Donnerstag, 18. April 2024

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Diskussion um DDR
"DDR war ein Unrechtsstaat"

Gregor Gysi habe sich dem klaren Urteil verweigert, dass die DDR ein Unrechtsstaat war, sagte Wolfgang Thierse (SPD) im DLF. Damit säe er Zweifel an der Bereitschaft und Fähigkeit dieser Partei zum demokratischen Mitregieren. Dennoch räumte der ehemalige Bundestagspräsident ein, dass der Unrechtsstaat nicht das einzige Merkmal war.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Dirk Müller | 02.10.2014
    Dirk Müller: Vielleicht musste es so kommen, vielleicht hat er genau so kalkuliert: Gregor Gysi, der mit treffsicheren Worten und rhetorischen Kniffen umgehen kann, wie kaum ein zweiter. Pünktlich zum 3. Oktober, zum Tag der Einheit morgen, holt er längst Vergangenes wieder aus der historischen Deutungskiste.
    Es provoziert, es verstört und verletzt viele, 25 Jahre nach dem Mauerfall. "Der Begriff Unrechtsstaat ist mir zu pauschal", sagt Gregor Gysi, weil er auf eine völlige Delegitimierung der DDR hinausläuft. Ergo: Die DDR war kein Unrechtsstaat. Ein Thema übrigens auch bei den rot-rot-grünen Sondierungsgesprächen in Thüringen. Gysi lehnt dieses Wort "Unrechtsstaat" eben ab. "Gysi schlägt damit allen Opfern der SED-Verbrechen kalt ins Gesicht", so jedenfalls die Antwort von CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer.
    Wir sind nun gespannt auf die Antwort des früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD), Bürgerrechtler in der DDR. Guten Morgen!
    Wolfgang Thierse: Guten Morgen!
    Müller: In welchem Staat haben Sie gelebt?
    Thierse: Nach der Definition der SED selbst war die DDR eine Diktatur. Sie kannte keine freien Wahlen, also keine demokratische Legitimation der politischen Macht, und keine wirksame Kontrolle, keine legale Opposition, keine unabhängige Justiz, keine Verwaltungsgerichtsbarkeit, keine Meinungs- und Reisefreiheit und so weiter und so fort. Was sind das alles als Kennzeichen eines Unrechtsstaats?
    Müller: Für Sie gar keine Frage, auch wenn man sophistisch, juristisch argumentiert, es geht auch um die Gründung der DDR jetzt bei der Argumentation von Gregor Gysi.
    Thierse: Aber das ist doch winkeladvokatische Argumentiererei. Auch wenn er sagt, er verweigert sich der Delegitimierung der DDR. Aber die ist doch längst und sehr gründlich erfolgt, und zwar durch die Millionen Flüchtlinge, die im Laufe der 40 Jahre ihrer Existenz die DDR verlassen haben, und vor allem durch die friedliche Revolution 89/90, die die DDR endgültig überwunden hat.
    Wer 25 Jahre nach dem Mauerfall immer noch die DDR verteidigt, der sagt im Grunde, dass die Verteidigung der DDR ideologischer Identitätskern der Linkspartei ist, und das ist schon befremdlich nach 25 Jahren, wo man doch wirklich miteinander gelernt hat, was diese DDR gewesen ist. Und wer so öffentlich argumentiert, der säht Zweifel an der Bereitschaft und Fähigkeit dieser Partei zum demokratischen Mitregieren.
    Müller: Jetzt muss ich Gregor Gysi in Schutz nehmen. Er hat auch klar gesagt, die DDR war eine Diktatur, es gab grobes Unrecht, sie war kein Rechtsstaat. - Klare Distanzierung!
    Thierse: Ja! Aber warum dann nicht diesen entscheidenden Satz, dass sie nach all dem, was ich jetzt genannt habe, die Kennzeichen eines Unrechtsstaat hat? Warum verweigert er sich diesem einfachen und klaren Urteil? Weil er wohl meint, es gehört zur Identität seiner Partei, die DDR auf Teufel komm raus zu verteidigen, bis zum Rand der demokratischen Regierungsunfähigkeit.
    Müller: Reden wir über ein anderes Zitat aus dieser Pressekonferenz, aus diesen Anmerkungen von Gregor Gysi. Er sagt, wenn Unrechtsstaat, das würde ja bedeuten, dass die drei Westmächte legitimiert einen Staat gegründet haben und die Sowjetunion nach 20 Millionen Opfern als Antwort keinen Staat gründen dürfen. Was ist da dran?
    Staatswesen hatte keine Kennzeichen eines Rechtsstaates
    Thierse: Aber es geht doch nicht um die historischen Gründe für die Teilung Deutschlands.
    Müller: Um die Legitimität!
    Thierse: Für das Entstehen zweier gegensätzlicher Staaten. Auch nicht darum, dass es nicht historische, moralische Gründe gegeben hat, legitime Gründe. Aber was dann passiert ist, war von vornherein ein kommunistisches Staatswesen, das alle Kennzeichen eines Rechtsstaates nicht hatte. Ergo - und das ist auch schlicht meine Lebenserfahrung der DDR -, es war ein Staat des Unrechts, ein Unrechtsstaat. Ich verstehe diese Winkeladvokaterei überhaupt nicht mehr, und wie gesagt, es sagt etwas aus darüber, dass Gregor Gysi meint, offensichtlich auf wesentliche Teile seiner Partei Rücksicht nehmen zu müssen und die DDR zu verteidigen, wahrscheinlich auch sein eigenes Leben in der DDR.
    Und ich füge noch mal hinzu: Die Bezeichnung Unrechtsstaat ist doch nicht das einzige, was man sinnvollerweise über die DDR sagen kann und muss. Natürlich muss man auch reden über die DDR als Sozialstaat, über die DDR als Kulturstaat. Man muss auch deutlich unterscheiden zwischen dem Urteil über den Staat und dem Urteil über die Menschen, die da gelebt haben, und die Biografien, die darin gelebt worden sind. Die sind ja nicht alle Unrecht, die waren nicht alle falsch, die sind nicht alle gescheitert. Also sehr klare Unterscheidungen, aber zu denen ist Gregor Gysi nicht bereit.
    Müller: Wir reden ja über Gregor Gysi, eben auch ein Mensch in dieser DDR, der dort auch gewirkt hat. Ich möchte Ihnen da noch einmal entgegenkommen beziehungsweise Sie, Herr Thierse, noch mal genauer fragen. Wenn wir diese Interpretation und die Entwicklungsgeschichte der DDR mal bei Seite lassen und reden noch einmal über die Gründung, war es legitim, dass die Sowjetunion die DDR mit dieser Verfassung gegründet hat?
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    Gregor Gysis sorgt mit seinen Äußerungen für großen Unmut (afp / Clemens Bilan)
    "Ich bin enttäuscht von Gregor Gysi"
    Thierse: Aber was ist das für eine Frage?
    Müller: Das ist eine normale Frage.
    Thierse: Was ist das für eine Frage? Das ist Geschichte. Es gab geschichtliche Gründe. Das hat mit dem Nazi-Reich zu tun, mit den Nazi-Verbrechen, mit dem Krieg, mit der Niederlage der Deutschen, mit dem Verhalten der Siegermächte. Das war nicht zwingend, dass Deutschland gespalten worden ist, aber der Gegensatz zwischen den Siegermächten hat dazu geführt, dass die einen die westdeutschen Zonen unterstützt haben und die Gründung eines Staates unterstützt haben und die Sowjetunion die Gründung eines anderen Staates. Aber das sagt doch dann nicht zwingend etwas aus über den Charakter dieses Staates.
    Müller: Aber ich hatte Sie ja nach der Gründung gefragt. War die Gründung legitim?
    Thierse: Was heißt legitim? Rückwärts gefragt ist das eine fast absurde Frage. Sie war, sie ist erfolgt. Aber für das Urteil, ob es ein Rechtsstaat oder ein Unrechtsstaat war, sind die Kriterien entscheidend: keine unabhängige Justiz, keine demokratische Legitimation politischer Macht, keine Grundrechte und Grundfreiheiten. Das sind die Kennzeichen eines Unrechtsstaats und deswegen ist das Urteil über die DDR als Unrechtsstaat neben anderen, Kulturstaat, Sozialstaat etc., ein notwendiges Urteil.
    Müller: Sie kennen Gregor Gysi sehr gut. Sind Sie jetzt richtig verärgert?
    Thierse: Ich bin erstaunt und enttäuscht, dass nach 24 Jahren nach dem Ende der DDR Gregor Gysi diesen Staat immer noch verteidigt und bis an den Rand der Lächerlichkeit die Delegitimierung ablehnt. Wie gesagt, sie ist erfolgt durch die Geschichte selber, und wer das heute angesichts von Koalitionsverhandlungen in Thüringen öffentlich bekundet, der will offensichtlich diese Koalition nicht.
    Müller: Bei uns im Deutschlandfunk der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD). Vielen Dank, Herr Thierse, für das Gespräch.
    Thierse: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.