Mittwoch, 24. April 2024

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Evelyn Zupke
Die erste Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur

Die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Evelyn Zupke ist die erste Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur. Sie möchte die Zwangsarbeit in DDR-Gefängnissen stärker in den Fokus rücken und auch die westdeutschen und europäischen Firmen, die davon profitiert hätten. Erste Kämpfe im Amt hat sie bereits hinter sich.

Von Claudia van Laak | 17.12.2021
Evelyn Zupke steht bei einem Besuch im ehemaligen DDR-Gefängnis in der Keibelstraße vor geöffneten Türen der ehemaligen Gefängniszellen.
Evelyn Zupke bei einem Besuch im ehemaligen DDR-Gefängnis in der Keibelstraße. (picture alliance/dpa)
„Die Aufmüpfige von der Insel Rügen“ –  habe mal jemand über sie geschrieben, erzählt Evelyn Zupke. Die frühere DDR-Bürgerrechtlerin ist seit genau einem halben Jahr die erste SED-Opferbeauftragte des Bundes. Der Bundestag hat dieses Amt neu geschaffen, nachdem die Stasi-Unterlagenbehörde Teil des Bundesarchivs wurde und deren bisheriger Chef Roland Jahn in Rente ging. Evelyn Zupke – vor 59 Jahren im Badeort Binz auf Rügen geboren – ist bislang einer größeren Öffentlichkeit unbekannt.
„Bis zur 8. Klasse war ich sozialistisches Musterkind, und aufmüpfig bin ich erst geworden, als ich erwachsener wurde, als ich richtig jugendlich wurde, als ich die Widersprüche entdeckte, und eigentlich war ich auch gar nicht politisch zunächst. Sondern es war in der DDR ja so, dass man dazu gemacht wurde.“

Verzicht aufs Studium

Für ein Studium brauche sie sich erst gar nicht zu bewerben, sagt ihr ein Lehrer kurz vor dem Abitur. Sie lernt stattdessen Kellnerin, weigert sich, für ein Studium in die SED einzutreten, wird Pflegerin in einem Heim für geistig Behinderte.
„Anpassung war erwünscht, eigenes Denken wurde sanktioniert, und dadurch wurde ich eigentlich in diese Bahn gebracht, aufmüpfig sein zu müssen.“
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 klettern Menschen auf das Brandenburger Tor.
Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 am Brandenburger Tor. (picture alliance / akg-images)
Später zieht sie nach Berlin, deckt gemeinsam mit anderen Mitstreitern aus der DDR-Opposition den Betrug bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 1989 auf, wird mehrmals verhaftet. Nach Mauerfall und Wiedervereinigung arbeitet Evelyn Zupke als Sozialpädagogin mit alten, psychisch kranken und behinderten Menschen. Sie muss feststellen: ihr Kollege ist ein früherer Psychiater aus dem Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen.
„Und dann habe ich das mitbekommen und habe dann dafür gesorgt zumindest, dass er dort meine Klienten nicht mehr behandelt hat. Aber das war eine große Geschichte. Ich hatte dann auch große Schwierigkeiten. Also es hat mich verfolgt, aber ich konnte da nie wegsehen!“
Es ist ein innerer Kompass, der sie leitet, ein starker Gerechtigkeitssinn – und es ist vor allem eine große Unerschrockenheit, die die 59-Jährige auszeichnet. Erfahrungen im Politikbetrieb hatte sie keine, trotzdem hat Evelyn Zupke „ja“ gesagt auf die Frage, ob sie sich das neue Amt der SED-Opferbeauftragten zutraue.
„Das ging ja alles so so so schnell, viel Zeit zum Denken war nicht.“

Interne Kämpfe zum Start als Bundesbeauftragte

Vier Wochen nach Amtsantritt am 17. Juni sitzt Evelyn Zupke in ihrem Berliner Büro. Ein paar leere Aktenordner im Regal, die Wände kahl. Ihre Geschäftsstelle ist vorläufig mit einem persönlichen Referenten und einer Aushilfs-Sekretärin besetzt. Die Bundesbeauftragte verfügt über zehn Stellen. Das Problem: Evelyn Zupke darf sie nicht eigenständig besetzen. Zeit, wieder aufmüpfig zu werden?
„Da bin ich natürlich mit ganz anderen Vorstellungen rangegangen, weil mir auch gesagt wurde, ja, die Opferbeauftragte kann ihre Stellen alle alleine besetzen. Das war natürlich total naiv. Die Stellen werden hier intern ausgeschrieben. Das war ein kleiner Kampf. Das habe ich aber gleich gemacht und gleich geklärt.“
Sie besteht darauf, dass zumindest ein Teil ihrer Stellen öffentlich ausgeschrieben wird. Für den Umgang mit traumatisierten Menschen brauche es besondere Kenntnisse und Fähigkeiten, für das Fachgebiet Rehabilitierung ebenfalls, ist die SED-Opferbeauftragte überzeugt.
„Das ist ein sensibles Thema, das sind sensible Personengruppen. Und dort gibt es Menschen, die haben spezielle Kenntnisse, die bringt eben nicht jeder mit, ganz logisch, und mit Sicherheit nicht allzu viele hier aus der Bundestagsverwaltung.“

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„Geduld ist nicht gerade mein zweiter Vorname“, sagt Evelyn Zupke über sich selbst. Wie politische Lobbyarbeit funktioniert, muss sie noch lernen. Und welche Kompetenzen sie genau hat, auch.
„Ich weiß nur, dass es ein unabhängiges Amt ist, und ich finde, das hört sich erst einmal immer gut an. Und so habe ich hier sozusagen die Hoheit. Also bis auf das, was die Verwaltung betrifft. Nein, das war ein Scherz.“ Zupke lacht.

Eine von 39 Bundesbeauftragten und -Koordinatoren

Evelyn Zupke ist jetzt Teil eines umfangreichen Beauftragten-Wesens – für Außenstehende wenig transparent. Die offizielle Liste der Bundesbeauftragten und -Koordinatoren umfasst 39 Positionen, darunter jemand für „Weltweite Religionsfreiheit“ oder „Berlin-Umzug und Bonn-Ausgleich“. Mit dem SPD-Politiker Carsten Schneider gibt es jetzt einen neuen Ostbeauftragten im Bundeskanzleramt. Und der Titel „Opferbeauftragter“ ist gleich zweimal vergeben. Einmal für „Anliegen von Opfern und Hinterbliebenen von terroristischen Straftaten im Inland“ – eingerichtet nach dem islamistischen Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz – und eben für die Opfer der SED-Diktatur. Dieses Amt hat der Bundestag erst in diesem Jahr, also 32 Jahre nach Mauerfall eingerichtet. Warum so spät? Der Historiker Jens Gieseke kennt die Antwort:
„Es gab den Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, der als Hauptaufgabe zunächst mal hatte, die Aktenbestände des Ministeriums für Staatssicherheit zu verwalten und für die Nutzung bereitzustellen. Aber er war faktisch immer auch so etwas wie eine Symbolfigur, ein Anwalt, wenn Sie so wollen, der Opfer der SED-Diktatur, und insofern war das im Grunde genommen eine Mehrfachfunktion, die auch Roland Jahn beziehungsweise vorher Joachim Gauck und Marianne Birthler mit ausgeübt haben.“
Ein Mitarbeiter im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde, die inzwischen Teil des Bundesarchivs ist.
Ein Mitarbeiter im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde, die inzwischen Teil des Bundesarchivs ist (imago-images / photothek / Thomas Trutschel)
Aber die Stasi-Unterlagenbehörde existiert nicht mehr als eigenständige Verwaltung, sie ist seit Juni Teil des Bundesarchivs. So brauchte es eine neue Person, die den Bundestag, die Fraktionen und auch die Regierung in Fragen der Rehabilitierung von SED-Opfern beraten kann. In den vergangenen 30 Jahren ist vieles geschehen – zu Unrecht Verurteilte wurden rehabilitiert, rechtsstaatswidrige Verwaltungsentscheidungen aufgehoben, frühere politische Häftlinge können eine Opferrente erhalten. Doch für Jens Gieseke, Historiker am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung, ist dieses Thema noch lange nicht erledigt:
„In der Praxis der Anerkennung von Haftzeiten, zum Beispiel von psychischen Schäden, von gesundheitlichen Schäden gibt es nach wie vor ein Riesendefizit, würde ich sagen, weil Bürokratien sich immer als widerspenstig erweisen, wenn man so will. Es geht um eine finanzielle Entschädigung, und, das zeigt die Erfahrung, ist in sehr vielen Fällen ein sehr mühsames Unterfangen für die Betroffenen gewesen.“

Betroffene kämpfen jahrelang um ihr Recht

Zum Beispiel für Michael Bradler. Der 60Jährige sitzt mit dem Rücken zu einem vergitterten Fenster, durch das trübes Novemberlicht fällt – das frühere Stasi-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen, hier musste Bradler fünf Monate verbringen. Wegen Agententätigkeit verurteilte ihn die DDR-Justiz später zu einem Jahr und vier Monaten Haft. Heute führt der frühere politische Häftling Besucherinnen und Besucher durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen. Michael Bradler legt einen dicken Ordner vor sich auf den Tisch.
„Ich habe da verschiedene Sachen mal mitgebracht, im chronologischen Ablauf. Da ist zum Beispiel der Antrag von 2002, strafrechtliche Gesundheitsschäden, Landesamt für Gesundheit und Soziales…“
„Rente 2002, Land Berlin“ steht auf dem Ordnerrücken. Bradler blättert durch die Klarsichthüllen, in denen Anträge, Gerichtsurteile und medizinische Gutachten stecken.
„Magen-Darm-Probleme, Ess-Störungen, dann Rückenprobleme, ich war auch immer in psychologischer Behandlung.“
Flure in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, die früher als Haftanstalt in der DDR diente.
Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen soll nicht nur überwältigen (picturedesk/dpa/picture-alliance )
Die von den Behörden bestellten Gutachter bescheinigen dem früheren DDR-Häftling zwar körperliche und psychische Probleme, sehen aber darin keine direkten Folgen der Haft. Die andauernden Rückenschmerzen seien altersbedingte Erscheinungen und nicht ursächlich auf die Bedingungen im DDR-Gefängnis zurückzuführen. Antrag abgelehnt. Michael Bradler gibt nicht auf, zieht vor das Sozialgericht, verliert. Dann die nächste Instanz. Inzwischen sind 14 Jahre vergangen, fünfmal muss sich Michael Bradler medizinisch und psychologisch begutachten lassen, dafür hohe Kosten und weite Wege in Kauf nehmen. Am Ende siegt er vor Gericht und erhält jetzt monatlich 156 Euro.
„Da war mir letztendlich nicht die Summe so entscheidend. Sondern mir ging's da mehr ums Prinzip. Denn ich bin ja in der glücklichen Lage, über meine Erlebnisse reden zu können, was viele heute nicht mehr sind. Und die auch nicht das Glück haben, einen Freund zu haben, der Anwalt ist und der sich sehr intensiv da reingehängt hat in die Geschichte. Ich kenne sehr viele, die aufgegeben haben.“
Wer zu Unrecht mehr als 90 Tage in DDR-Haft saß und bedürftig ist, erhält bereits jetzt eine sogenannte Opferrente in Höhe von 330 Euro monatlich. Bedarf es zusätzlicher Leistungen, müssen die Betroffenen beweisen, dass die körperlichen und psychischen Schäden eine direkte Folge der Haft sind. Diese Regelung wollen Betroffene wie Michael Bradler, aber auch die SED-Opferbeauftragte ändern. Die Gutachter seien nicht geschult, kritisiert Evelyn Zupke.
„Dass die keine Ahnung haben, was ist denn DDR-Haft gewesen, was ist denn Jugendhaft gewesen, was ist denn da, wenn in der Haft-Akte steht, der hat unterschrieben, 'ich bin gut behandelt worden'. Das darf man natürlich nicht eins zu eins nehmen. Und der schlimmste Fall: in der Haftakte steht ja nicht, dass Sie traumatisiert sind. Und dann sind sie nicht traumatisiert, was natürlich total absurd ist.“

Zuchthaus Hoheneck: Zwangsarbeit, Willkür, Isolationshaft, Folter

Anfang August reist Evelyn Zupke ins sächsische Erzgebirge, nach Stollberg. Die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft UOKG hat sie zum ersten Bundeskongress politisch verfolgter Frauen in der DDR eingeladen. Der Ort ist mit Bedacht gewählt – in Stollberg befindet sich das frühere Zuchthaus Hoheneck, das größte Frauen-Gefängnis in der DDR.
Ein staubiger Innenhof, rundherum drei- und vierstöckige, trutzig wirkende dunkelrote Backsteingebäude. Nur die vergitterten Fenster weisen darauf hin, dass sich in dem heute weitgehend leerstehenden Komplex ein Zuchthaus befand. Zu DDR-Zeiten saßen hier geschätzt 25.000 Frauen ein – genaue Zahlen fehlen. Carla Ottmann war eine von ihnen. Sie zeigt mit der rechten Hand auf vergitterte Fenster im Souterrain.
„Hier unten, die Zellen, das waren die Absonderungszellen, und wenn wir hier im Hof herumliefen, dann hat man da die Schreie der Frauen gehört. Die Schreie habe ich sofort im Ohr.“
Es waren unmenschliche Haftbedingungen in Hoheneck. Zwangsarbeit, Willkür, Isolationshaft, Folter in der Wasserzelle im Keller. Die Frauen – darunter viele politische Häftlinge – wurden Tag und Nacht von scharfen, andauernd bellenden Hunden bewacht. Bis Mitte der 1970er Jahre mussten sie ohne Toiletten und fließendes Wasser auskommen, besonders im Sommer war der Gestank kaum auszuhalten.
„Hier unten rechts war ein Speisesaal, und wenn man reinkommt links war ein zweiter Speisesaal, ist natürlich jetzt nicht mehr zu erkennen, und wenn man zur Frühschicht ging, dann musste man morgens erst mal richtig doll auf den Tisch klopfen, damit wer verschwand? Die Kakerlaken.“
Evelyn Zupke hört den Schilderungen der früher hier Inhaftierten aufmerksam zu – die Sozialpädagogin hat Erfahrung mit traumatisierten Menschen. Einfühlsam erkundigt sie sich bei Carla Ottmann:
„Sind Sie heute zum ersten Mal wieder hier?“
„Nee, nee, ich bin öfter hier gewesen - 2011 war ja der Bundespräsident hier.“
„Genau.“
„Da war ich das erste Mal hier.“
„Da waren Sie das erste Mal hier?“
„Ja.“
„Das ist ja ein großes Aushalten, wenn Sie wieder an den Ort zurückkommen?“
Auch 32 Jahre nach dem Mauerfall weist in der sächsischen Kleinstadt kaum etwas auf das berüchtigte DDR-Frauenzuchthaus hin. Auf einem Schild vor dem früheren Gefängnis ist zu lesen: „Besucherparkplatz Schloss Hoheneck.“ Daneben in einer kleinen Grünanlage eine Stele mit der unspezifischen Aufschrift „Den Opfern des Stalinismus“. Der Oberbürgermeister von Stollberg Marcel Schmidt erklärt: Die Gebäude würden gerade saniert, eine Ausstellung sei in Vorbereitung.
„Wir stecken als Kleinstadt mit 11.500 Einwohnern einen nicht unerheblichen Anteil unseres jährlichen Haushaltes hier rein. Und das hat natürlich auch Verständnisgrenzen bei der Bürgerschaft, die dann sagt: Okay, ist in Ordnung, wenn ihr jetzt fünf Jahre lang beispielsweise keine neuen Straßen baut, nur damit oben Hoheneck in Ordnung gebracht wird, das ist dann nicht nachvollziehbar, und deswegen müssen wir versuchen einen Weg finden, der alle Interessen ausgleicht.“

Frauen haben in den Opferverbänden keine starke Lobby

Evelyn Zupke nimmt einen Arbeitsauftrag mit nach Berlin: die kleine sächsische Kommune ist überfordert mit der Erinnerung an das DDR-Frauenzuchthaus. Hoheneck müsse Teil der Gedenkstättenkonzeption des Bundes werden, damit nicht nur eine Ausstellung entstehe, sondern der Betrieb auch langfristig gesichert werde – denn das sei notwendig, davon ist die SED-Opferbeauftragte überzeugt.
„Dieses Hoheneck hat ja doch für mich irgendwie insofern eine herausragende Bedeutung, es ist das berüchtigtste Frauenzuchthaus gewesen, deswegen muss das natürlich auf jeden Fall zu einer richtigen Gedenkstätte werden, damit das auch in die Gesellschaft hinein vermittelt werden kann, was hat eben auch die zweite deutsche Diktatur an Elend und Grauen angerichtet.“
Dass Hoheneck bis heute kein Gedenkort ist, hat einen einfachen Grund: es fehlt an einer einflussreichen Lobby. Auch in den DDR-Opferverbänden spielen Frauen eine untergeordnete Rolle. Erst 32 Jahre nach dem Mauerfall lädt der Dachverband der Opferverbände UOKG zum ersten Bundeskongress politisch verfolgter Frauen nach Stollberg ein.
„Ich gebe zu, ich bin ziemlich aufgeregt. Ich bin's nicht gewöhnt, Reden vor so vielen Menschen zu halten.“ Evelyn Zupke ist nervös, vor der Tür hat sie noch schnell eine Zigarette geraucht. Gleichzeitig fühlt sie eine Verbundenheit mit den früheren politischen Häftlingen, die hier im Saal des Stollberger Kulturzentrums auf ihre erste größere Rede warten. Die Frauen und Mütter wissen aus eigener Erfahrung, wozu SED-Funktionäre und Staatssicherheit in der Lage waren – sie verweigerten ihnen Schulabschlüsse und Hochschulstudium, steckten sie ins Gefängnis, nahmen ihnen die Kinder weg, zerstörten ihre Familien. Evelyn Zupke wendet sich den Frauen direkt zu und sagt: „Sie sind Heldinnen“.
„Ohne den jahrzehntelangen Kampf gegen die SED-Diktatur, für den Menschen wie auch Sie, die Hoheneckerinnen, einen hohen Preis zahlen mussten, hätte es die friedliche Revolution 1989 nicht gegeben.“ Zupke bekommt Applaus.
Der Applaus zeigt – die Anerkennung durch die neue SED-Opferbeauftragte des Bundes tut den früheren politischen Häftlingen gut, zu oft fühlen sie sich nicht gehört. Zwischen den Vorträgen auf dem Kongress bilden sich um Evelyn Zupke herum kleine Menschentrauben. Viele Betroffene erzählen ihre persönliche Leidensgeschichte, bitten um Hilfe. Zum Beispiel diejenigen, die in den repressiv geführten DDR-Jugendwerkhöfen unter sexuellem Missbrauch leiden mussten.
„Wir sind keine Missbrauchsopfer als Einzelperson, wir sind Mehrfachbetroffene, Heimerziehung, Missbrauch, und es wird nicht anerkannt. Wir fallen durch´s Raster.“
„Sie schreiben mir erst mal eine E-Mail mit den Fällen, ich berate mich noch mit anderen, wie wir vorgehen können.“
Evelyn Zupke wirkt jetzt etwas kurz angebunden. Nach drei Tagen andauernden Zuhörens ist sie erschöpft. Auf der Stirn bilden sich Schweißperlen, die Augen blicken müde, sie zieht heftig an ihrer Zigarette, nimmt einen Schluck Kaffee.
„Tausend Eindrücke. Total interessant. Viele Kontakte geknüpft. Man kann das Grauen mit den Händen greifen. Nimmt mich einfach mal sehr mit.“

Zupke kann schon erste Erfolge verbuchen

Vier Monate später, wieder in Berlin. Auf der Büro-Etage der SED-Opferbeauftragten sind Flure und Wände immer noch kahl – von der Bundestagsverwaltung noch nicht freigegeben, heißt es. Evelyn Zupke hadert mit der Bürokratie. Sie kann und will einfach nicht verstehen, warum sie zum Beispiel nur in einer bestimmten Farbe unterschreiben darf. So fern wie der Mond sei ihr das. Da ist sie wieder, die Aufmüpfige.
„Ich glaube, ich muss mit lila unterschreiben, aber ich habe noch keinen lila Stift. Ich füge mich dann. Ich unterschreibe dann auf dem Blatt, mit dem Stift, auf dem anderen Blatt. Ich merke einfach, dass mir solche Dinge sehr fremd sind, dass ich mich eher anstrengen muss, sie einzuhalten und zu befolgen.“
Aber dann ruft sie sich selber zur Ordnung. „Ich bin ja erwachsen, es gibt Wichtigeres,“ sagt Evelyn Zupke und erzählt von ihren Plänen. Die Zwangsarbeit in DDR-Gefängnissen will sie stärker in den Fokus rücken – westdeutsche und europäische Firmen, die davon profitiert hätten, würden sich bis heute wegducken. Evelyn Zupke ist zudem die gesamtdeutsche Perspektive wichtig: die Lage der SED-Opfer müsse bundesweit verbessert werden.
„Millionen sind vor dem Mauerbau und danach in den Westen gegangen. Viele von ihnen sind Opfer geworden gewesen. Die haben zum Beispiel keinen Zugang zu irgendeinem Härtefallfonds. Also da besteht auf jeden Fall Handlungsbedarf.“
Doch nach nur einem halben Jahr im Amt kann die SED-Opferbeauftragte bereits erste Erfolge vorweisen. Die neue Bundesregierung verspricht in ihrem Koalitionsvertrag, die SED-Opferrente zu erhöhen, bei den Hilfen für gesundheitliche Folgeschäden nachzubessern sowie den von Zupke geforderten bundesweiten Härtefallfonds einzurichten. Die Aufmüpfige von der Insel Rügen will jetzt noch Tempo bei der Umsetzung eines Bundestagsbeschlusses machen: es geht um das Denkmal für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft. Am 17. Juni 2023, dem 70. Jahrestag des Volksaufstands in der DDR solle der Grundstein gelegt werden – fordert Evelyn Zupke, die erste Bundesbeauftragte für die SED-Opfer.