neun Tage nach diesem Vorfall explodierte auf der Rheinbrücke zwischen Duisburg und Rheinhausen ein belgischer Militärzug. Die Besatzer gingen von einem Bombenanschlag aus – und reagierten. Benjamin Volff: „Die französischen Kommandanten zwangen die Repräsentanten deutscher Städte oder Unternehmen, auf Lokomotiven mitzufahren, damit Attentäter diese Züge nicht mehr angriffen. Als lebende Schutzschilde also.“

Schießbefehl in Essen

Der blutigste Zwischenfall allerdings hatte sich schon Ende März in Essen ereignet. Französische Soldaten waren bei den Krupp-Werken aufmarschiert, um dort Lastwagen zu beschlagnahmen. Der frühere Leiter des Stadtarchivs Essen, Klaus Wisotzky: „Die sind frühmorgens in die Wagenhalle gekommen, die meisten Lkws waren schon ausgefahren, aber es sprach sich ganz schnell herum, dass französische Soldaten auf dem Werksgelände seien. Daraufhin wurden Werkssirenen in Gang gesetzt, es heulte, das war weithin hörbar, und Neugierige, Belegschaftsangehörige demonstrierten dann auf der Altendorfer Straße vor dieser Wagenhalle, und in relativ kurzer Zeit kamen Tausende von Demonstranten zusammen.“
Französische Soldaten im Ruhrgebiet
Französische Soldaten vor Industrieanlagen im Ruhrgebiet (picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Fotografien zeigen das weite Gelände vor der Krupp-Wagenhalle: es war schwarz vor Menschen – vor wütenden Menschen: „Die Soldaten fühlten sich schon verängstigt. Beunruhigt. Zu allem Überfluss fuhr dann auch noch eine Lokomotive hervor, und Dampf drang durch die zerbrochenen Fensterscheiben – und wir sind ja noch nicht sehr weit weg vom Ersten Weltkrieg, und die Franzosen hatten da wohl nur eins im Sinn gehabt: Gas!“
Der französische Kommandeur drohte den Demonstranten auf Deutsch. Dann ließ er seine Soldaten in die Luft feuern. Als die Demonstranten immer noch nicht zurückwichen, gab er den Schießbefehl. Dreizehn Deutsche wurden tödlich getroffen, die Hälfte von ihnen laut deutschen Obduktionsberichten in den Rücken. Die französischen Soldaten zogen sich zurück.
Französische Soldaten auf Patrouille im Ruhrgebiet
Französische Soldaten auf Patrouille im Ruhrgebiet (picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Klaus Wisotzky fragt sich heute, warum an diesem sogenannten „Blutigen Karsamstag“ keine Seite entschlossen zu deeskalieren suchte. Auch nicht die Kruppsche Leitungsebene. Die wurde kurz darauf von den Franzosen vor Gericht gestellt – die Anklage führte aus: „Während sich die Tragödie unter ihren Augen abspielte, standen die leitenden Personen und ihr Chef an den Fenstern mit jenem Lächeln, das wir kennen! Es ist jenes Lächeln, mit dem die deutschen Generale der Verbrennung unserer Dörfer zuschauten.“
Kein Zweifel: Der Krieg hatte auch die Franzosen und Belgier traumatisiert. Eine weitere Siegermacht hingegen hatte sich von vornherein gegen die Ruhrbesetzung gewandt: Großbritannien. Die Briten hielten seit dem Versailler Vertrag Köln besetzt; und dort drückten sie beide Augen zu, wenn die Deutschen versuchten, dringend benötigtes Bargeld ins abgeriegelte Ruhrgebiet zu bringen. Der Essener Historiker Benedikt Neuwöhner. „Die Deutschen waren da sehr erfindungsreich. Deutsche Agenten sind mit großen Mengen Bargeld nach London gereist, aus dem unbesetzten Deutschland, sind dann mit dem Flugzeug von London nach Köln geflogen und konnten auf diesem Wege das besetzte Gebiet mit frischem Geld versorgen; also über den Umweg von England.“

Blockade aufgeweicht

Denn zwischen der britischen Besatzungszone um Köln und dem französisch besetzten Ruhrgebiet gab es keine Grenzkontrollen. So konnten die Franzosen nur hilflos zusehen, wie ihre Blockade aufgeweicht wurde. Im Ganzen machte sich unter ihnen schnell Frustration breit. Benjamin Volff hat französische Feldpost aus dem Ruhrgebiet untersucht:
„Die Mehrzahl der Soldaten hat resigniert. Sie langweilen sich. Eine gewisse Lustlosigkeit macht sich breit. Manche schreiben auch, die Ruhrbesetzung sei unnötig.“
Aber auch die Deutschen mussten bald erkennen, dass ihnen der passive Widerstand nichts brachte. Wirtschaftsgeschichtlich sind viele Details der Ruhrbesetzung noch gar nicht erforscht. Dabei liegen etwa im Westfälischen Wirtschaftsarchiv ergiebige Quellen. Karl-Peter Ellerbrock [*] deutet allerdings an, von welch komplizierten Details sie handeln: „Erstens: Maßnahmen zur Sicherung der Wirtschaft, das sind konkret: die Lohnsicherung, die Rohstoffversorgung, die Transportproblematik und die Kreditversorgung – zweitens das immer unübersichtlicher werdende Geflecht unzähliger Anordnungen und Verwaltungsmaßnahmen der Besatzer – sowie drittens: das Gebot der Existenzsicherung – das alles vor dem Hintergrund einer extremen Geldentwertung.“
Im Ganzen hatten die Deutschen mit ihrem passiven Widerstand die Besatzer unterschätzt. Gerd Krumeich: „Das ist jetzt schwer für einen Historiker zu sagen, aber es ist eine Tollheit gewesen. Man hatte einfach nicht damit gerechnet, dass die Franzosen fähig sein würden, wirklich das Ruhrgebiet zu besetzen, nicht nur militärisch zu besetzen, sondern auch ökonomisch auszubeuten.“

Deutsche Bevölkerung litt mehr und mehr

Denn bald brachten sie das Bahnsystem mit eigenem Personal wieder zum Laufen. In Zechen setzten sie angeworbene ausländische Bergleute ein. Zum unbesetzten Deutschland hin riegelten sie die Ruhr hermetisch ab und begannen, die Ressourcen abzuschöpfen. Die deutsche Bevölkerung litt mehr und mehr.
Der Essener Museumsdirektor Heinrich Theodor Grütter: „Und dann wird’s brutal. Man kann sagen: Juli, August, September sind die Monate, wo wirklich von jetzt auf gleich keine Versorgung mehr gewährleistet ist, und zwar sowohl an Lebensmitteln als auch an Heizstoff – und jetzt ist man also arbeitslos, hungert und fängt an Kohle zu buddeln, zu klauen, jetzt kommt es zu diesen Ausschreitungen, jetzt kommt es zu Plünderungen – also, es ist eine ganz gefährliche Situation.“
Die Zeit arbeitete gegen Deutschland. Denn die Millionen Menschen, die passiven Widerstand leisteten, hatte das Reich ja weiterhin ernähren müssen. Man tat es, indem man für sie Geld druckte. Die Inflation, die schon mit der Pump-Finanzierung des Weltkrieges begonnen hatte, schoss nun in die Höhe: Ende August kostete ein Roggenbrot 274.000 Mark. Am 24. September kostete es schon drei Millionen.
Zwei Tage später wandten sich Reichspräsident Ebert und der neue Kanzler Gustav Stresemann an die Bevölkerung: „Mit furchtbarem Ernst droht die Gefahr, dass die Sicherung der nackten Existenz für unser Volk unmöglich wird. Um das Leben von Volk und Staat zu erhalten, stehen wir heute vor der bitteren Notwendigkeit, den Kampf abzubrechen.“
Der deutsche Politiker Gustav Stresemann (m), 1925 in Locarno
Der deutsche Politiker Gustav Stresemann (m), 1925 in Locarno (picture-alliance / dpa / dpa)
Nun arbeiteten die Zechen wieder unter deutscher Regie, Koks und Stahl wurden wieder produziert. Die Güterzüge rollten wieder nach Frankreich. Aber auch auf der Gegenseite hatte man innerlich abgerüstet. Der britische Unterhausabgeordnete James Butler hatte schon im Mai gewarnt: „Ich vertrete nicht die deutsche Sache – aber ich halte es für Wahnsinn, eine Nation von 70 Millionen fortdauernd zu reizen, die unter allen Umständen berufen ist, in der Zukunft Europas eine große Rolle zu spielen.“
Britisch-amerikanischer Druck brachte Frankreich zum Einlenken. Über den großen Zankapfel der deutschen Reparationen wurde bald erneut verhandelt. Eine Lösung zeichnete sich ab, wie sie schon der 1922 ermordete Außenminister Walther Rathenau angestrebt hatte. Gerd Krumeich: „Wir bezahlen, was wir ehrlich bezahlen können, unter internationaler Aufsicht, und wenn nicht mehr geht, dann geht nicht mehr, und da müssen auch die Forderungen der Alliierten zurückgeschraubt werden. Das war, kurz gesagt, Rathenaus Politik. Und die war enorm erfolgreich! Denn sie schuf einen ständigen Widerstreit zwischen Amerikanern und Briten auf der einen Seite und Franzosen auf der anderen Seite.“
Und als 1924 in Paris eine gemäßigt linke Regierung ans Ruder kam, war der Weg frei: Der Dawes-Plan brachte erstmals Zahlungsmodalitäten, mit denen Deutschland leben konnte. Endlich konnten Investitionen ins Land fließen. Die sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre zogen herauf. Wohl blieb die Ruhr noch bis 1925 besetzt.

Als eine gewisse Normalität einsetzte

Heinrich Theodor Grütter: „Ende 1923, Anfang 1924 hat es eine gewisse Normalität bekommen, und man lebt miteinander; das ist dann auch für die Besatzungssoldaten ein Stück Tourismus. Also, die kommen auch aus ihren französischen Dörfern in diesen damals größten industriellen Ballungsraum Europas – und sie erzählen auch ihren Menschen zuhause, also häufig auf Dörfern, von dieser großen Welt.“
Dazu passt auch die Feldpost der französischen Soldaten, die Benjamin Volff durchgesehen hat: „Es gibt außergewöhnliche Geschichten wie jene, bei der ein einquartierter französischer Soldat und seine erzwungene Gastgeberfamilie Weihnachten miteinander verbringen, einander Geschenke machen, zusammen in die Heilige Messe gehen. In einem anderen Fall gab ein einquartierter Offizier der Tochter des Hauses Französischunterricht, und hinterher schrieben sich die beiden.“
Frankreich selbst hatte das Jahr 1923 dennoch eine schmerzliche Lektion erteilt. Stanislas Jeannesson: „Rückblickend betrachtet lernte man aus der Episode. Denn die Franzosen erkannten, dass die Politik der Stärke zu nichts führte. Man kann also sagen, dass die Ruhrbesetzung indirekt ihren Beitrag dazu leistete, dass sich Deutschland und Frankreich ab 1924 einander annäherten.“
Für ein paar Jahre taute das Eis. 1925 schlossen beide Seiten den Vertrag von Locarno, erkannten darin die neu gezogenen Grenzen an und verzichteten auf Gewalt. 1926 wurde das einst verachtete Deutschland aufgenommen in den Völkerbund. Die beiden Außenminister Aristide Briand und Gustav Stresemann erhielten den Friedensnobelpreis. Erst sieben Jahre später machte eine neue deutsche Regierung mutwillig alles wieder zunichte.

[*] Anmerkung der Redaktion: Wir haben den Vornamen des Gesprächspartners korrigiert.