
Aber Edwards ist nicht nach einem Ausblick. Er ist in düsterer Stimmung.

Edwards, groß, bullig, jovial, ist Inhaber des mittelständischen Öl- und Gasproduzenten Latigo Petroleum mit Sitz in Odessa. Er gehört zum Öl-Adel der Stadt, sein Vater war bereits im Ölgeschäft.
Die Kleinstadt im Westen des Bundesstaates Texas, gegründet 1881, verdankt ihren Namen russischen Eisenbahnarbeitern, die sich an die Steppenlandschaft ihrer Heimat erinnert fühlten.
Odessa liegt im Permischen Becken, das sich von West-Texas bis in den Südosten von New Mexico erstreckt. Auf einer Fläche, mehr als dreimal so groß wie Bayern, wird hier mehr Öl gefördert als überall sonst auf der Welt. Über vier Millionen Barrel am Tag waren es noch Ende 2019. Ein Drittel der amerikanischen Ölproduktion stammt aus dieser Region.
Aber die COVID-Pandemie habe seiner Stadt einen doppelten Schlag versetzt: Als Folge eines Preiskriegs zwischen Russland und Saudi-Arabien begann der Ölpreis schon zu Beginn dieses Jahres zu sinken. Corona und der Shutdown des öffentlichen Lebens taten ein Übriges. Der Energieverbrauch brach ein, immer weniger Flugzeuge flogen, immer weniger Autos fuhren, und immer mehr Fabriken stellten ihre Produktion ein.
Wesley Burnett ist Leiter der Abteilung Wirtschaftsförderung bei der Handelskammer von Odessa.
Alles in Odessa hänge irgendwie mit Öl zusammen. Da sind die Firmen, die Geräte und Dienstleistungen zur Ölförderung und Ölproduktion vermieten - Bohrtürme, Pumpen, LKW. Außerdem Einzelhandel und Hotels, Bauunternehmer und Immobilienmakler, Anwälte und Steuerberater.
Vor der Krise lag die Arbeitsloslosigkeit in Odessa bei zwei bis drei Prozent, Arbeitskräfte waren Mangelware, das Lohnniveau war hoch. Jetzt liegt die Arbeitslosigkeit bei 16,5 Prozent, deutlich über dem Landesdurchschnitt von 11 Prozent.
Und noch ein weiterer Faktor macht Odessa verwundbar für die Ausschläge des Ölmarktes, die Höhen wie die Tiefen: Hydraulic Fracturing, kurz: Fracking.

"Fracking hat uns die letzten beiden Boom-Phasen beschert. Ohne Fracking wäre unser Ölfeld vor gut zehn Jahren ausgeschöpft gewesen. Das hätte das Ende für die Stadt und die Region bedeutet. Doch dann kam Fracking, und die Technologie hat Odessa eine neue Zukunft gebracht. Jetzt haben unsere Ölfelder noch einmal 100 Jahre Leben in sich, mindestens. Und das haben wir dem Fracking zu verdanken."
West-Texas wurde das Epizentrum des neuen Öls. Auch brachte der Fracking-Boom die USA dem Ziel ein Stück näher, unabhängig vom Öl aus dem Mittleren Osten zu sein – ein Ziel, das sich jede Regierung seit Richard Nixon auf die Fahnen geschrieben hat. Und tatsächlich wurden die USA im vergangenen Jahr erstmals zum Nettoexporteur von Öl und Gas.
In Odessa findet man nur wenige kritische Stimmen zum Fracking. Eine davon gehört Gene Collins. Er ist Umweltaktivist, Versicherungsagent und Pastor. Im Viertel rings um seine kleine Kirche, der Highland and Bunche Church of Christ im Süden von Odessa, leben vor allem Afroamerikaner und Latinos. Flache Holzhäuser mit Wellblechdächern säumen die holprigen Straßen. In den Vorgärten stehen Plastikstühle in vertrocknetem Unkraut. Selbst am Abend sind es knapp 40 Grad.
"Was passiert wirklich beim Fracking? Bis heute habe ich keine zufriedenstellenden Antworten auf meine Fragen bekommen, wie die Chemikalien wirken, die beim Fracking eingesetzt werden. Was tun sie mit unserem Grundwasser? Als ich ein Kind war, hatten wir Wasser aus dem Hausbrunnen, und es war das beste Wasser in der Gegend. Heute kann man das Wasser aus den Brunnen an vielen Stellen nicht mehr trinken."
Außerdem gebe es immer öfter Erdbeben in der Gegend.
"Manchmal sind es leichte Beben, aber in manchen Nächten muss man sich an den Wänden festhalten, weil das Haus so sehr wackelt. Das gab es hier nie zuvor."

Collins kennt Argumente der Öl-Unternehmer: Dass Fracking sicher sei und der Grundwasser-Spiegel in der Region von den Bohraktivitäten nicht betroffen. Doch er will nicht schweigen. Collins ist Bezirksleiter der NAACP, einer der ältesten und einflussreichsten afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegungen.
"Ich habe viele Feinde. Aber ich habe gelernt, meine Meinung zur richtigen Zeit zu äußern. Ich sitze in vielen Kommissionen, aber nicht als Schaufensterdekoration. Ich gebe den Menschen eine Stimme, die nicht für sich selbst sprechen können. Und ich bin unabhängig, ich habe keine Aktien in Öl."
Die Stadt, das Öl und das Virus. Rechts und links der Ausfallstraßen rund um die Stadt stehen vereinzelt Pumpjacks im kargen Weideland; die meisten stehen still. Der Wind lässt Knäuel aus Plastiktüten über den trockenen Boden taumeln.


Tschauner hält auf dem menschenleeren Parkplatz des Ratcliffe Stadium, ein Highschool-Football-Stadion, das 20.000 Besucher fasst.
Vor der Krise waren die Hotels der Stadt fast immer ausgebucht. Viele der Arbeiter auf den Ölfeldern kommen meist nur für ein paar Wochen, leben dann in Hotels oder Containersiedlungen, den sogenannten Man Camps. Aber seit dem Fracking-Boom hätten sich immer mehr Menschen entschieden, in Odessa zu bleiben, sagt Tschauner.

John ist einer von ihnen. Er lehnt sich aus dem Fenster seines grauen Pickups. Ein Mann um die 60, mit verwittertem Gesicht und schütterem Haar. Sein neongelbes T-Shirt leuchtet aus dem Dunkel des Wageninneren.

Aber derzeit arbeite niemand, alles sei geschlossen, sagt er. Er sei schon einige Male hier gewesen. Und wenn er Lebensmittel übrighabe, dann bringe er sie den Ölarbeitern in den Man Camps – denen, die noch da seien.
"Texans are fiercely independent. We’ll get through this. And we’ll be stronger."
Bürgermeister David Turner. Im Hauptberuf ist er Restaurantbesitzer. Ihm gehören sieben Subway-Sandwichläden in Odessa. In einem Hinterzimmer eines seiner Fastfood-Restaurants befindet sich sein Büro. Von hier aus führt er auch seine Amtsgeschäfte. "Odessa Strong" steht auf der Schaufensterscheibe neben dem leuchtenden "Open"-Schild.
"Die Ölförderung wird zurückkommen. Die Branche liegt in den Startlöchern. Aber wir müssen abwarten, bis sich die Corona-Situation entspannt. Und mit COVID werden viele Arbeitsprozesse anders sein."

"Wenn COVID zuschlägt, wird mit einem Schlag eine große Gruppe von Menschen aus dem Arbeitsprozess abgezogen. Wenn zum Beispiel eine Ölfirma an einem Bohrloch arbeitet – das sind manchmal 50 bis 60 Leute –, und einer von ihnen infiziert sich mit COVID, dann muss ein Unternehmen erst einmal die gesamte Bohranlage stilllegen."
Seine Sorge ist berechtigt, denn die Infektionszahlen schnellen seit Ende Juni in Texas und in anderen Bundesstaaten rasant in die Höhe. Dennoch ist man sich in Odessa einig: Das Fracking wird wiederkommen, wann und in welcher Form auch immer. Eine Prognose, die viele Ökonomen teilen. Ray Hill ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Emory University in Atlanta.
"Das Öl ist im Boden. Es verschwindet nicht. Die Geräte sind da. Wir haben das mehrfach erlebt: Der Ölpreis fällt, Fracking-Unternehmen stellen ihre Arbeit ein. Einige kleinere Ölfirmen werden pleitegehen oder von größeren aufgekauft werden. Und wenn der Ölpreis wieder steigt und die Fracking-Firmen Profit machen können, werden sie zurückkehren."
Hill hält es für möglich, dass sich das Verbraucherverhalten in den westlichen Industrieländern auch langfristig verändern werde – weniger Flüge, weniger Autofahrten.
"In Europa und den USA wird der Verbrauch von fossilen Brennstoffen in der Zukunft vermutlich langsamer wachsen oder gar stagnieren. Aber das wird ausgeglichen durch die enorme Nachfrage in anderen Teilen der Welt, vor allem in den Schwellenländern, in China, Indien oder Indonesien. Und dort werden wir das Wachstum sehen."

"Viele Menschen hier sagen: Wir sind von dem neuen Öl abhängig. Aber das stimmt gar nicht. Wir können Unabhängigkeit mit Solar- und Windenergie erreichen. Wir stehen noch ganz am Anfang, diese alternativen Energievorkommen zu erkunden."
Tatsächlich stehen im Permischen Becken riesige Wind- und Solarparks. Immer mehr Ölunternehmen in der Region beziehen die Energie für ihre Rohölförderung aus Ökostrom. Weltweit ist der Staat Texas der fünftgrößte Erzeuger von Windkraft. Wesley Burnett von der Handelskammer in Odessa geht davon aus, dass erneuerbare Energien in Zukunft eine wichtigere Rolle für die Region spielen. Er verzeichnet ein wachsendes Interesse bei Investoren. Und überhaupt sei es sinnvoll, dass sich die Wirtschaft der Region breiter aufstelle, sagt er, jenseits vom Öl.
"Aber man kann den Energiebedarf der Welt nicht allein mit Solar und Wind decken. Man braucht Kohlenwasserstoffe, vor allem Öl und Gas. Und Fracking ist der Schlüssel, um ausreichende Mengen zu produzieren – ob einem das nun gefällt oder nicht."
Auch Ölmann Kirk Edwards ist überzeugt: Selbst wenn das Coronavirus die Stadt, das Land und die Welt noch eine Weile im Schwitzkasten habe und Saudi-Arabien erneut versuche, den Ölpreis zu steuern - Odessa wird ein Comeback erleben.
"We will survive, and that’s when this place will boom again."
Sein Blick geht auf den Pumpjack hinter seinem Bürogebäude. Anders als die 10.000 Kilometer entfernte Hafenstadt in der heutigen Ukraine habe Odessa in West-Texas keinen Ozean zu bieten, nur Sand und Steppe. Edwards lächelt dünn. Hier gebe es vielleicht nicht den besten Ausblick, aber dafür habe Gott Odessa mit einem großartigen Ölfeld gesegnet.
"But God blessed us with an incredible oil field, the largest in the world."

