Dienstag, 07. Mai 2024

Archiv

Erdbeben in Nepal
"Es könnte zu Epidemien kommen"

Nach dem schweren Erdbeben in Nepal gebe es bislang noch "keine Unterstützung von staatlichen Akteuren", kritisierte Felix Neuhaus, Nothilfekoordinator der AWO in Kathmandu. Da auch die Trinkwasserversorgung nicht geregelt sei, seien Epidemien zu befürchten, warnte Neuhaus im DLF.

Felix Neuhaus im Gespräch mit Sandra Schulz | 27.04.2015
    Eine Gruppe Menschen steht verängstigt in einer Straße in Kathmandu.
    Die meisten Menschen in Nepal müssten ohne Schutz die Nächte überstehen, berichtete Felix Neuhaus, der Nothilfekoordinator der AWO in Kathmandu. (picture alliance / dpa / Narendra Shrestha)
    Auf den Straßen herrsche allgemeines Chaos, besonders schlimm sei jedoch die Situation in den Dörfern, "wo bis zu 100 Prozent der gesamten Bausubstanz zusammengefallen ist", erklärte der Nothilfekoordinator im Interview mit dem Deutschlandfunk. Die Menschen müssten ohne Schutz die Nächte überstehen, seien "auf sich allein gestellt und desinformiert". Verpflegung erhielten sie überwiegend durch Selbsthilfe aus der Zivilgesellschaft.
    Auch die Hilfsarbeiten liefen bislang "relativ unkoordiniert", unterstrich Neuhaus. Die AWO wolle daher "Hilfe direkt zu den Betroffenen bringen" und plane zurzeit Nothilfe im Bereich Ernährung und Schutz durch Zelte oder Planen. Vor allem stillende Mütter und Kleinkinder bekämen "überhaupt keine Unterstützung", so Neuhaus.
    Internationale Hilfe angelaufen
    Nach dem schweren Erdbeben im Himalaya ist die internationale Hilfe angelaufen. Für heute sind auch aus Deutschland weitere Flüge nach Nepal geplant. Bereits gestern startete eine Maschine mit medizinischem Personal, Experten für die Suche nach Verschütteten und Rettungshundeführern. Die EU-Kommission stellte zusätzlich zu den Maßnahmen einzelner Mitgliedsländer drei Millionen Euro Soforthilfe bereit, unter anderem für Trinkwasser, Medikamente und Zelte.
    In Nepal beziffert die Regierung die Zahl der Toten inzwischen auf 3.200. Mindestens 6.500 Menschen wurden demnach verletzt. Viele Überlebende verbrachten die Nacht aus Angst vor Nachbeben bei starkem Regen im Freien oder in Zelten. Die Strom- und Wasserversorgung ist weiter unterbrochen.

    Das Interview in voller Länge:
    Sandra Schulz: Schweres Erdbeben in Nepal - das waren am Samstagvormittag die ersten Eilmeldungen. Morgens hieß es, mindestens zwei Menschen seien ums Leben gekommen. Die dramatische Entwicklung seitdem haben Sie in den Nachrichten verfolgt. Von mehr als 3.000 Toten gehen die Rettungskräfte derzeit aus. Aber auch heute Morgen kennen wir wohl das ganze Ausmaß der Zerstörung noch nicht.
    Wir kommen jetzt noch mal zurück auf die Lage im Erdbebengebiet in Nepal. Zahlreiche Staaten und Organisationen haben nach dem schweren Erdbeben im Himalaya Helfer nach Nepal geschickt. Auch aus Deutschland sollen heute weitere Hilfsflüge starten. Schon während des Erdbebens war allerdings Felix Neuhaus in Kathmandu. Er arbeitet dort für die Arbeiterwohlfahrt International, lebt schon lange in Nepal und wir konnten ihn jetzt in Kathmandu erreichen. Guten Morgen!
    Felix Neuhaus: Guten Morgen aus Kathmandu.
    Schulz: Wie haben Sie die letzten beiden Tage erlebt?
    Neuhaus: Sehr, sehr hektisch. Wir hatten zwei sehr, sehr starke Erdstöße, der letzte gestern Nachmittag. Es ist allgemeines Chaos hier in den Straßen. Teilweise kampieren die Leute auf der Straße, in den Parks. Es gibt leider nur sehr wenig Parks hier. Viele müssen in ihren Häusern bleiben, weil es einfach keine sicheren Plätze gibt. Es hat heute Nacht massiv geregnet. Ich habe auch mit meiner Familie im Zelt verbracht, draußen im Garten, und wir sind alle ganz nass geworden.
    "Bis zu hundert Prozent der Bausubstanz zusammengefallen"
    Besonders schlimm ist die Situation in den Dörfern im Distrikt Gorka und in weiteren neun stark betroffenen Distrikten, wo bis zu hundert Prozent der gesamten Bausubstanz zusammengefallen ist und die Leute einfach ohne Schutz jetzt die Nächte überstehen müssen.
    Man kann hier beobachten, dass es in Lalitpur zumindest - das ist die alte Königsstadt Patan -, wo ich wohne, keine Unterstützung gibt von staatlichen Akteuren. Das Militär ist nicht präsent, man sieht keine Polizei, die Leute sind auf sich allein gestellt, schlecht informiert. Keiner weiß, wie es weitergehen soll. Die Verpflegung, die sie erhalten, basiert auf Sozialstrukturen der Zivilgesellschaft, sozusagen Selbsthilfe.
    Schulz: Wie ist die ärztliche Versorgung der Verletzten?
    Neuhaus: Die Krankenhäuser sind komplett überlastet. Es gibt Gesundheitsfreiwillige, die durch die Straßen gehen mit kleinen Köfferchen. Ich habe gestern einen Rundgang gemacht und mit einigen dieser Freiwilligen gesprochen. Die haben Paracetamol, Schmerzmittel dabei und leichte Verbandsstoffe, aber nicht mal Antibiotika, und wir fürchten, auch durch den Regen jetzt, dass es zu wasserbasierten Krankheiten kommt. Die Trinkwasserversorgung ist auch nicht geregelt, zumindest in vielen Teilen des Landes, sodass es dadurch jetzt auch zu Epidemien kommen könnte.
    Nothilfe "relativ unkoordiniert"
    Schulz: Wie laufen vor dem Hintergrund, den Sie gerade geschildert haben, die Rettungsarbeiten und die Hilfsarbeiten? Wie laufen die da überhaupt?
    Neuhaus: Relativ unkoordiniert, würde ich sagen. Wir sehen regen Flugverkehr. Die indische Luftwaffe, aber auch andere bringen ein Militärflugzeug nach dem anderen rein. Uns ist selber noch nicht so ganz klar, wie die Verteilung funktionieren soll. Wir haben jetzt in den letzten beiden Tagen versucht, herauszufinden, wie es unseren Mitarbeitern geht. Denen geht es allen gut. Heute ist der erste Tag, wo wir versuchen, möglichst viele ins Büro zu holen. Die haben ja auch alle Familien, die sind auch betroffen, die haben Verletzte, von zwei Mitarbeitern sind die Häuser komplett eingestürzt.
    Und wir werden dann versuchen, hier die Nothilfe zu starten und heute Vormittag auch mit allen Regierungsakteuren in Kontakt zu treten. Wir haben ja zivilgesellschaftliche Organisationen als Partner in sieben Distrikten. Mit denen habe ich persönlich schon am Samstag und Sonntag Kontakt aufgenommen und die sind auch betroffen.
    "Stillende Mütter und Kleinkinder erfahren keine Unterstützung"
    Schulz: Wie sieht Ihre Arbeit denn jetzt konkret aus? Was genau machen Sie in diesen Tagen, in diesen Stunden?
    Neuhaus: Wie gesagt, wir haben jetzt erst mal versucht, die eigenen Mitarbeiter zu mobilisieren. Wir sind jetzt gerade dabei, die Solaranlage ist ausgefallen, unseren Generator für Notfälle flott zu machen. Das Internet ist auch ausgefallen. Wir müssen teilweise in andere Stadtteile gehen, um mit unseren Mobiltelefonen einen Zugang zu finden, um Koordination mit Deutschland - wir arbeiten ja mit der Aktion "Deutschland hilft" zusammen als AWO International -, um neue Informationen zu bekommen.
    Die Mobiltelefone sind weitestgehend ausgefallen. Das haben Sie auch selber schon gemerkt die letzte Stunde. Wir versuchen, mit unseren Partnern gemeinsam jetzt Risikomanagement zu machen. Unsere Partner fragen alle Projektdörfer, in denen sie arbeiten, nach, was wird gebraucht, was sind die Schäden, was sind die Opfer, wie können wir helfen. Ich denke, dass wir heute Abend wissen, wie wir genau intervenieren können.
    Wir werden sicherlich Nothilfe leisten in den nächsten Tagen im Bereich Ernährung, hoffentlich auch Zelte oder Planen. Darüber hinaus werden wir uns fokussieren auf Mütter, stillende Mütter, Kleinkinder. Die erfahren überhaupt keine Unterstützung, soweit wir das hier sehen. Es gibt keine Milch seit zwei Tagen. Die Situation ist sehr schwierig. Aber wir haben Partner, die große Netzwerke haben, Selbsthilfegruppen, Kooperativen, Sparvereine, und über diese Strukturen werden wir die Hilfe direkt zu den Betroffenen bringen.
    Schulz: Wie müsste die internationale Hilfe jetzt aussehen oder koordiniert werden?
    Neuhaus: Ja, das ist eine gute Frage. Wir wissen auch von deutschen Trupps, die hier ankommen, haben auch bereits Anfragen bekommen für Kooperation. Wir werden versuchen, diese Organisationen so gut wie möglich zu unterstützen, haben hier aber natürlich auch nur ein kleines Team. Wir werden heute mit dem Heimatministerium - die sind verantwortlich für die Koordination - nähere Details besprechen, auch mit den Zuständigen der Vereinten Nationen, die hier die Nothilfe koordinieren, zum Beispiel WFB, Work for Food Program, die auch im Vorfeld schon Präventionstrainings angeboten haben für Erdbeben.
    "Unser Haus ist nicht zusammengefallen"
    Schulz: Felix Neuhaus in Kathmandu, hat Ihnen auch was Hoffnung gegeben in den letzten beiden Tagen?
    Neuhaus: Ja! Persönlich hat mir Hoffnung gegeben, dass unser Haus nicht zusammengefallen ist. Es ist natürlich schwierig diese Doppelrolle, jetzt hier Nothilfe zu leisten und eine eigene Familie zu haben, für die eigentlich keine Zeit fast bleibt, weil ständig das Telefon klingelt und ständig Koordination ansteht. Aber dass unser Haus das so gut verkraftet hat, gibt Hoffnung für die Zukunft.
    Schulz: Felix Neuhaus in Kathmandu, dort für die Arbeiterwohlfahrt International. Vielen herzlichen Dank, dass Sie sich diese Zeit heute Morgen für uns genommen haben.
    Neuhaus: Danke schön! Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.