Christiane Florin: Michael Schenk ist katholischer Priester, genauer gesagt: alt-katholischer Priester. Fünf Jahre lang war er römisch-katholischer Geistlicher, sogar Direktor des Zentrums für Berufungspastoral im Erzbistum Köln. 2002 wurde er wegen Ungehorsams suspendiert.
Und Michael Schenk ist Missbrauchsbetroffener. Er hat viele Jahre dafür gekämpft, dass es nicht bloß heißt: "Er bildet sich ein, Betroffener zu sein." Mehrere Priester hätten sich an ihm vergangen, als er ein kleines Kind war, so schildert er es. Zunächst wurde das als "Scheinerinnerungen" abgetan.
Der Strafrechtler Björn Gercke hat im Auftrag des Erzbistums Köln untersucht, ob Verantwortliche Pflichten verletzt haben im Umgang mit Missbrauchsbeschuldigungen. Mitte März wurde das Ergebnis veröffentlich. Michael Schenks Fall kommt im Gercke-Gutachten anonymisiert vor, einsortiert in die Kategorie, "Kurzdarstellung der Aktenvorgänge ohne oder mit nicht sicher festgestellten Pflichtverletzungen."
Mit Michel Schenk habe ich am vergangenen Donnerstag über seine Geschichte und seine Gegenwart gesprochen. Ich habe ihn zunächst gefragt, was derzeit seine Aufgabe ist als alt-katholischer Priester.
Michael Schenk: Derzeit bin ich Priester im Ehrenamt. Ich baue ein alt-katholisches Exerzitienhaus auf im Bergischen Land. Corona-bedingt haben wir zurzeit Flaute. Aber es soll eine Begegnungsstätte sein, ein Haus, in dem wir vor allem unsere altkatholischen Spezifika – das heißt, so wie wir katholischen Glauben leben - für die Menschen schmackhaft machen und darstellen möchten.
"Sehr nah am Zeitgeist"
Florin: Die alt-katholische Kirche ging aus dem ersten Vatikanischen Konzil hervor, genau genommen aus dem Protest gegen die Entscheidung von 1870, derzufolge der Papst unfehlbar ist. Das ist zumindest die wichtigste Entscheidung, die auf diesem Konzil beschlossen worden ist. Es gibt in der römisch-katholischen Kirche bekanntermaßen keine Frauenweihe. Es gibt für Priester den Zölibat. In der alt-katholischen Kirche gibt es Frauenordination und keinen Zölibat. Was sind die Spezifika für Sie, wenn man es nicht nur auf diese Abgrenzung römisch-katholisch/alt-katholisch reduziert?
Schenk: Ich glaube, das ist ein wesentlicher Punkt, weil es eben nicht um Abgrenzung geht. Wir sind nicht nur aus dem Protest entstanden gegen zwei neu formulierte Dogmen, sondern wir wollten etwas bewahren, nämlich eine gewisse Freiheit für den Einzelnen. Deshalb sind wir auch von unserer kirchlichen Struktur auf die alte Kirche der ersten Jahrhunderte verwiesen, darauf rekurriert unser Name, auch wenn unser Name heute ein bisschen schwierig zu verstehen ist.
Wir wollen auf der einen Seite eine synodale Struktur haben, die gemeinsam mit dem Bischof die Ortskirche leitet. Auf der anderen Seite hat diese Synode und auch die synodalen Kraft daraus auch immer wieder Mitentscheidung. Deshalb sind wir eine katholische Kirche, die sehr nah am Zeitgeist ist und auch sehr nah bei den Menschen auch heute ist. Beispiel: Bei uns gibt es keine Kirchenstrafen. Es zählt das Gewissen des Einzelnen, wenn sich er oder sie geladen fühlt, zur Kommunion zu gehen.
Florin: Zum Beispiel, wenn man (nach einer Scheidung) zum zweiten Mal verheiratet ist. Das meinen Sie.
Schenk: Ja. Bei uns ist wie in der Orthodoxie Wiederheirat möglich. Es gibt keinen Ausschluss von den Sakramenten. Das Problem der wiederverheiratet Geschiedenen haben wir nicht.
Nach dem Zeitgeist fragen
Florin: Das Wort Zeitgeist haben Sie erwähnt. Das ist für Sie positiv besetzt?
Schenk: Das ist schon deswegen positiv besetzt, weil wir sagen: Jede Zeit ist Gotteszeit. In jeder Zeit wirkt der Heilige Geist. Bewahren ist das eine. Eine ganz wichtige Sache. Aber genauso heißt das: Immer hinschauen, was ist die konkrete Anfrage des Zeitgeistes, des Menschen in der jeweiligen Zeit, so auch heute, wenn man Glauben sucht, wenn Fragen offen sind, die das Leben wirklich beschäftigen? Beispiel: Bei uns sind selbstverständlich gleichgeschlechtlich liebende Menschen in den Gemeinden integriert. Und bei uns gibt es eigene Segensformulare auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
"Wir halten uns aus den Schlafzimmern raus"
Florin: Das Thema wird diese Woche noch mal in der römisch-katholischen Kirche sehr aktuell. Sie waren einmal römisch-katholischer Priester. Warum Sie es nicht mehr sind, darüber sprechen wir gleich ausführlicher. Aber wenn Sie das vergleichen: römisch-katholischer Priester/alt-katholischer Priester: Was ist da gleich? Und was sind die wichtigsten Unterschiede?
Schenk: Gleich ist wirklich diese Sehnsucht in mir, die ich jahrelang getragen habe und trage: dieser Ruf, in der Nachfolge Jesu zu stehen, um den Menschen zu dienen und sie zu sammeln, zu einen, in der Hoffnung, sie aufzubauen und das Evangelium zu verkünden, auch in den Feiern der Sakramente.
Anders ist, dass wir wesentlich freier sind im Umgang, gerade was das tägliche Leben betrifft. Wir haben nicht die Form einer desaströsen oder pathologischen Sexualmoral wie in der römisch-katholischen Kirche. Bei uns zählt das Gewissen des Einzelnen. Wenn es so etwas gibt wie alt-katholische Sexualmoral, dann können wir sie auch ganz kurzen Nenner bringen: Wir halten uns aus den Schlafzimmern der Menschen raus - außer Gewalt und Kinder natürlich.
Das bedeutet Partnerschaft auf Augenhöhe. Partnerschaft zwischen zwei Männern, zwei Frauen, zwischen Mann und Frau, wenn sie auf wirklicher Liebe gründet, auf Achtung, auf Respekt des Miteinanders: Wer sind wir, dass wir diese nicht anerkennen können?
"Einmal Weihe, immer Weihe"
Florin: "Pathologische Sexualmoral" - da schwingt ein deutlicher Vorwurf mit, wir kommen später bestimmt noch darauf. Sie sind 1997 vom damaligen Erzbischof von Köln, Joachim Meisner, zum römisch-katholischen Priester geweiht worden. Was war das für ein Moment?
Schenk: Das war ein ganz ein großes Geschenk, für das ich bis heute dankbar bin, im Akt der Weihe wirklich noch mal für mich persönlich die Nähe von Jesus Christus gefühlt zu haben. Dieses Feuer ist in all den Jahren auch brennend geblieben.
Florin: Also die römisch-katholische Weihe wirkt weiter, das Handauflegen, das Gehorsamsversprechen?
Schenk: Das wirkt als solches, in den Disziplinen der römisch-katholischen Kirche, nicht mehr, denn dort bin ich suspendiert worden, exkommuniziert worden. Aber es gilt wie bei der Taufe: einmal Taufe, immer Taufe. Einmal Weihe, immer Weihe.
Retraumatisierung durch autoritären Pfarrer
Florin: Sie hatten als junger Priester – als Kaplan, das ist eine Art Lehrzeit in der Gemeinde – einen sehr autoritären Pfarrer. Es kamen in Ihnen Erinnerungen hoch, Missbrauchserfahrungen: zwei Priester hätten Sie als Kleinkind missbraucht. Laut Kirchenverständnis ist ein Bischof wie ein Vater für den Priester, seinen "Sohn". Haben Sie Kardinal Meisner gegenüber diesen Missbrauchsverdacht geäußert als junger Priester?
Schenk: Ja, das habe ich, durch die Welle der Retraumatisierung aufgrund des Führungsstils meines damaligen Vorgesetzten. 2002 habe ich gegenüber Kardinal Meisner in einem persönlichen Gespräch geäußert, dass da was nicht stimmt und dass es auch um sehr frühe Geschichten ging. Ich konnte das nur sehr schwer formulieren: Gewaltproblematik, die an mir als Kind verübt wurde. Kardinal Meisner hat das weit von sich geschoben in einer großen Geste und sagte zu mir: "Da steht man drüber".
"Brüder - für mich ist das Wort eine Floskel"
Florin: Offiziell gemeldet beim Erzbistum Köln haben Sie das 2004. Da waren Sie schon nicht mehr Priester. Sie waren wegen Ungehorsams suspendiert worden, also bestraft worden. Was war Ihr Ungehorsam?
Schenk: Richtig. Mein Ungehorsam war, dass ich im offiziell gewährten Krankenjahr 2002, das noch nicht zu Ende war, bei meinen Vorgesetzten Kardinal Meisner geäußert habe – schriftlich-, dass sich unter den gegenwärtigen Umständen - ich war in Therapien - so aus psychosomatischen Gründen nicht zurückkommen kann in den aktiven priesterlichen Dienst. Hintergrund war, dass mir meine Therapeuten geraten haben, mir dringend mehr Zeit zu nehmen, um nicht wieder in einen Strudel auch der Suizid-Versuche und der Suizid-Planung zurückzufallen. Das wurde als Anlass genommen, mir aufgrund des Ungehorsams - da ich nicht zurückkehren konnte in einer schweren Krankheits- und Depressionsphase - die Suspendierung auszusprechen, auf den Tisch zu legen.
Florin: "Brüder im Nebel" - über diesen Titel eines Geheimdossiers, das Kardinal Meisner angelegt hatte mit Missbrauchsbeschuldigten, ist viel berichtet worden. Stichwort Brüder: Sie haben die Vorkommnisse 2004 gemeldet, da war einer der von Ihnen Beschuldigten schon verstorben. Der andere lebte noch, er starb 2010. Sie waren auch römisch-katholischer Priester. Empfanden Sie eigentlich so etwas wie Brüderlichkeit für diese Priester? Gibt es da ein Band, das über alle Taten, alle Verdächtigungen hinweg hält?
Schenk: Für mich persönlich habe ich das Wort Brüder oder Mit-Brüder als eine leere Floskel erlebt. Bis heute ist das übrigens so. Es gab wenige, handverlesene Mitbrüder, die zu mir gehalten haben, Kontakt gehalten haben, die unmittelbar mitbekommen haben, wie schlecht es mir ging. Aber diejenigen in den Leitungsfunktionen, die auch Verantwortung für einen Mitbruder haben, haben in meinem Fall völlig versagt. Im Übrigen habe ich drei Priester, die ich benennen kann, die sich an mir vergangen haben in meiner frühen Kinderzeit. Zwei konnte ich namentlich erinnern. Dem dritten Täter bin ich durch neue Hinweise auf der Spur.
Gutacherlich bescheinigte "Scheinerinnerung"
Florin: Eine wichtige Rolle in Ihrer Geschichte spielt ein (psychologisches) Gutachten, das im Auftrag des Erzbistums erstellt wurde. Das bescheinigt Ihnen, dass Sie sich falsch erinnern, dass Sie sich an eine Missbrauchserfahrung erinnern, die Sie gar nicht erlebt haben. Das sei eine Scheinerinnerung, der Fachbegriff ist False Memory. Dieser Gutachter hat Sie damals persönlich nicht kennengelernt, sondern hat auf der Basis von Papieren gewertet. Wie kam das damals?
Schenk: Ja, das ist ein Umstand, über den ich bis heute hochempört bin. Ich habe 2004 schriftlich die beiden Täter angezeigt im Erzbistum Köln, die ich namentlich erinnern konnte, weil ich dachte: "Man kennt mich, wir duzen uns bis in die höchsten Ebenen. Wir können uns endlich an einen Tisch setzen. Ich kann mein Leben zusammensetzen und kann verständlich machen, wo ich stehe und wo ich stand." Ich wollte wieder zurück in den priesterlichen Dienst im Erzbistum Köln. Dann hat man um Erlaubnis gebeten, die bis dato eingereichten Therapieberichte, Arztberichte, einem Experten vorzulegen, der darüber befinden sollte. Dieser Experte hat nie mit mir gesprochen, nie mit mir telefoniert und er hat entschieden: Ich würde Pseudo-Erinnerung produzieren.
Die Wendung: "Wir glauben Ihnen"
Florin: Dann gab es mit großen zeitlichen Abstand - 2019 war das - eine Wendung. Sie haben sich wieder ans Erzbistum Köln gewandt, an die zuständige Beauftragte. Da wurde Ihnen geglaubt, da wurde Ihnen eine Summe der Anerkennung des Leids angeboten. Es fiel, so haben sie es gegenüber dem Kölner Stadt-Anzeiger geschildert, tatsächlich der Satz: "Wir glauben Ihnen." Wie erklären Sie sich diese Wandlung: einerseits sozusagen begutachtete "Scheinerinnerung", andererseits: "Wir glauben Ihnen". Was ist in der Zwischenzeit passiert?
Schenk: Weil das Ergebnis 2005 nach der ersten Eingabe, nach der ersten Anzeige für mich persönlich so niederschmetternd war, bin ich erneut im Depressionen gefallen. Ich habe mir auch die Frage gestellt: Spinnst du? Hast du dir das alles nur eingebildet? Ich habe bei Null mit neuen Therapeuten wieder angefangen, mein Leben zusammenzusetzen.
2018 kam nach der großen MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz heraus, wie groß die Zahl der Missbrauchsopfer im Erzbistum Köln ist. In einem Zeitungsartikel stand als Zwischenüberschrift: "Das jüngste Opfer war drei Jahre". Das war für mich die Initialzündung, erneut loszugehen unter der Prämisse: Bin ich das? Meinen die mich? Oder jemand anderen? Wenn es jemand anders ist, wieso glauben die dem und nicht mir?
Ich habe in all den Jahren alle therapeutischen Ergebnisse zusammengetragen, Arztberichte erneut dem Erzbistum Köln vorgelegt. Und im Oktober 2019 bekam ich die erlösende Antwort: Ja, wir glauben Ihnen. Denn ich habe mittlerweile auch Zeugen des Randgeschehens ausfindig machen können, die über die damalige Zeit berichten konnten.
"Lächerlich wenig"
Florin: Am 18. März dieses Jahres ist das Gutachten des Strafrechtlers Björn Gercke veröffentlicht worden. Ein Gutachten im Auftrag des Erzbistums Köln (über den Umgang Verantwortlicher mit sexualisierter Gewalt). Darüber haben wir ausführlich berichtet. Darin wird Ihre Geschichte auf einer Seite erzählt, Seite 704, Aktenvorgang 223. Auch da wird das fachpsychologische Gutachten erwähnt, wonach es bei Ihnen nur Scheinerinnerungen gewesen seien. Was ging in Ihnen vor, als Sie das gelesen haben?
Schenk: Was unter 223 in diesem Artikel subsumiert wird, ist so lächerlich wenig. Am Anfang fehlt so viel, nämlich, dass wirklich die Schuld und die Last beim Erzbistum Köln liegt durch das Verhalten meiner damaligen Vorgesetzten. Lückenhaft ist die Aufzählung, was alles eingereicht wurde, wie man mit mir umgegangen ist. Zwar wird das damalige fachpsychologische Gutachten erwähnt, aber traumapsychologische Gutachten, die danach folgten, beispielsweise gar nicht. Am Ende steht dann dieser lapidare Satz, dass meine Erinnerung doch erlebnisbasiert sind.
Florin: Ja, das Kapitel, wenn man es so nennen kann, endet damit, dass Sie zahlreiche Stellungnahmen zum Nachweis der Echtheit Ihrer Erinnerung beigebracht haben. Es endet offen, unentschieden. Haben Sie eigentlich diese 900 Seiten des Gercke-Gutachtens gezielt nach Ihrem Fall durchsucht? Haben Sie das so mit diesem Suchraster gelesen oder haben Sie angefangen und dann bis zum Schluss gelesen?
Schenk: Ich konnte am Ende nicht mehr. Angefangen habe ich, aber ich kann Ihnen auch immer wieder sagen, wie belastend das für mich ist, wenn in den Nächten wieder Körper-Flashbacks hochkommen, wenn es auf meiner Seele liegt. Ich bin jetzt seit 20 Jahren dabei, meine Lebensgeschichte aufzuarbeiten, immer wieder in Therapie zu gehen, um Frieden zu finden für meine Seele. Es gibt Momente, Zeiten, da kann ich nicht tiefer einsteigen, weil ich es einfach nicht kann. Dann versagen auch die Kräfte, auch die geistigen Kräfte, mich in ein 900-Seiten-Gutachten einzulesen.
Und Sie sprachen eben die Summe zur Anerkennung des Leids an. Ja, man hat mir 5000 Euro ausgezahlt, obwohl mir bis dato immer wieder deutlich gesagt wird von anderen Kirchenrechtlern und Fachleuten, dass mir wesentlich mehr zusteht, weil die Vorgesetzten des Erzbistums Köln der Fürsorgepflicht für einen ihrer Priesters nicht nachgekommen seien.
Florin: Nun muss man fairerweise sagen: Das Gercke-Gutachten erhebt nicht den Anspruch, die ganze Geschichte nachzuerzählen, sondern es ist ein Gutachten nach einem juristischen Raster, strafrechtlich, kirchenrechtlich. Es geht um Pflichtverletzungen. Ihre Geschichte ist daraufhin untersucht worden, ob Vorgesetzte Pflichten verletzt haben und Ihre Geschichte ist in die Kategorie eingeordnet, in der Pflichtverletzungen nicht eindeutig nachgewiesen werden konnten.
Schenk: Eben. Nicht eindeutig.
Florin: Wenn Sie auf dieses Gercke-Gutachten schauen, bringt das etwas für die Betroffenen?
Schenk: Das Gutachten gibt keine Zielrichtung für Betroffene.
"Es wussten alle, aber keiner hatte die Kraft, dagegen anzugehen"
Florin: Zu lesen: Meisner hat die meisten Pflichtverletzungen, der frühere Erzbischof ist posthum demontiert worden durch dieses Gutachten. Verschafft Ihnen das irgendeine Art von Genugtuung?
Schenk: Das Gegenteil ist der Fall. Es stimmt mich umso trauriger, weil wir das, was das Gutachten zeigt, seit Jahren und Jahrzehnten wussten und hinter vorgehaltener Hand auch immer wieder diskutiert wurde, auch in Kirchenkreisen, auch unter den Preistern und Geistlichen, auch auf Führungsebene. Es wussten alle, aber letztlich hat keiner die Kraft gehabt oder den Willen gehabt, ordentlich dagegen anzugehen.
Florin: Mitwisserschaft ist nicht justiziabel. Das haben wir auch bei dieser Kölner Pressekonferenz gelernt....
Schenk: Ganz genau.
Florin: Der Erzbischof von Köln ist gerade wieder in den Medien mit einem Fall. Da geht es um eine Führungsposition, die er besetzt hat mit jemandem, der laut Zeitungsberichten eine sexuelle Handlung mit einem minderjährigen, obdachlosen Prostituierten vorgenommen haben soll, um es ganz vorsichtig zu formulieren.
Es sei kein strafbares Vorgehen gewesen, sagt das Erzbistum, und der Kardinal habe diese Personalentscheidung aufgrund der Empfehlung eines anderen Geistlichen getroffen, heißt es auch in einer Presseerklärung. Wir können nicht auf die Details dieses Falles eingehen. Dass es auf Empfehlung eines anderen war, ändert ja auch nichts daran, dass der Erzbischof verantwortlich ist für diese Personalie.
Bemerkenswert ist die Überschrift dieser erzbischöflichen Pressemitteilung. Die lautet nämlich: "Kardinal setzt Aufklärungskurs fort". Sehen Sie Kardinal Woelki als Aufklärer?
Schenk: Im Gegenteil. Das Darüber-Hinwegsehen ist symptomatisch, nicht nur bei Woelki. Das war in Meisners Ära genauso wie auch bei Kardinal Höffner und vielleicht sogar auch schon davor, dieses Augenzukneifen. Ja, jeder Mensch darf Fehler machen auf der einen Seite. Aber wenn es andererseits ganz speziell um das Thema der Sexualität geht, gilt: Bloß nichts sagen. Das zieht sich bis heute durch wie ein roter Faden.
"Mein Fall bis heute nicht eindeutig untersucht"
Florin: Aber das Gercke-Gutachten stellt bei Kardinal Woelki keinen Pflichtverstoß fest. Das heißt, das bedeutet für Sie keinen Freispruch?
Schenk: Ich werde subsumiert unter dem Titel unter anderem "nicht eindeutig nachweisbar". An dem Vorwurf halte ich auch fest, dass mein Fall bis heute nicht eindeutig dahingehend untersucht wurde und die komplette Lage gesichtet wurde.
Florin: Was wäre für Sie ein Handeln, dass das Wort "Aufklärungskurs" verdient?
Schenk: Beispielsweise fände ich es ganz klasse, wenn so ein Erzbischof, wenn Kardinal Woelki sagen würde: "Ich gehe dorthin zu dir, ich gehe mit dir in deine Geschichte, dorthin, wo dir das angetan wurde, wovon du erzählst."
Florin: Das hat er versprochen.
Schenk: Ja, indem die Opfer nach Köln fahren dürfen. Wenn es wirklich um Achtung und Respekt vor den Opfern geht, dann steige ich mit den Opfern in die Schmerzen ein und schaue, was passiert ist, wo es passiert ist. Ich lasse mir Zeit mit den Opfern, um die Hintergründe zu klären und auch zu erklären.
"Die Menschen trauen sich mittlerweile zu erzählen"
Florin: Im Zentrum der Berichterstattung stehen die Bischöfe. Das ist auch klar, denn sie sind die Verantwortlichen. Wie ist es mit der Rolle der Laien, der Gläubigen in den Gemeinden? Bekommen Sie da Unterstützung?
Schenk: Ja, ich bekomme bis heute vor allen Dingen aus der Bevölkerung sehr viel Unterstützung. Die sagt nicht nur "Hut ab" und "Respekt" und "Mach weiter". Mir werden auch ganz klare Details über die Zeiten von damals zugespielt. Es ist spannend, dass die Menschen sich mittlerweile trauen, auch über das Thema Sexualität und der Pädosexualität der damaligen Zeit zu erzählen. Vor einer Stunde hat mir eine Dame am Telefon gesagt: "Man durfte ja nichts sagen." Die Pfarrer vor Ort hatten eine Macht, die sie ausgespielt haben, und haben den Menschen den Mund verboten.
Florin: Sie haben Ihre Geschichte, Ihr Schicksal, Ende des vergangenen Jahres öffentlich gemacht. Der Kölner Stadt-Anzeiger, Joachim Frank, hat über Sie ausführlich berichtet. Sie haben Ihren richtigen Namen dort genannt in dieser Geschichte. Es ist kein Pseudonym, und es gibt auch Pressefotos von Ihnen. Damit machen Sie sich auch angreifbar. Denn immer - das erleben wir als Journalistinnen und Journalisten auch - gibt es "victim blaming", neudeutsch gesagt, also Beschuldigungen der Opfer. Da wir hier miteinander sprechen für ein Medium, scheinen Sie diesen Schritt an die Öffentlichkeit nicht zu bereuen. Was bedeutet Öffentlichkeit?
Schenk: Öffentlichkeit bedeutet für mich zweierlei: Ich habe mein inneres Schweigegebot, das Verbot zu sprechen, durchbrochen. Einmal das kindliche Schweigegebot, die Androhung: "Wenn du was erzählt, wird es deiner Familie schlecht ergehen. Deine Familie wird in die Hölle kommen und du selbst auch." Dieses kindliche Schweigegebot hat sich auf meine Seele gelegt. Das brauchte Jahrzehnte, um das zu durchbrechen. Und dann gab es ein erneutes Schweigegebot für den Erwachsenen, das mich gehindert hat, das innere System im Erzbistum Köln offenzulegen. In dem Moment, wo ich frei spreche, habe ich gemerkt, dass sich ein schwarzer Schleier löst, dass die Heilung in mir wirklich weiter einsetzt.
Ich habe gemerkt, weil ich seit 2004 in all den Jahren vor allen Dingen ab 2010 immer wieder versucht habe, aufzuklären, meinen Fall zu Ende zu bringen, dass ich keine Ruhe finden und jede Form einer stillschweigenden Eingabe im Erzbistum Köln nicht zum Erfolg geführt hat. Erst die Veröffentlichung hat das Erzbistum Köln zum Handeln gezwungen, beispielsweise auch in meiner Heimatgemeinde ein Proclamandum [Aufruf in der Messe, Anm. d. Red] zu verlesen und nach weiteren Opfern zu suchen.
"Aufarbeitung ist sehr heilsam"
Florin: Ist Aufarbeitung, ist Aufklärung heilsam? Sie haben das Wort heilsam vorhin benutzt.
Schenk: Aufarbeitung ist sehr heilsam. Ich möchte allen Frauen und Männern, die als Kinder und Jugendliche sexuellen Missbrauch in irgendeiner Form erlebt haben, Mut machen, über die Vorfälle zu reden. Immer dann, wenn uns der Mund verboten wurde, über das, war wir erfahren mussten, zu sprechen, hat die andere Seite immer noch Macht über uns. Diese Macht möchte ich den Menschen entziehen, die sich an uns vergangen haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.