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Eingriff ins Hirn
Die Wirkung tiefer Elektroden auf die Psyche

Durch ein Loch im Schädel gibt ein Draht kleine Stromstöße ans Hirngewebe ab - mit dieser Methode werden bereits seit etwa zehn Jahren psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Zwangsstörungen behandelt. Nun gehen Mediziner dazu über, den Eingriff auch bei anderen Erkrankungen zu erproben, zum Beispiel bei Alzheimer oder Chorea Huntington.

Von Kristin Raabe | 01.03.2015
    Computergrafik des menschlichen Gehirns von hinten.
    Die Computersimulation eines Gehirns. Steigert die sogenannte tiefe Hirnstimulation etwa die Gedächtnisleistung? (imago/Science Photo Library)
    "Damals in der Schule hatte ich sehr starke Ängste vor einem Lehrer und auch totale Angst, dass ich irgendwas falsch machen könnte, und dann habe ich angefangen, Regeln in ein Buch zu schreiben, die mir helfen, damit ich zurechtkomme."
    Christina Gerald ist 36 Jahre und lebt schon seit über 20 Jahren mit einem Grübelzwang.
    "Das konnten irgendwelche Gedanken sein: 'Dir wird nichts passieren. Es ist nicht schlimm, wenn du Fehler machst.' Und das musste ich immer wieder wiederholen. Das Buch war also voller Regeln, die immer wieder dasselbe besagt haben, aber mein Gefühl im Kopf hat immer wieder gesagt, du musst das immer wieder erklären, damit diese Angst runtergeht."
    Lange sucht sie nach einem Weg, dieses quälende 'Gefühl in ihrem Kopf" abzustellen.
    Eingriff ins Hirn. Die Wirkung tiefer Elektroden auf die Psyche
    Von Kristin Raabe
    Psychische Krankheiten entstehen im Kopf und lassen sich durch Eingriffe dort auch beheben – die Idee stammt aus dem letzten Jahrhundert. Einer der Pioniere António Egas Moniz:
    "Es ist notwendig, die synaptischen Einrichtungen zu verändern (...), damit die entsprechenden Gedanken in andere Kanäle gedrängt werden. Aus diesem Grund entschied ich mich nach zweijähriger Überlegung, die verbindenden Fasern der in Frage kommenden Neuronen zu durchschneiden."
    "Ich werde Ihnen heute erzählen, wie wir an den Stellschrauben in den Netzwerken des Gehirns drehen können, um so einzelne Bereiche des Gehirns hoch oder runter zu regulieren, um unseren Patienten zu helfen"
    Diese Aussage machte Andres Lozano im April 2013, bei einer TED-Konferenz. Lozanos Fachgebiet ist die Tiefe Hirnstimulation.
    "Ich werde ihnen also nun erzählen, wie wir Elektroden implantieren. Wir nennen dieses Verfahren tiefe Hirnstimulation. Wir machen zwei 5 Cent große Löcher in den Schädel und können die Elektrode dann überall im Gehirn platzieren. Unter der Haut verläuft der Strang der Elektrode bis zu einem Schrittmacher. Für den gibt es eine Fernsteuerung, ähnlich wie die für einen Fernseher. Wir können dann einstellen, wie viel Strom wir in diese Hirnareale schicken, ob wir sie rauf- oder runterregulieren wollen, sie an- oder abstellen."
    Mit Stromstößen Teile des Gehirns regulieren, sie an- oder abstellen – das klingt gewagt. Eindeutig erwiesen ist ein guter Behandlungserfolg mit tiefen Hirnelektroden bislang nur bei Parkinsonpatienten. Andres Lozano und einige seiner Kollegen behandeln seit etwa zehn Jahren aber auch psychisch Kranke.In Deutschland gehört der Psychiater Thomas Schläpfer zu den wenigen Ärzten, die Erfahrung mit der Methode haben.
    "Ganz viele Kollegen erschrecken natürlich, wenn sie hören, Elektroden ins Gehirn stecken, Löcher in den Schädel bohren und dann kommen so ganz ungute Gedanken auf an die alte Zeit der chirurgischen Interventionen in der Psychiatrie, an die sogenannte Leukotomie. Ein schreckliches und dunkles Kapitel in der Psychiatrie."
    Der Höhenflug der Psychochirurgie begann am 12. November 1935. Der Neurochirurg Almeida Lima durchtrennte in einer etwa 30-minütigen Operation das Hirngewebe zwischen dem sogenannten Thalamus und dem Stirnhirn einer psychisch auffälligen Patientin. Er handelte nach den genauen Vorgaben des Neurologen und Psychiaters António Egas Moniz. Dieser beschreibt das Operationsergebnis einige Tage später:
    "Ihr Zustand hat sich sehr verbessert. Sie weint nur noch selten und mit geringerer Intensität. Auch ihre Angst ist gewichen."
    Bis in die jüngste Vergangenheit unterzogen Ärzte Kranke und Aufmüpfige dieser drastischen Therapie. Die Betroffenen bezahlten einen hohen Preis: Verspürten kaum noch Emotionen und waren oft in ihrer geistigen Leistungsfähigkeit eingeschränkt.
    "Heute ist das etwas ganz anderes. Wir machen hypothesengeleitete Forschung, wir überlegen uns, warum wir was machen und in der Tat ist diese tiefe Hirnstimulation ein erstaunlich nebenwirkungsarmes Verfahren."
    Grübelzwang in unerträglichen Ausmaßen
    Neurochirurgen klären ihre Patienten vor dem Einsetzen der Elektroden über mögliche Risiken auf. Bei der Operation treten in weniger als einem Prozent der Fälle Komplikationen auf. Auch wenn sie nur sehr selten vorkommen: Die Folgen sind meist ernst. Die Verletzung eines Blutgefäßes im Gehirn beispielsweise verursacht Blutungen, die zu schweren Hirnschäden führen können. In der Regel entscheiden sich deswegen nur Patienten, die massiv unter ihrer Krankheit leiden, für eine Operation.
    Bei Christina nimmt mit den Jahren der Grübelzwang unerträgliche Ausmaße an. Sie verbringt schließlich 90 Prozent des Tages damit, über das Altern, den Tod, das Leben nachzudenken, wobei sie immer wieder den Zwang verspürt, Gegengedanken aufzubauen:
    "Das löst Depressionen aus, schwerste Depressionen, Panikattacken, sodass man teilweise in schweren Situationen nicht mehr rausgehen kann, nicht mehr einkaufen, nicht zum Bäcker. Die Uni musste ich auch ... mich beurlauben lassen, ich bin auch nicht zurückgekehrt hinterher, weil für mich auch die sozialen Kontakte sehr schwierig waren. Also es nimmt eigentlich fast jeden Lebensbereich ein."
    Eine verzweifelte junge Frau hockt auf einem Bett. Im Vordergrund: Tabletten. 
    "… sodass man teilweise in schweren Situationen nicht mehr rausgehen kann." (picture-alliance/ dpa - Maxppp Bertrand Bechard)
    Schließlich stößt sie auf die neue Therapie:
    "Vor ungefähr zehn Jahren war ich auf dem Deutschen Kongress für Zwangserkrankungen und da habe ich den Herrn Dr. Sturm sprechen sehen, der das erste mal öffentlich davon erzählt hat, von der Möglichkeit, eine tiefe Hirnstimulation durchführen zu lassen, bei Menschen, die absolut therapieresistent sind. Vorher hatte ich noch nie davon gehört. Ich fand es aber sehr interessant und habe gedacht, irgendwann, wenn du wirklich alles gemacht hast und es geht gar nichts, dann ist das eine Hoffnung."
    Zwanzig Prozent aller Patienten, die wiederholt depressive Episoden haben, bringen sich um. Hier scheint auch ein riskanter Eingriff gerechtfertigt. Thomas Schläpfer:
    "Sie können mit der Krankheit nicht mehr weiterleben und gehen den schweren Schritt, dass sie sich selber das Leben nehmen. Depression ist in der Tat eine Krankheit, die häufig tödlich verläuft."
    Bei einer Depression ist die Aktivität verschiedener Hirnareale verändert. Es lassen sich mit der Stimulation in einem nur wenige Quadratmillimeter großen Gebiet höchstwahrscheinlich kaum alle Symptome der Depression lindern.
    "Das, was unsere Forschungsgruppe seit vielen Jahren macht, ist der Idee nachzugehen, dass das Hauptsymptom der Depression die sogenannte Anhedonie ist, die Unfähigkeit, Freude zu empfinden bei Dingen, die früher Freude gemacht haben. Wenn ich Ihnen ein Beispiel geben kann: Jemand ist Fußballfan, schaut sich begeistert Bundesligaspiele an, hat Freude daran. In der Depression kann er nach wie vor diese Spiele anschauen, also die Fähigkeit ist nicht beeinträchtigt, aber sie machen absolut keine Freude mehr, das läuft an ihm vorbei, wie ein Film, der ihn nicht betrifft. Das nennen wir dann eben Anhedonie."
    Die Bonner Neurochirurgen implantierten die Elektroden im sogenannten Nucleus Accumbens. Dieser Hirnteil liegt tief innen im vorderen Teil des Gehirns und gilt als eine Art Belohnungssystem. Die Fähigkeit, Freude zu empfinden wird ganz zentral diesem Hirngebiet zugeschrieben. Bei einem Teil der so behandelten Patienten bewirkten die Impulse der Elektroden tatsächlich eine deutliche Verbesserung:
    "Wir sprechen von einer sogenannten Respons, von einem Ansprechen, wenn die Ausgangssymptome um 50 Prozent zurückgehen. Wir können depressive Symptome messen, mit einer allgemein akzeptierten Messskala. Und wenn sie sagen 50 Prozent, das ist relativ wenig, dann muss ich sagen, bei diesen Patienten ist es relativ viel. Das bedeutet eine komplette Änderung des Lebens, weil sie wieder normal funktionieren können, weil diese Ausgangssymptomatik zurückgeht. Und wir haben gezeigt, dass bei etwa 50 bis 60 Prozent der Patienten dieses Ansprechen auftritt."
    Um noch bessere Ergebnisse zu erzielen, musste Schläpfer das Zielgebiet der Elektroden weiter optimieren:
    "Wir haben uns dann das Belohnungssystem genau angeschaut, wie das strukturiert ist und haben gesehen, dass das mediale Vorderhirnbündel, das ist eine ganz, ganz wichtige Faserstruktur, die vom tiefen Hirn zum Vorderhirn zieht, dass das eigentlich der Hauptbestandteil des Belohnungssystems ist und haben uns dann überlegt, wenn wir tiefer an den Ursprung dieses Systems gehen, könnten wir bessere Resultate haben."
    Keine Hinweise auf Nebenwirkungen
    Ob diese Theorie tatsächlich stimmt, überprüfte der Psychiater in einer Pilotstudie. Die Ergebnisse veröffentlichte er im August 2013.
    "In der Tat haben sieben von diesen acht Patienten erstaunlich stark auch - was noch viel verwunderlicher ist - erstaunlich schnell angesprochen. Innerhalb von wenigen Tagen haben die respondiert. Und das ist ein ausgesprochen eindrückliches und unerwartetes Resultat."
    Schon eine minimale Veränderung des Zielpunktes im Gehirn kann also die Wirkung der tiefen Hirnstimulation extrem verbessern. Weltweit sind in den letzten 10 Jahren etwa 200 Patienten mit einer schweren Depression mit tiefen Hirnelektroden behandelt worden. Insgesamt drei verschiedene Zielpunkte im Gehirn haben die Mediziner bei diesen Studien ausgewählt. Nicht immer sind die Ergebnisse so überzeugend wie in der Bonner Studie. Hinweise auf Nebenwirkungen finden sich dagegen nirgends. Was allerdings auch an den relativ niedrigen Behandlungszahlen liegen könnte.
    "Wir sind trotz zehn Jahren Forschung ganz am Anfang dieses Weges, aber der Weg ist ausgesprochen vielversprechend. Niemand hat erwartet, dass diese Behandlung eine so gute Wirkung haben könnte."
    "Ich habe alle Medikamente ausprobiert, die man nehmen könnte und ich habe mich auch immer total bemüht in den Therapien, Dinge auszuprobieren und hatte immer Hoffnungen, dass es irgendwann auch klappt. ...Aber es wurde einfach immer mehr."
    Tatsächlich scheint die tiefe Hirnstimulation Christinas letzte Option zu sein. Sie fährt schließlich nach Köln, um abklären zu lassen, ob sie für diese Behandlungsmethode in Frage kommt.
    "Ich habe mit Menschen darüber gesprochen, mit Freunden, Familie. Es gab viele, die sagten "Was, du kannst dich doch nicht am Gehirn operieren lassen, da kann doch alles Mögliche passieren" – aber ich muss sagen, ich habe die ganze Zeit mich daran festgehalten und mich nicht davon abbringen lassen. Aber ich war doch froh, als dann endlich der Termin da war und ich in die Klinik nach Köln kommen konnte. "
    "Ich versuche auch immer den Patienten zu erklären, die tiefe Hirnstimulation stellt auch ein therapeutisches Verfahren dar, wie Psychotherapie, wie Medikation, es hat seine Grenzen, es hat aber gewisse Vorteile, die die anderen beiden Verfahren nicht haben, weil es sehr, sehr fokussiert an speziellen Regionen des Gehirns eingreifen kann, weil es chronisch vorhanden ist. Es wird ja chronisch stimuliert. Und es kann dann, wenn es ideal klappt, eine sehr, sehr effektive Maßnahme sein."
    Jens Kuhn ist einer der Ärzte, die Christina an der Uniklinik Köln behandelt haben. Nur in schweren Fällen von Zwangserkrankungen, wenn keine andere Therapie anschlägt, rät der Neurologe und Psychiater zur tiefen Hirnstimulation. Ähnlich wie zunächst die Bonner Psychiater bei den depressiven Patienten, wählten auch die Kölner den sogenannten Nucleus Accumbens als Zielpunkt für die Elektroden.
    "Es scheint auch eine Struktur zu sein, die so eine gewisse Funktion hat in der Sortierung von Informationen, die für Bewegungsinitiierung für Verhalten, für Verhaltensfunktionen – all das ist ja bei Patienten mit einer Zwangsstörung nicht so, wie wir es erwarten. Es wird ja einfach viel, viel mehr Energie auf die Ausführung von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen verwendet und so ist der Hintergedanke jetzt sehr, sehr vereinfacht dargestellt, dass man durch eine Modulation im Bereich dieser Struktur, das ein bisschen abmildern kann."
    Was die kurzen Stromstöße tatsächlich auslösen, verstehen Mediziner bislang noch nicht vollständig. Vermutlich werden einige Netzwerke von Nervenzellen gehemmt, andere aktiviert. In jeder Hirnhälfte sitzen mehrere Elektroden im Nucleus accumbens, für jede Elektrode kann der Strom und die Frequenz der Impulse variiert werden. Herauszufinden welche Einstellung für welchen Patienten am besten ist, dauert oft Monate. Die Ergebnisse sind dann allerdings häufig zufriedenstellend:
    "Man spricht eben bei der Zwangsstörung von einem vollen Ansprechen auf die Therapie, dann, wenn sich die Symptomatik, um mindestens 35 Prozent verbessert hat. Man weiß, die Zwangsstörung ist eigentlich eine chronische Erkrankung und da stellt eine über 35-prozentige Verbesserung eine relevante Erleichterung für die Patienten dar. Sie haben doch noch Restsymptome, aber trotzdem hat sich die Lebensqualität entsprechend verbessert."
    Von Krankenkassen neuerdings anerkannt
    Nach anfänglicher Euphorie mussten Ärzte und Patienten ihre Erwartungen an die tiefe Hirnstimulation zurückstufen. Etwa Dreiviertel der so behandelten Patienten erfährt eine Besserung der Symptome um 25 bis 35 Prozent. Das bedeutet, dass sie mehrere Stunden am Tag frei von ihren Zwängen sind und dadurch in der Lage sind, Alltagstätigkeiten auszuführen oder Therapeuten aufzusuchen. Der amerikanische Arzt Benjamin Greenberg von der Brown Universität hat etliche Daten von Patienten ausgewertet und präsentiert seine Ergebnisse immer wieder auf Kongressen: Die Besserung halte auch noch Jahre nach der Implantation an, so Greenberg. Anders als bei manchen Medikamenten tritt also kein Gewöhnungseffekt ein. Aus schwer betroffenen Patienten könnten durchschnittliche Zwangskranke werden, die endlich in der Lage seien, an einer Psychotherapie teilzunehmen. Doch leider sehen manche Therapeuten die Sache ganz anders:
    "Es gibt gerade auch in der psychiatrischen Gemeinschaft noch sehr große Skeptiker gegenüber diesen Verfahren und da scheint die Skepsis so groß zu sein, dass man dann sagt, nein wenn man sich darauf eingelassen hat, dann sehe ich keine Chance, Ihnen noch weiter zu helfen. Und das ist eben sehr, sehr schade, weil ich glaube, dass es eben eher noch ein komplementärer Ansatz sein sollte."
    Seit kurzem wird die Behandlung von therapieresistenten Zwangsstörungen mit der Tiefen Hirnstimulation von den Krankenkassen anerkannt. Nun fehlt also nur noch die Anerkennung durch die Therapeuten.
    "Mir ging es sehr schlecht während dieser OP-Zeit und auch an dem Tag, als ich dann wieder in die Psychiatrie kam, also ich muss sagen, meine Zwänge sind absolut explodiert nochmal, seitdem ich wusste, dass ich die OP machen werde. Ich kann nur spekulieren, dass diese Richtung des Zwangs, der in mir ist, befürchtet hat, dass ich ihn jetzt ausmerzen will sozusagen – und dadurch immer nochmal stärker geworden ist."
    "Ich hatte also überhaupt keine Erwartungen. Was mich dann total überrascht hat: nachdem dieser Stimulator eingestellt wurde, hatte ich innerhalb von einer Viertelstunde eine bessere Stimmung. Das heißt abends noch komplett depressiv, schlimmste Zwänge gehabt und dann auf einmal saß ich da mit Mitpatienten und es ging mir besser."
    Durch Tiefe Hirnstimulation klüger werden?
    Die Stimmung von Christina hat sich durch die tiefe Hirnstimulation verbessert, und ihre Zwänge beherrschen sie nicht mehr. Völlig verschwunden sind sie allerdings nicht.
    "Also es ist nicht so, da ist einfach die OP und dann sind die Zwänge weg, sondern da muss ich nochmal richtig mit meiner Verhaltenstherapeutin gucken, welchen Weg ich jetzt vielleicht gehe, was ich vorher nicht schaffte, um mit den Zwängen besser zurechtzukommen."
    "Can we use deep brain stimulation to make you smarter? Anybody interested in that?
    Andres Lozana mag provokante Äußerungen. Können wir die tiefe Hirnstimulation benutzen, um Sie schlauer zu machen?, fragt er sein Publikum. Klar können wir das, beantwortet er schließlich seine eigene Frage. Tatsächlich hat der Kanadier bereits fünf Jahre zuvor den Beweis erbracht, dass die Methode im Gehirn nicht immer das bewirkt, was beabsichtigt war:
    Auf dem OP-Tisch im kanadischen Toronto liegt ein 190 Kilogramm schwerer Mann, der wegen seiner lebensbedrohlichen Esssucht mit tiefen Hirnelektroden behandelt werden soll. Doch etwas anderes geschieht: Als der Strom eingeschaltet wird, beginnt für ihn eine Zeitreise. Er erlebt einen 30 Jahre zurückliegenden Parkspaziergang und kann den überraschten Ärzten sogar die Details der Kleidung seiner Begleiter beschreiben. Die elektrischen Impulse förderten offensichtlich die Gedächtnisleistung des Patienten. Und die Intelligenz. In den Wochen nach der OP durchläuft er immer neue Tests. Sein IQ verbessert sich durch die Stimulation um 9 Punkte von 125 auf 134. In speziellen Gedächtnistests erreicht er mit abgeschalteten Elektroden 40 Punkte, ist der Hirnstimulator angeschaltet, 70.
    Noch nie zuvor war es gelungen, durch eine Behandlung die geistige Leistungsfähigkeit eines Menschen innerhalb kürzester Zeit so dramatisch zu steigern.Das brachte Andres Lozano auf die Idee, auch Alzheimerpatienten mit der tiefen Hirnstimulation zu behandeln. In einer Pilotstudie konnte er keinen durchschlagenden Erfolg erzielen – aber immerhin gab es Hinweise auf eine leichte Besserung. Inzwischen hat auch der Psychiater Jens Kuhn von der Universitätsklinik Köln begonnen, Alzheimer Patienten zu behandeln.
    "Es gab Hinweise, dass es vielleicht helfen könnte. Aber wir müssen dabei auch zwei Formen von Nutzen unterscheiden. Einerseits vielleicht einen akuten Nutzen, der so ein bisschen die Leistungsfähigkeit des Gehirns akut verbessert, wir sind aber eigentlich viel mehr daran interessiert zu erfahren, hilft das Verfahren vielleicht auch dabei, das Voranschreiten der Erkrankung zu beeinflussen, das ist ja eigentlich das, was wir wollen. Da gibt es bisher keine ausreichenden Beweise dafür, dass es gelingt, aber vielleicht so erste Indizien und Hoffnungsschimmer."
    Bei Alzheimerpatienten bilden sich Eiweißablagerungen im Gehirn, die nach und nach zum Absterben von Nervenzellen führen. Dass die tiefe Hirnstimulation diesen komplexen Krankheitsprozess tatsächlich positiv beeinflussen könnte, ist durchaus plausibel:
    "Einerseits könnte man sich vorstellen, dass durch eine Stimulation Nervenzellen angeregt werden, die sogenannte Nervenwachstumsfaktoren bilden, die ein Gegengewicht zu dem Abbauprozess bei degenerativen Erkrankungen wie der Demenz darstellen könnten. Das wäre eine Möglichkeit, die sehr einfach zu erklären ist."
    Denkbar wäre auch, dass eine Art Müllabfuhr in den Hirnzellen aktiviert wird, die den Proteinmüll abtransportiert und vernichtet.
    Jens Kuhn entschied sich, in den sogenannten Nucleus Basalis Meynert einzugreifen. Das ist ein Bündel von Nervenzellen, deren Fortsätze Signale in die Großhirnrinde senden und die den Botenstoff Acetylcholin produzieren. Es gibt einige Belege dafür, dass der Nucleus Basalis Meynert bei Alzheimerpatienten nicht mehr richtig funktioniert.
    "In dieser Pilotstudie wurden sechs Patienten behandelt und vier Patienten waren über das erste Behandlungsjahr relativ stabil, was einen Hoffnungsschimmer darstellt, zwei Patienten haben sich allerdings auch verschlechtert. Es kann auch sein, dass dieser Weg sich, wie viele medikamentöse Ansätze, als nicht zielführend erweist, aber die ersten Indizien haben uns zumindest ermutigt, das weiter zu untersuchen."
    Was genau bewerkstelligen die Elektroden im Signalfeuerwerk der Nervennetze? Und wie weit reicht ihr Einfluss?
    Am Universitätsklinikum Düsseldorf behandelt Lars Wojtecki schon seit vielen Jahren Parkinson-Patienten mit der tiefen Hirnstimulation. Unter ähnlichen Bewegungsstörungen leiden auch seine Patienten mit Veitstanz, einer Erbkrankheit, die Mediziner heute Chorea Huntington nennen. Die kämpfen jedoch zusätzlich mit Veränderungen im Verhalten und in der Kognition. Für Wojtecki stellte sich die Frage: Kann die tiefe Hirnstimulation ihnen womöglich doppelt helfen?
    "Haben wir ein sicheres Verfahren, das die Bewegungen verbessert und die Kognition unbeeinflusst lässt oder haben wir vielleicht sogar ein Stimulationsverfahren vor uns, das sogar positive Wirkung auf kognitive Aspekte haben kann. "
    Die erste Herausforderung für den Neurologen bestand darin, ein geeignetes Zielgebiet im Gehirn zu finden. Er wählte das äußere Pallidum. Ob sein Konzept aufging, untersuchte Wojtecki zunächst an zwei Huntington-Patienten mit einer ganzen Batterie von Tests. Eine deutliche Verbesserung konnte er allerdings nur in einem davon feststellen:
    "Man muss sich das einfach so vorstellen: Es werden Pfeile auf dem Monitor dargestellt und der Patient muss sagen, ist dieser eine Pfeil in dieselbe Richtung wie der danebenliegende Pfeil. Also eine prinzipiell ganz einfache Aufgabe, die Aufgabe hat aber eine ganz entscheidende Zusatzfunktion. Wir wollten schauen, wie schnell reagieren Patienten, wenn sie einen Fehler gemacht haben. Diese Situation muss man sich folgendermaßen vorstellen, sie machen eine Handlung und merken im Nachhinein, ich habe mich da vertan und dann werden sie automatisch bei der nächsten Handlung langsamer, das nennt sich Post-Error-Slowing, also die Verlangsamung nach einem Fehler. Und das ist das Maß unserer Handlungskontrolle. Also das Gehirn sagt, stopp, da habe ich etwas falsch gemacht und jetzt vorsichtiger."
    Dieses Verlangsamen funktioniert bei Huntington-Patienten nicht mehr. Dadurch machen sie bei diesem Test normalerweise mehr Fehler als gesunde Versuchspersonen. Ob die Elektrodenimpulse im äußeren Teil des Pallidums tatsächlich etwas daran ändern würden, war mehr als fraglich. Vom Ergebnis war Lars Wojtecki dann selbst überrascht.
    "Da war es tatsächlich so, dass die Patienten mit angestelltem Stimulator noch besser waren als gesunde Kontrollen. Sogar dass wir sogar ein Neuroenhancement, also eine Verbesserung der kogntiven Leistung gefunden haben."
    Stellte der Neurologe den Stimulator wieder aus, waren die Huntington- Patienten in dem Test wieder deutlich schlechter als gesunde Testpersonen. Feuerten die Elektroden im Gehirn erneut ihre Impulse ab, schnitten die Kranken wieder besser ab als die Gesunden. Lars Wojtecki war mit der tiefen Hirnstimulation nicht nur eine Korrektur gelungen. Er hatte die Leistung seiner Patienten sogar über das normale Maß hinaus verbessern können. So etwas nennen Forscher Neuroenhancement.
    Auf einer internationalen Neurochirurgie-Konferenz in Hannover äußerte sich Andres Lozano schon 2010 zu diesem Thema. Eine Tonaufnahme gibt es davon leider nicht.
    "Wir müssen damit rechnen, dass in Zukunft auch gesunde Menschen auf uns Neurochirurgen zukommen werden, weil sie mithilfe der tiefen Hirnstimulation ihre geistige Leistungsfähigkeit verbessern wollen."
    Und auch deutsche Mediziner fragen sich, wie sie mit solchen Anfragen umgehen sollen. Thomas Schläpfer hat mit einigen Kollegen, Ethikern und Juristen Richtlinien für den Umgang mit der Tiefen Hirnstimulation entwickelt.
    "Als Arzt ist es nicht meine Aufgabe, dieses Neuroenhancement bei gesunden Menschen zu erforschen. Ich halte es allerdings für prinzipiell möglich und ich denke auch, dass es einmal kommen wird. Es ist nicht meine Absicht, bei dieser Entwicklung zu helfen. Aber wir sind jetzt in einer Zeit, wo wir als Gesellschaft überlegen müssen, bei welchen Menschen machen wir das? Welche Regeln stellen wir auf? Das sind ganz interessante Fragen, die wir uns stellen müssen."
    Die tiefe Hirnstimulation kann die Psyche und die kognitive Leistungsfähigkeit eines Menschen verändern – das ist ihre Stärke, birgt aber auch Gefahren, die sich heute mangels Daten schwer abschätzen lassen.
    "In der Tat gibt es von der tiefen Hirnstimulation bei der parkinsonschen Erkrankung Erfahrungen von Persönlichkeitsveränderungen in Richtung vermehrte Impulsivität, mehr Risiko, dass Patienten vielleicht beginnen, Zigaretten zu rauchen. Bei den Patienten, die wegen Depression stimuliert wurden, hat man so etwas nicht gesehen."
    "Mir ist auch aufgefallen, dass ich wütender bin. Das heißt im Zwang habe ich eigentlich immer nur Gefühle von Angst gehabt. Und jetzt bin ich wütend, wenn mein Partner was liegengelassen hat oder so."
    Christina kennt die Berichte von Persönlichkeitsveränderungen nach der tiefen Hirnstimulation. Sie hat nach der Operation genau auf ihr Verhalten geachtet.
    "Es sind nur Kleinigkeiten, aber ich bin schneller genervt. Aber da denke ich auch, dass die Zwänge sonst solche Gefühle auch wegmachen und deswegen das jetzt vielleicht mehr da ist."
    "Selbstverständlich verändert sich etwas bei diesen Patienten, und das sind auch Aspekte der Persönlichkeit, Kognition und Emotion sind ganz klar Aspekte der Persönlichkeit. Jede wirksame psychiatrische Therapie muss genau diese Zielvariablen verändern, sonst ist sie nicht wirksam. Was sich aber überhaupt nicht verändert, ist das Innerste der Persönlichkeit. "
    "Ich habe erst gedacht: 'Wieso bist du jetzt anders irgendwie?' klar - man denkt dann auch, klar die Persönlichkeit ist verändert.... Aber ich habe mich eben auch damit auseinandergesetzt zu überlegen, wie ging es mir früher, wie war ich bevor die Krankheit so stark wurde? Und da habe ich gemerkt, wahrscheinlich bin ich heute mehr so, wie ich in echt wäre, also wie ich ohne Zwänge bin."
    Eingriff ins Gehirn. Die Wirkung tiefer Elektroden auf die Psyche.
    Von Kristin Raabe
    Regie: Claudia Kattanek
    Redaktion: Christiane Knoll