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Ein angeborenes menschliches Gefühl?

Jeder Kulturkreis kennt das Gefühl: Stolz. Gerade im Sport genießen ganze Nationen den Stolz eines Sieges. Die Forschung zeigt, dass Stolz ein angeborenes Gefühl ist, das aber dennoch stark kulturell geprägt ist.

Von Cornelius Wüllenkemper | 31.03.2011
    Das Kind, das zum ersten Mal ohne Hilfe Fahrrad fährt. Oder die Studentin, die lang gelernt und endlich die schwierige Prüfung erfolgreich bestanden hat. Menschen, die etwas erreicht haben, die einen besonderen Erfolg vorweisen können, sind stolz auf sich. Aber was bedeutet das, und: Ist es legitim, Stolz zu empfinden? In jedem Kulturkreis, ob fernöstlich, arabisch oder westlich, bestimmt ein unterschiedlicher Begriff von Stolz und Ehre das Denken und Leben der Menschen.

    Für die amerikanische Philosophin Susan Neiman ist Stolz eine ambivalente, wenn nicht negative Empfindung. Schon im griechischen Mythos des Prometheus wird Hochmut gegenüber den Göttern mit unendlichen Qualen bestraft. Die christliche Kirche erklärt "superbia", das sowohl mit "Stolz" als auch mit "Hochmut" übersetzt werden kann, einige hundert Jahre später zur schlimmsten aller Todsünden. Stolz schüre die Furcht des Menschen und mache verletzlich, meint Susan Neiman:

    "Wenn man stolz ist, sind die Chancen, Neid auf sich zu ziehen, ziemlich hoch. Die Australier nennen das 'tall puppies'- Syndrom, dass wenn sich eine Blume zu hoch streckt, sie geköpft wird."

    Der eigene Stolz also als Bedrohung der Unversehrtheit? Susan Neiman geht in ihren Überlegungen noch einen Schritt weiter. Stolz ist für sie eine Empfindung, die psychoanalytisch eng mit dem Schuldgefühl verknüpft ist.

    "Die Suche nach legitimem Stolz ist verdammt schwer, wenn man sich überlegt, wie wenig der eigenen Leistung tatsächlich von einem selber abhängt. Es geht nicht nur um den IQ oder schönes Aussehen, also Dinge, die angeboren sind, sondern selbst Dinge, von denen wir meinen, wir sind dafür verantwortlich. Wenn wir Energie haben, wenn wir Disziplin haben, wenn wir bereit sind, ein Risiko einzugehen, das sind alles Sachen, die erheblich von der Kindheit, wenn nicht genetisch beeinflusst sind. Und wenn man sich klar wird, bei der eigenen Leistung, wie viel Komponenten es gibt, die man geschenkt bekam, dann kann man schon so etwas wie Schuld empfinden, statt Stolz, oder gekoppelt mit Stolz."

    Muss, wer stolz auf etwas ist, sich also schuldig fühlen? Ist Stolz nicht zugleich ein menschliches Grundgefühl, das seit Jahrtausenden unsere Zivilisation vorantreibt, das Menschen Herausforderungen bewältigen lässt und Gruppen zusammenschweißt? Macht Stolz nicht den Menschen erst zum Menschen ? Jessica Tracey, Professorin für Psychologie an der University of British Columbia in Vancouver forscht seit Langem über die Eigenschaften von menschlichem Stolz. Tracey fotografierte US-Amerikaner, die sie gebeten hatte, Posen einzunehmen, die Ekel, Überraschung, Trauer, Angst, Ärger, Glück und Stolz ausdrückten. Mit den Aufnahme reiste die Wissenschaftlerin ins westafrikanische Burkina Faso zu einem Volksstamm, der weitgehend unbeeinflusst von der modernen Welt lebt. Jessica Traceys Untersuchungen zeigten, dass die Stammesmitglieder besonders häufig die Stolz-Posen als solche wiedererkannten, viel öfter als Ekel, Überraschung oder Angst.

    "Um Stolz zu empfinden, muss man über eine Selbstwahrnehmung verfügen. Man muss in der Lage sein, sich selbst zu beurteilen, denn Stolz fühlt man, wenn man etwas Gutes getan hat und sagen kann: Ich war es, der das getan hat oder der diese Eigenschaft hat. Außerdem muss man in der Lage sein, soziale Normen zu übernehmen und zu verstehen, was die eigenen Eltern oder die Gesellschaft von einem erwarten. Stolz haben wir von unseren evolutionären Vorgängern geerbt."

    Stolz, so Jessica Tracey, sei folglich eine vor-zivilisatorische, universelle Eigenschaft. Sogar wenige Tierspezies, die wie Elefanten oder Menschenaffen die Fähigkeit zu Selbstwahrnehmung besitzen, seien in der Lage, Stolz zu empfinden. Tracey betont in ihren Untersuchungen vor allem die soziale Bedeutung des Stolzgefühls. Sie unterscheidet zwischen authentischem und anmaßendem Stolz:

    "Allein von der äußeren Erscheinung können wir nicht zwischen beiden Arten von Stolz unterscheiden. Wir müssen mehr über die Person wissen, etwa, ob die Person vielleicht stolz ist, weil sie überzeugt davon ist, besser zu sein. Oder eben, weil die Person gute Arbeit geleistet hat. Beide Formen von Stolz können zu einem höheren Status führen, allerdings auf sehr unterschiedlichen Wegen. Authentischer Stolz fördert den Status durch Prestige, etwa durch Wissen. Das hebt den Status, weil die Menschen Respekt davor haben und davon lernen wollen. Anmaßender Stolz fördert den sozialen Status durch Dominanz, weil diese Menschen stärker sind als die Anderen. Sie sind überzeugt, dass sie besser sind und schüchtern Andere ein. Die Anderen respektieren dann ihren Status, weil sie einfach Angst davor haben, es nicht zu tun."

    Dass Stolz einerseits ein angeborenes Gefühl, aber dennoch stark kulturell geprägt ist, beweist der Essener Professor für Philosophie und Psychologie, Haci Halil Uslucan. Er untersuchte unter 14-jährigen Türken, Deutschen und Deutsch-Türken, welche Gruppe in welchen Situationen Gefühle wie Stolz, Schande oder Ärger empfindet.

    "Bei den meisten Emotionen war die Nähe der Deutsch-Türken, also der Migranten, eher zu den Türken. Sie waren eher vergleichbar mit den Jugendlichen in Istanbul. In einigen Punkten haben sich Annahmen bestätigt, dass Stolz-Erleben für Türken in der Türkei stärker ist. Aber was interessant ist: Das ist für türkische Gruppen insgesamt stärker als für Deutsche."

    Die Bedeutung von Emotionen wie Stolz, so Uslucan, würden von Migranten und deren Nachkommen nur bedingt von der Gesellschaft übernommen, in der sie eingewandert sind. Was für andere Nationen wie die Türkei oder auch Frankreich untrennbar zum Selbstverständnis gehört, ist gerade in Deutschland ein heikles Thema. Wo wird heute Stolz gelebt? Sind wir Stolz, wenn "wir Papst" sind, oder wenn "wir" Erfolge im Sport erzielen? Der Professor für Philosophie und Sportsoziologie, Gunter Gebauer, ist der Auffassung, dass offen gelebter, sozial anerkannter Stolz heute fast ausschließlich im sportlichen Bereich zu finden ist. Die Rolle des stolzen antiken Helden, der sein Volk verteidigt oder auch ein anderes auslöscht, finde man heute beispielsweise auf dem Fußballplatz wieder.

    "Im stolzen Helden geschieht etwas, was er sich selber nicht erklären kann. Ein Ritter vollbringt eine Tat, dass er stärker und möglicherweise geschickter und intelligenter als sein Gegner, ein Fußballer schießt aus einer unmöglichen Situation ein großartiges Tor - das sind Dinge, die geschehen quasi durch Inspiration. Das ist etwas, von dem man in der Antike gesagt hat, das ist Gott, der durch einen wirkt. Aber selbst die Moderne ist noch dieser Meinung, dass es so etwas gibt wie inspiriertes Handeln, dass in einer Person etwas geschieht, das sie selber gar nicht erklären kann."

    Der stolze Held wird hier zum Instrument einer höheren Kraft, und so lange diese wirkt, bringt die Emotion des Stolzes den Status der Ehre hervor. Der stolze Held werde gefeiert, seine Heldentaten von einer Gruppe Verehrern weiterzählt und ausgeschmückt, so Gebauer:

    "Stolz ist etwas, das wir in unserer eigenen Gefühlsregionen hervorbringen und nach außen hin darstellen müssen und nach außen hin darstellen, aber Stolz kann nicht alleine existieren. Stolz muss auch immer in Abstimmung mit der Umgebung entstehen, beibehalten oder möglicherweise sogar vernichtet werden. Stolz ist abhängig davon, dass er bewundert wird, dass er anerkannt wird und dass er auf eine Gruppe stößt, die diesen Stolz schätzen kann. Der stolze Krieger ist nie für sich alleine. Er empfindet ihn von innen, er empfindet ihn als sein Lebenselixier, das ihn am Leben erhält, aber er ist darauf angewiesen, dass andere Leute ihn anerkennen, dass sie ihn bewundern, dass sie über seinen Stolz berichten."

    Sport ist in unserer modernen Gesellschaft die letzte Bastion eines legitimen Stolzes, des Stolzes auf die eigenen Nation, meint Gebauer. Im Stadion sei eine konkrete Leistung sichtbar, authentisch und kollektiv erlebbar, weswegen sich übrigens auch Politiker gern auf sportlichen Großereignissen zeigten. Stolz, meint der Philosoph, sei ein legitimes menschliches Gefühl, wenn er auf eigenen Verdiensten aufbaue und mit Maß, Haltung und Stil gelebt werde.