Samstag, 20. April 2024

Archiv

Kanadas Einwanderungspolitik
Harte Auswahl, weiche Landung

Kanada hat seine Grenzen schon in den 1960er-Jahren für Menschen aller Nationalitäten geöffnet: vorausgesetzt, sie bringen die richtigen Qualifikationen mit. Kann dieses System auch ein Vorbild für Deutschland sein?

Von Christina Felschen | 23.11.2021
Kanadische Flagge auf einem Häuserdach
Kanada und Zuwanderung gehören seit vielen Jahrzehnten eng zusammen. Ein Punktesystem sorgt in dem riesigen Land dafür, dass sich dort vor allem gut ausgebildete Menschen niederlassen (picture alliance / ZUMAPRESS.com)
„Wir haben den Platz, wir haben die Jobs. Und ich glaube, dass wir Einwanderer brauchen, damit das Land wachsen kann.“

„Ich bin selbst als Einwanderer aus England nach Kanada gekommen. Das System ist als kompliziert bekannt, aber meine Familie und ich hatten es leicht.“

„Je vielfältiger unsere Bevölkerung ist, desto besser. Denn je mehr wir über etwas wissen, desto weniger Angst haben wir davor.“

Kein anderes Land der Welt nimmt regulär so viele Einwanderer pro Kopf auf wie Kanada: ein Prozent der Bevölkerung allein in diesem Jahr, 400.000 Menschen. Umfragen zufolge sind die meisten Kanadier mit dieser Politik zufrieden. Die einzige rechtspopulistische Partei im Land, die 2018 gegründete People’s Party of Canada, hat es nicht ins Parlament geschafft. Multikulturalismus ist in Kanada offizielle Politik und gesellschaftlicher Konsens. Auch deshalb weckt das kanadische Modell in Deutschland Interesse: Politiker der möglichen künftigen Regierungsparteien SPD, FDP und Grüne haben immer wieder erklärt, dass sie die deutsche Einwanderungspolitik daran ausrichten wollen - angefangen beim Punktesystem für Hochqualifizierte, das CDU und CSU bislang blockierten.

Einführung des Punktesystems im Jahr 1967


Die Kanzlei von Monika Sievers-Redekop liegt in der Innenstadt von Vancouver, im 15. Stock eines Hochhauses, mit Blick auf den Pazifik und nebelverhangene Berge. Die gebürtige Hamburgerin ist Anwältin für Einwanderungsrecht. Bei ihr rufen täglich Menschen an, die über das Punktesystem nach Kanada einwandern wollen. Doch sie müssen strenge Kriterien erfüllen; Redekop zählt auf, wen die Regierung sucht.

„Möglichst junge Leute, möglichst ein PhD, ein Master oder vielleicht auch zwei Master wären sehr hilfreich und eben ein sehr gutes Englischergebnis. Und hoffentlich auch noch Französischkenntnisse. Es wäre auch noch gut, wenn sie hier einen Verwandten hätten und möglichst noch ein Jahr Berufserfahrung in Kanada. Dann würde ich sofort sagen: „Okay, wir können sofort anfangen, es geht los.“

Wer nach diesen Kriterien mindestens 67 von 100 Punkten erreicht, kommt in den sogenannten Express Entry-Pool. Dort kann man in einer zweiten Runde maximal 1.200 Punkte erhalten. Dabei achtet die Regierung auch darauf, wer ein konkretes Arbeitsangebot hat. Die besten Kandidaten werden alle zwei Wochen zu einer Bewerbung aufgefordert - und zwar immer genau so viele, wie die Wirtschaft gerade braucht. Sie bekommen unbefristete Visa für sich selbst, Partner und Kinder und können sich nach drei Jahren einbürgern lassen. Früher ließ Kanada fast ausschließlich Europäerinnen und Europäer einwandern. Das änderte sich mit der Einführung des Punktesystems im Jahr 1967.

„Damals sah sich Kanada mit grundlegenden Herausforderungen bei Gesellschaft und Volkswirtschaft gegenüber konfrontiert, die der Situation in Deutschland nicht ganz unähnlich ist: ein weitreichender demografischer Wandel, zurückgehende Geburtenraten, Arbeitskräftemangel sowie der Druck, die volkswirtschaftliche Innovationsfähigkeit zu erhöhen.“
Skyline von Vancouver
Vancouver: eines der heißbegehrten kanadischen Ballungszentren (imago images/Douglas Williams)

Oliver Schmidtke, gebürtig aus Bremen, ist Professor für Politik und Geschichte an der Universität von Victoria auf Vancouver Island an der kanadischen Westküste; er hat sich mit diesem Paradigmenwechsel beschäftigt.

„Dort hat Kanada gesagt: Wir erfinden uns praktisch neu, weg von der weißen Siedlergesellschaft hin zu einer global orientierten und weltoffenen Immigrationsgesellschaft. Da hat man gesagt: Von nun an versuchen wir Immigranten aus der ganzen Welt nur auf der Grundlage ihrer Qualifikation, nicht ihrer Herkunft anzuziehen. Und das hat dann dazu geführt, dass sich ein Narrativ eingestellt hat, das auf den gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Nutzen von Immigration ganz stark abhebt.“
Kanada, Pass, Ausweis, Flagge, Fahne, Migration, Einwanderung, Immigranten, Zuwanderung, Einwanderungsgesetz
Kanada, Pass, Ausweis, Flagge, Fahne, Migration, Einwanderung, Immigranten, Zuwanderung, Einwanderungsgesetz
Kanada: Ein Land und sein Einwanderungsgesetz
Kanada und Zuwanderung gehören seit vielen Jahrzehnten eng zusammen. Über ein Punktesystem will das riesige Land dafür sorgen, dass vor allem gut ausgebildete Menschen sich dort niederlassen. Dabei ist der kanadische Arbeitsmarkt gerade für Immigranten mit akademischer Bildung problematisch.
Doch so präzise das Punktesystem die Fachkräfte-Lücke füllen soll, so unvorbereitet ist der Arbeitsmarkt in vieler Hinsicht. In einer Umfrage unter Neu-Kanadiern gaben mehr als 50 Prozent an, dass sie einen Job annehmen mussten, für den sie überqualifiziert sind, oder dass sie sogar berufsfremd arbeiten. Ökonomen sprechen von Brain Drain und Brain Waste: Während die Herkunftsländer auf kluge Köpfe verzichten müssen, wird ihr Potenzial in Kanada gar nicht voll genutzt. So erging es auch Vahid Nilforushan. Er gab eine langjährige Stelle als Anästhesist und eine Assistenzprofessur in Teheran auf, um vom Iran nach Kanada zu ziehen. Die Einwanderungsbehörde bewertete ihn mit 80 von 100 Punkten - er war ein begehrter Kandidat und durfte binnen kurzer Zeit mit seiner Familie einwandern. Für seine Zulassung als Arzt in Kanada musste er das klinische Praktikum wiederholen.

„Fünf Jahre lang habe ich mich auf alle verfügbaren Praktikumsstellen in Kanada beworben - im Norden, auf dem Land, in anderen Provinzen - doch ich wurde jedes Mal abgelehnt. Ich weiß bis heute nicht, woran es lag.“

Der Ärzteverband reserviert einen Großteil der Praktikumsstellen für Absolventen von kanadischen und US-amerikanischen Universitäten. Die etwa 1.000 internationalen Ärzte, die jedes Jahr nach Kanada einwandern, müssen um die restlichen Plätze konkurrieren. Jeder Zweite erhält nie einen Platz - und damit auch keine Zulassung. Und das, obwohl die Ärztedichte in Kanada viel geringer ist als etwa in Deutschland und Millionen Kanadier keinen Hausarzt finden.

„Ich kenne mehrere Ärzte, die Taxi fahren oder Essen ausliefern“

„Es verletzt mich sehr, dass ich meinen Beruf nicht ausüben darf. Nachdem die Einwanderungsbehörde uns eingeladen hat, schließt der Ärzteverband uns aus. Ich kenne mehrere Ärzte, die Taxi fahren oder Essen ausliefern.“

Gegen die Schlechterstellung klagt Nilforushan zusammen mit vier anderen Ärzten vor dem Gerichtshof für Menschenrechte von British Columbia; die Entscheidung steht noch aus. Seit der Pandemie denkt er immer öfter darüber nach, in den Iran zurückzukehren, denn dort werden Ärzte dringend gesucht.

Die kanadische Regierung passt ihr Einwanderungssystem laufend an. Ein Manko, das sie aktuell verbessern will, ist die Konzentration der Einwanderer in den Großstädten des Südens: Gut jeder Zweite lässt sich in Toronto, Vancouver und Montréal nieder. In Kleinstädte oder gar in den dünn besiedelten Norden ziehen Neuankömmlinge kaum, obwohl sie gerade dort dringend gebraucht werden.

„Einwandern ist so anstrengend, dass die meisten Leute in den urbanen Zentren hängenbleiben. Dort müssen viele Jobs annehmen, für die sie überqualifiziert sind. Gleichzeitig bleiben gute Stellen drei oder acht Autostunden entfernt unbesetzt. Die meisten Einwanderer wissen nicht einmal, dass es unsere kleineren Städte gibt.“
Charles Cirtwell leitet das Northern Policy Institute in Thunder Bay, 14 Autostunden nordwestlich von Toronto. Seine Denkfabrik hat gerade die erste Runde eines dezentralen Einwanderungsprogramms evaluiert. Das Rural and Northern Immigration Program richtet sich an Menschen, deren formale Qualifikation für das Punktesystem von Express Entry nicht ausreicht.

Elf Kleinstädte in fünf Provinzen nehmen teil, jede hat ihr eigenes Punktesystem entwickelt: Manche gewichten einen Führerschein hoch, andere setzen Erfahrung mit dem Landleben voraus, wieder andere Sprachkenntnisse oder eine bestimmte Ausbildung. Thunder Bay preist sich online als „kleine Stadt der großen Möglichkeiten“ an, dort werden Krankenschwestern, Lkw-Fahrer und Mechaniker gesucht.

„Das Programm stößt auf großes Interesse. Sault Sainte Marie, ein Städtchen an den großen Seen, bekam gleich in den ersten beiden Wochen 2.000 Anfragen. Sie haben nur 100 Familien aufgenommen, hätten aber auch mehr gute Bewerber finden können. Nur eines wissen wir noch nicht: Werden sie bleiben?“
Baustein mit der Aufschrift "Fachkraft"
Baustein mit der Aufschrift "Fachkraft"
Arbeitsmigration: Was bringt das Gesetz zur Fachkräfteeinwanderung?
Pfleger, Handwerker, IT-Spezialisten – zehntausende Fachkräfte fehlen in Deutschland, heißt es aus Wirtschaft und Politik immer wieder. Die Bundesregierung will mit dem Gesetz zur Fachkräfteeinwanderung Abhilfe schaffen. Kann das gelingen?
Wenn Menschen aus aller Welt sich legal als Wirtschaftsmigranten bewerben können, entlastet das auch das Asylsystem, weil sie keine chancenlosen Asylanträge mehr stellen müssen. Das ist ein Grundgedanke des kanadischen Modells, der auch deutsche Politiker interessiert. Doch der offenkundige Rassismus der frühen Jahre ist durch Klassismus ersetzt worden: Gering Qualifizierte haben über das Punktesystem keine Chance und über das Kleinstadtprogramm selten Glück. Ihnen bleibt nur das Temporary Foreign Worker Program. Darüber werden jährlich 80.000 Menschen angeheuert, um Arbeiten zu erledigen, für die sich kaum Kanadier finden lassen - als Erntehelfer, Kindermädchen oder Kassiererinnen. Fay Faraday, Anwältin und Jura-Professorin in Toronto, erforscht seit drei Jahrzehnten die Lebensbedingungen der Gastarbeiter und vertritt sie vor Gericht.

„Dieses Programm bindet Arbeiter an einen bestimmten Arbeitgeber. Sie werden meist schon in ihren Heimatländern durch Einwanderungsberater angeworben, die viel Geld verlangen, ehe sie ihnen Jobangebote schicken - meist acht bis 24 Monatsgehälter in ihren Heimatländern. Wenn sie nach Kanada kommen, sind sie hoch verschuldet.“

Durch diese Schuldknechtschaft seien sie den Arbeitgebern ausgeliefert, sagt Faraday.

„Nach kapitalistischer Logik funktioniere das System perfekt“

„Sie wehren sich nicht gegen Ausbeutung im Job, weil sie ihre Schulden abbezahlen müssen und keine andere Arbeit annehmen dürfen. Wenn sie sich doch mal beschweren, werden sie meist sofort gefeuert und verlieren ihr Aufenthaltsrecht in Kanada. Manche Arbeitgeber rächen sich sogar, indem sie gekündigte Arbeiter der Grenzschutzbehörde melden, die sie abschieben kann.“
Faraday berät die kanadische Regierung und fordert seit Jahrzehnten, Arbeitern und ihren Familien unbefristete Visa zu geben und sie vor Menschenhandel und Ausbeutung zu schützen. Die Grünen und die Sozialdemokraten schließen sich diesen Forderungen an, doch die liberale Regierung hat bisher nichts Wesentliches unternommen. Nach kapitalistischer Logik funktioniere das System perfekt, sagt Faraday; sie sieht darin eine Fortsetzung der rassistischen Einwanderungspolitik, die für Hochqualifizierte 1967 beendet wurde.

„Die Gastarbeiterprogramme für Erntehelfer und Pflegekräfte wurden geschaffen, um die Arbeit von Schwarzen zu nutzen ohne ihnen einen dauerhaften Aufenthaltsstatus zu geben. Die Ausbeutung wird fälschlicherweise oft als Makel des Programms gesehen; dabei dient sie einem Ziel: Unternehmen billige, verlässliche, kontrollierbare Arbeitskräfte zu sichern.“
Ausbildungsmeister Karl Schomaker (l) erklärt dem Spanier Daniel Marín Carmona in einer Werkshalle der Firma Hermann Paus Maschinenfabrik GmbH in Emsbüren (Landkreis Emsland) die Funktionen eines Bergfahrzeugs. Im Kampf gegen den Fachkräftemangel startet das Wirtschaftsbündnis Ems-Achse eine internationale Ausbildungsinitiative.
Ausbildungsmeister Karl Schomaker (l) erklärt dem Spanier Daniel Marín Carmona in einer Werkshalle der Firma Hermann Paus Maschinenfabrik GmbH in Emsbüren (Landkreis Emsland) die Funktionen eines Bergfahrzeugs. Im Kampf gegen den Fachkräftemangel startet das Wirtschaftsbündnis Ems-Achse eine internationale Ausbildungsinitiative.
Migration in den Wahlprogrammen - Teilaspekte Asyl und Flucht werden überbetont
Die Wahlprogramme beschäftigen sich beim Thema Migration zu mindestens 75 Prozent mit den Teilaspekten Flucht und Asyl – dabei machen sie nur circa 10 Prozent der Zuwanderung aus, so das Ergebnis einer Untersuchung des Instituts für Weltwirtschaft (IfW). Welche Rolle spielen andere Migrationsgründe? Ein Überblick.

Strenge Regeln gelten nicht nur für Wirtschaftsmigranten, sondern auch für Asylbewerber. Kanada ist geografisch so isoliert, dass Geflüchtete ohnehin selten auf dem Landweg ankommen - und wenn doch, hält die Regierung sie durch das Safe Third Country-Abkommen mit den USA größtenteils fern. Wie beim europäischen Dublin-Abkommen müssen Geflüchtete schon im ersten sicheren Land, das sie betreten, Asyl beantragen - für Menschen aus Zentralamerika und der Karibik sind das üblicherweise die USA.

Die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Amnesty International kritisieren in einem gemeinsamen Bericht, dass die kanadische Grenzschutzbehörde Einwanderer auf unbestimmte Zeit inhaftiert, wenn sie den Verdacht hat, dass diese untertauchen könnten. Anfang 2020 waren demnach fast 9.000 Menschen in Haft, viele von ihnen jahrelang, und viele in Hochsicherheitsgefängnissen zusammen mit Schwerverbrechern. Oft trifft es Menschen, die an einer Landesgrenze um territoriales Asyl bitten, sagt die Anwältin Hanna Gros, die für den Bericht Betroffene interviewt hat.

„Was ich immer wieder gehört habe war, dass sie nicht verstehen können, warum sie im Gefängnis saßen. Sie hätten in Kanada Sicherheit und ein besseres Leben gesucht und seien nicht darauf vorbereitet gewesen, mit Handschellen begrüßt zu werden.“

Jedes Jahr werden etwa 30.000 Geflüchtete ausgewählt

Doch Kanada schottet sich gegenüber Asylbewerbern keineswegs komplett ab. Jedes Jahr werden etwa 30.000 Geflüchtete ausgewählt, die über das weltweit größte Umsiedlungs-Programm ins Land kommen dürfen. Das Argument für diesen Ansatz: Territoriales Asyl können nur die Fittesten beantragen; alle anderen schaffen es gar nicht bis an eine Landesgrenze und sterben womöglich auf dem Weg. Für die Umsiedlung wählt die Regierung dagegen die Menschen aus, die am dringendsten Schutz brauchen: Familien, Frauen in kritischen Lebenssituationen und Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Identität verfolgt werden. Voraussetzung ist, dass sie vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen anerkannt werden und Sicherheitschecks bestehen. Nur jeder Dritte wird im ersten Jahr von der kanadischen Regierung finanziert. Bei allen anderen springen private Sponsoren ein, die von vornherein große Verantwortung tragen: etwa bei der Auswahl der Geflüchteten.

„Wir haben uns überlegt, auf wie viel Geld wir verzichten können und rechneten aus, dass es für eine Mutter und ein Kind reichen würde.“

Lisa Heiberg und ihr Mann Doug Spencer sitzen unter einem Bob Dylan-Poster in ihrem Haus in Vancouver. Sie waren jahrzehntelang Polizisten, als Rentner suchten sie nach einer neuen Aufgabe. Die Idee, Menschen, die auf der Flucht sind, ein Leben in Kanada zu ermöglichen, überzeugte sie. Zumal das Sponsoring nicht teurer sei als ein „netter Familienurlaub“, wie Lisa Heiberg sagt: in ihrem Fall etwa 17.000 kanadische Dollar, 12.000 Euro.

„Menschenleben, die du verändern wirst – oder auch nicht“

„Wir bekamen eine Liste mit Namen von Bewerbern und einigen Infos über sie. Einige brauchten Traumaberatung, andere hatten ein Kind mit besonderem Förderbedarf - das konnten wir nicht leisten. Am Ende blieben zwei Familien übrig: eine Syrerin mit einem Kleinkind und eine Somalierin mit zwei Teenager-Töchtern. Du schaust auf diesen Zettel und dir wird klar, dass es um Menschenleben geht, die du verändern wirst - oder auch nicht. Wir mussten diese Entscheidung treffen, aber wie macht man das?“

Lisa Heiberg unterbricht kurz das Gespräch. Der Gedanke an die andere Familie - die, die sie nicht fördern konnte - geht ihr nahe. Syrien oder Somalia? Sie hatte versucht, rational zu entscheiden. Den Teenager-Töchtern blieb nicht mehr viel Zeit für eine gute Schulbildung, dachte sie, und ein Kind mehr zu finanzieren, würde ihnen nicht wehtun. Es klingelt, Heiberg verschwindet und kommt mit drei Frauen wieder. Sie tragen geblümte Kopftücher, Wintermäntel und eine Platte mit gefüllten Teigtaschen. Die Heibergs weihen an diesem Abend ihr neues Haus ein und „ihre“ Neuankömmlinge feiern selbstverständlich mit.

Sahara, Amina und Asma Mohamed waren vor dem Bürgerkrieg in Somalia geflohen und lebten jahrelang in einem Flüchtlingslager in Uganda. Auf die Umsiedlungs-Liste der Vereinten Nationen schafften sie es nur, weil die 18-jährige Amina unter unerklärlichen Kopfschmerzen litt.

„Normale, ganz einfache Menschen verändern die Welt“

„Die Krankenhäuser in Uganda waren unbezahlbar, deshalb hat meine Schwester nie Medikamente bekommen. Wegen der Schmerzen konnte sie oft monatelang nicht zur Schule gehen. Erst in Kanada wurde ihr Kopf untersucht - die Ärzte fanden einen Hirntumor. Jetzt bekommt sie Medikamente und wir gehen endlich wieder zusammen zur Schule.“

Seit einem Jahr sind die Mohameds jetzt in Kanada. Ein Jahr, in dem Lisa Heiberg und Doug Spencer ihnen halfen, Arzttermine zu organisieren, eine Wohnung zu finden und sich im Alltag zu orientieren.

„Ich erzähle Leuten von dem Programm und sie sind begeistert. Die Freunde meiner Schwester haben Computer gestiftet und jetzt sogar die Flüge von Uganda nach Kanada bezahlt, für die Sahara einen Kredit aufgenommen hatte.“

Iris Challoner von der Organisation Mosaic koordiniert das Programm in Vancouver. Als sie selbst vor fast vierzig Jahren aus Deutschland nach Kanada kam, wurde das Programm gerade aufgelegt. Seither habe es Hunderttausenden Geflüchteten einen guten Start verschafft und überall im Land Zusammenhalt gestiftet, sagt Challoner.   

„Normale, ganz einfache Menschen verändern die Welt, wenn wir einander kennenlernen. Die sind nicht mehr „diese Flüchtlinge“ dort drüben. Das sind meine Freunde, meine Bekannten. Und wenn ich jetzt zu meinem Zahnarzt gehe, der sagt mir: „Ich bin mal als privater refugee nach Kanada gekommen.“ Mein Schwiegersohn - seine Eltern sind als private refugees nach Kanada gekommen. Es verändert unsere ganze Gesellschaft und das ist das Beste, was einem Land passieren kann.“