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"Es sind vor allen Dingen junge Männer aus Ostvorpommern"

Bis zu einem Drittel der Bevölkerung traue es den großen Parteien in Mecklenburg-Vorpommern nicht mehr zu, gesellschaftliche Probleme zu lösen, sagt Parteienforscher Martin Koschkar von der Universität Rostock. Von diesem Misstrauen profitiere letztendlich die NPD.

Martin Koschkar im Gespräch mit Gerd Breker |
    Gerd Breker: Erwin Sellering, der Wahlsieger von gestern, hat nach der Wahl die Qual der Wahl, nämlich mit wem er künftig regieren will. Mit der Union und der Linkspartei sind es gleich zwei Optionen, die sich ihm andienen. Er kann also mit Nachdruck verhandeln, um sein Ziel, so viel sozialdemokratische Politik wie möglich umzusetzen. Mecklenburg-Vorpommern hat gewählt und den SPD-Regierungschef mit westlichen Wurzeln bestätigt. Die Union, sie wurde abgestraft und landete auf dem schwächsten Wahlergebnis ihrer jungen Geschichte in Mecklenburg-Vorpommern. Die FDP erhielt mit 2,8 Prozent ein Ergebnis, das nun wahrlich niemand mehr schön reden kann. Politik interpretiert sich Wahlergebnisse so, wie Politik es gerne hätte. Das fällt mal leichter und fällt auch mal schwerer. Was hat das Wahlergebnis von Mecklenburg-Vorpommern bestimmt, ausschließlich die Landespolitik, ein glaubwürdiger Regierungschef, der mit einer soliden Haushaltspolitik die Landeskinder überzeugte, oder sind es auch bundespolitische Entscheidungen, bundespolitische Trends, die die Stimmenabgabe beeinflusst haben? Berlin interpretiert die Wahl vom Sonntag und einzig die FDP kann sich da einfach nichts schönreden. Am Telefon begrüße ich nun den Parteienforscher Martin Koschkar von der Universität Rostock. Guten Tag, Herr Koschkar.

    Martin Koschkar: Guten Tag.

    Breker: Lassen Sie uns mit der Wahlbeteiligung beginnen. 1,39 Millionen Menschen waren aufgefordert zu wählen, getan haben dies gerade mal die Hälfte, rund 700.000. Woran liegt das? Halten die Wähler die Politik nicht mehr für kompetent in der Lösung von Problemen?

    Koschkar: Also ich möchte in Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung drei Punkte herausstellen. Zum einen das, was Sie ansprechen, natürlich die Problemlösungskompetenz. Das ist ein Problem. Alle Parteien bis auf die Grünen haben an die Nichtwähler verloren. Das heißt also, die Wählerinnen und Wähler haben sich nicht in der Form an der Wahl beteiligt, sind eher zu Hause geblieben. Und wenn wir dann nach Umfragen schauen, welche Problemlösungskompetenzen haben die Parteien noch, so können wir auch feststellen, dass ein gewisser Prozentsatz in der Bevölkerung bis hin zu einem Drittel bei einigen Problemen, wenn es um den ländlichen Raum zum Beispiel geht, keiner Partei mehr zutrauen, diese Probleme zu lösen. Das kann natürlich dann auch zu mangelnder Mobilisierung und zu mangelnder Beteiligung an Wahlen führen. Als weitere Punkte jedoch möchte ich auch darauf hinweisen, dass dieses Ausreißen nach unten jetzt kein besonderes Phänomen in Mecklenburg-Vorpommern ist oder auch im Vergleich zu anderen Landtagswahlen. Es ist eher eine Normalisierung, weil wenn wir uns die Wahlbeteiligung bei anderen Landtagswahlen angucken, so liegt Mecklenburg-Vorpommern da zwar jetzt mit 51,4 Prozent relativ niedrig, aber dennoch auch im Niveau anderer Landtagswahlen, auch in westdeutschen Bundesländern, wenn wir uns zum Beispiel Baden-Württemberg 2006 anschauen. Als drittes, was jetzt das Ergebnis historisch etwas schlecht macht in Mecklenburg-Vorpommern, möchte ich noch darauf hinweisen: Wir haben ja eine Entkoppelung der Wahltermine in Mecklenburg-Vorpommern. Zum ersten Mal seit nach 2006 wählen wir unabhängig von der Bundestagswahl. Dass wir da natürlich diese Werte von '94, '98 und 2002 bei der Wahlbeteiligung nicht mehr erreichen, weil wir die Mobilisierung der Bundestagswahl nicht mehr haben, ist ganz klar.

    Breker: Herr Koschkar, die NPD steigt zum zweiten Mal in den Landtag ein, leicht geschwächt, aber immerhin ziemlich sicher. Heißt das, dass rechts außen in Mecklenburg-Vorpommern ja sogar eine Stammwählerschaft schon hat?

    Koschkar: Also wir haben ein Stammwählerpotenzial von der NPD in Mecklenburg-Vorpommern. Das liegt aber nicht bei der Fünf-Prozent-Hürde oder darüber, sondern es ist ungefähr so bei zwei bis drei Prozent. Der Rest ist dann Mobilisierung, und natürlich profitiert die NPD in Mecklenburg-Vorpommern von diesen Problemlagen, die von den Bürgerinnen und Bürgern keiner Partei mehr zugetraut werden zu lösen. Das ist natürlich eine Möglichkeit für sie, sich hier zu profilieren.Richtig ist aber auch: Sie hat ein Drittel ihrer absoluten Stimmen im Vergleich zu 2006 verloren. Das heißt, sie konnte das Ergebnis von 2006 nicht wiederholen.

    Breker: Dennoch fragt man sich, Herr Koschkar, was sind das für Leute, die sich für die NPD entscheiden, wenn sie in der Wahlkabine stehen?

    Koschkar: Ganz klar ist, es sind viele auch aus Protest. So war es zumindest 2006. Es sind vor allen Dingen junge Männer aus Ostvorpommern, wenn man so den klassischen NPD-Wähler einmal charakterisieren möchte. Das zeigen die Wahlstatistiken. Sicherlich ganz viel Protest, aber das Wählerpotenzial der Partei, wenn man nach der Wahlabsicht fragt, lag allgemein auch in den Vorwahlumfragen bei acht und neun Prozent. Das konnte sie nicht voll ausschöpfen, das ist sicherlich auch ein gutes Ergebnis.

    Breker: War es denn hauptsächlich die Landespolitik, die die Wahl in Schwerin entschieden hat?

    Koschkar: Wenn wir uns die Vergleichswahlen auf Landesebene 2011 anschauen, so haben wir auch in Mecklenburg-Vorpommern festzustellen, dass die Bundesregierung, also die Koalition im Bund zwischen CDU/CSU und FDP, bei uns im Land natürlich nicht zulegen konnte. Das ist der sogenannte "Mid Turn Blues" der Regierungskoalition. Zur Mitte der Legislaturperiode im Bund verliert sie durchschnittlich sehr viel auf Landesebene. Sowohl die CDU als auch die FDP – Sie haben es ja in Ihren Beispielen schon aus Berlin gesagt – konnten natürlich nicht vom Bundestrend profitieren.

    Breker: Das heißt, es hat – Mecklenburg-Vorpommern ist ja die politische Heimat von Angela Merkel – da keinen Kanzlerbonus gegeben?

    Koschkar: Es gab ihn in bedingtem Maße 2006. Jetzt – Herr Caffier hat das sehr treffend formuliert -, Frau Dr. Merkel ist natürlich aufgetreten hier im Land, hat aktiv Wahlkampf betrieben, die Veranstaltungen waren auch recht gut besucht. Herr Caffier hat gesagt, es gab keinen besonderen Rückenwind, aber auch keinen besonderen Gegenwind aus Berlin.

    Breker: Und so würden Sie das auch beschreiben?

    Koschkar: Ja. Wir können nicht feststellen, dass die CDU von einem Merkel-Bonus oder einem Kanzlerinnen-Bonus profitiert hat. Ansonsten hätte sie sicherlich nicht mit 23,1 Prozent der Zweitstimmen abgeschnitten.

    Breker: Herr Sellering ist der strahlende Wahlsieger. Kann die Bundes-SPD etwas lernen in Mecklenburg-Vorpommern von dem Erfolg von Erwin Sellering?

    Koschkar: Die Bundesrepublik Deutschland und Mecklenburg-Vorpommern sind zwei Teile, die man schwer miteinander vergleichen kann. Herr Sellering hat eine unaufgeregte Politik gemacht, eine unaufgeregte Große Koalition für ein unaufgeregtes Land geleitet. Das ist sehr gut angekommen bei den Menschen. Er hat im Wahlkampf die Erfolge des Landes herausgestellt. Ihm wurde ja auch der Vorwurf des Ossi-Verstehers mal entgegengebracht. Er hat natürlich die Lebensleistungen der Menschen hier im Land auch hervorgehoben. All das, das Gute, das Positive herauszuheben, das ist, wenn wir dem Wahlergebnis der SPD glauben können, einfach gut angekommen bei den Leuten, und sowohl bei Personen als auch bei Problemlösungskompetenzen wird die SPD als die Option in Mecklenburg-Vorpommern wahrgenommen. Das hat das Wahlergebnis auch bestätigt.

    Breker: Herr Koschkar, wir haben noch eine Minute. Noch ein kurzes Wort zur Linkspartei. Täuscht der Eindruck, dass die Linkspartei ihr Wähler-Reservoir ausgeschöpft hat und nicht vorankommt?

    Koschkar: Ja, das ist ganz klar. Wir weisen schon darauf hin, darauf haben wir auch in den Vorwahlumfragen hingewiesen. Die Linkspartei hat in Mecklenburg-Vorpommern eine verfestigte Wählerstruktur von rund 16 bis 18 Prozent. Sie hat aber seit Jahren ein Problem, das war auch schon 2006 der Fall, sich neuen Wählergruppen zu öffnen. Das heißt, sie kann eigentlich bei allen Wahlen auf diese verfestigte Wählerstruktur zurückgreifen, aber sich darüber hinaus nicht besonders weiterentwickeln. Das zeigen jetzt auch die rund 18 Prozent bei der Wahl 2011. Dass solche Debatten wie das Glückwunschtelegramm von Frau Lötzsch, oder die Mauerbaudebatte, die wir hier in Rostock beim Landesparteitag ja mit diesem Eklat von Frau Linke miterleben konnte, dass das natürlich nicht hilft, um sich neuen Wählergruppen zu öffnen, ist auch ganz klar.

    Breker: Im Deutschlandfunk war das der Parteienforscher Martin Koschkar von der Universität Rostock. Herr Koschkar, ich danke Ihnen.

    Koschkar: Herzlichen Dank.

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