Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Ethiker über Vorbilder
"Wir brauchen Heldinnen - und Helden"

Carola Rackete und Greta Thunberg werden bejubelt und verachtet. Für den Berliner Ethiker Arnd Pollmann sind sie Heldinnen: "Sie moralisieren nicht, sie packen selbst an", sagte er im Dlf. Doch auch die Zeit männlicher Helden sei noch nicht vorbei.

Arnd Pollmann im Gespräch mit Christiane Florin | 22.07.2019
Montage von Greta Thunberg und Carola Rackete
Für viele Menschen sind Greta Thunberg und Carola Rackete Heldinnen unserer Zeit (v.l.n.r. Imago / Frederic Kern / Till M. Egen / gettyimages / Lars Niki)
An die Berufsbezeichnung Kapitänin mussten sich viele erst gewöhnen. Wer mit Käpten Cook, Käpten Iglo, Käpten Blaubär aufgewachsen ist, kennt nur männliche Kommandogeber. Carola Rackete dürfte die bekannteste Kapitänin sein, seit sie mit ihrem Schiff Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet und gegen viele Widrigkeiten in einen Hafen gebracht hat. Imponierend nennen das die einen, kriminell die anderen.
Auch Greta Thunberg, Anführerin der Fridays for Future-Bewegung, polarisiert. Arnd Pollmann, Professor für Ethik an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin schrieb kürzlich: "Wir haben es hier mit Heldinnen zu, aber nicht mit Heiligen." Da gibt es Nachfragebedarf. Arnd Pollmann konnte ich vor der Sendung sprechen. Ich habe ihn im Urlaub erreicht und ihn zuerst gefragt, was an Thunberg und Rackete heldinnenhaft ist.
"Die Kriterien für Heldentum sind nicht beliebig"
Arndt Pollmann: Na, schon hier besteht ja große Uneinigkeit. Die einen halten Greta Thunberg und Carola Rackete tatsächlich für echte Heldinnen – und viele andere weisen das geradezu empört zurück, diffamieren Greta Thunberg gar als "autistische Schulschwänzerin" und Carola Rackete als eine "gesetzlose Verbrecherin". Es scheint also auf den ersten Blick im Auge des Betrachters zu liegen, wen man aus welchen Gründen für eine Heldin oder einen Helden hält, abhängig von den jeweils eigenen ethischen Wertmaßstäben und wohl auch von dem politischen Weltbild, das man favorisiert. Denken Sie hier etwa auch an Edward Snowden, der in den letzten Jahren ja ganz ähnlich polarisiert hat.
Bei genauem Hinsehen täuscht diese Beliebigkeit, denn meist haben ja auch diejenigen, die derzeit über Greta Thunberg oder Carola Rackete lästern, ihre jeweils eigenen, nur eben anderen Vorbilder und Helden. Und dann stellt sich bei genauerer Analyse und im Vergleich meist eben doch heraus, dass die Kriterien für Heldentum keineswegs so subjektiv und beliebig sind. Heldinnen und Helden haben eines gemein: Sie tun außeralltägliche Dinge, Dinge, die teilweise weit über das hinausgehen, was sogenannte "normale Menschen" tun und als ihre moralische Pflicht begreifen würden. Helden tun nicht bloß das, was ihre Pflicht ist, sondern mehr als das – sie gehen teilweise ein großes persönliches Risiko ein, legen sich mit der Regierung und dem Gesetz an. Sie zeigen uns, - uns "Normalos", wenn man so will-, was Menschen möglich ist, wo wir selbst dazu in aller Regel zu feige sind. Und ich glaube eben, das trifft auch auf Greta Thunberg oder Carola Rackete zu.
Die Kapitänin des Flüchtlingsrettungsschiffs "Sea-Watch 3" wird von der Polizei festgenommen.
Carola Rackete hat unter großem persönlichem Einsatz Außeralltägliches geleistet (AFP / Localteam / Anaelle Le Bouedec)
Christiane Florin: Sie haben eben das Wort "Vorbild" benutzt. Da steckt der Gedanke drin, dass man dem nacheifern sollte. Aber was wäre denn, wenn alle, oder wenn viele so wären?
Pollmann: Ja, man glaubt manchmal, dass eine Gesellschaft "Neuer Menschen" denkbar wäre, in der wir alle Heldinnen und Helden sind. Ich glaube, dass das eine Träumerei ist, und dass Gesellschaften immer darauf angewiesen sein werden, dass es ein paar Menschen gibt, die tatsächlich zu Außeralltäglichem bereit sind. Und per definitionem können wir gewissermaßen nicht alle gleichzeitig Heldinnen und Helden sein, weil eben Heldinnen und Helden sich dadurch auszeichnen, dass sie mehr als das tun, was normale Menschen tun.
Tugend, Gesinnung oder Verantwortung?
Florin: Sie sind Professor für Ethik – welche ethischen Begründungen liegen dem Tun dieser beiden, über die wir jetzt gesprochen haben, zugrunde?
Pollmann: Das ist von außen schwer zu sagen. Es gibt sehr unterschiedliche Möglichkeiten, den Kern der Moral zu bestimmen, beziehungsweise die Frage zu beantworten, worum es in der Moral letztlich geht. Es gibt so etwas in die Jahre gekommene Begriffe wie Tugendethik, Gesinnungsethik, Verantwortungsethik – Begriffe, die nicht nur ein wenig aus der Mode gekommen sind und teilweise auch irreführend sind.
Es geht dabei im Kern um die Frage, worauf genau es in der Moral ankommt, beziehungsweise worauf genau wir in der Moral zu achten haben. Und das ist gar nicht so einfach zu sagen. Kommt es vor allem darauf an, ein guter Mensch zu sein? Das ist so die Auffassung der Tugendethik, wie man sie beispielsweise schon bei Aristoteles findet. Oder geht es darum, in dem Sinne "gut gewillt" zu sein, dass wir unser Handeln an allgemeingültigen Prinzipien der Vernunft ausrichten, beispielsweise Menschen zu helfen, die in Not sind? Das ist die sogenannte Gesinnungsethik, wie man sie heute gern mit Immanuel Kant assoziiert. Oder aber verpflichtet uns die Moral vor allem dazu, die positiven und vor allem auch negativen Folgen unseres Tuns zu kalkulieren? Das ist die Grundthese, die man der sogenannten Verantwortungsethik zuschreibt, für die heute vor allem der moralphilosophische Utilitarismus steht.
Ich glaube aber, dass Heldinnen und Helden nicht schon von vornherein auf eine dieser Positionen abonniert sind. Trotzdem glaube ich, dass diejenigen Heldinnen, über die wir derzeit sprechen, eine gewisse Tendenz zur Tugendethik haben. Denn bevor diese jungen Frauen ihrem Gegenüber moralische Vorwürfe machen, kehren sie lieber vor der eigenen Haustür – sie moralisieren nicht, sie packen selbst an. Vielleicht, um auch morgen noch in den Spiegel schauen zu können. Und das ist eine typisch tugendethische Grundhaltung, die in unserer moralinsauren Welt fast ein wenig altmodisch wirkt.
"Ein schmaler Grat zwischen Moral und Moralin"
Florin: Warum steht Moral unter dem Moralin-Verdacht? Wir haben in dieser Sendung schon einige Gespräche über Moral geführt – "Hypermoral" ist zum Beispiel ein solches Schlagwort. Viele Kritiker von Greta Thunberg und Carola Rackete sagen: "Das ist mal wieder der Moralismus, da schwingen sich Gutmenschen auf, die Welt zu retten." Und jetzt haben Sie es auch gerade mit moralinsauer gleichgesetzt.
Pollmann: Es ist oft ein schmaler Grat zwischen Moral und Moralin. Dass wir im Alltag uns moralisch zueinander verhalten sollen, ist selbstverständlich. Und ebenso selbstverständlich ist es – auch wenn wir das nicht immer Moral nennen -, uns gegenseitig Vorhaltungen oder Vorwürfe zu machen, wenn unser Gegenüber in für uns wichtigen ethisch-moralischen Hinsichten nicht das tut, was seine oder ihre Pflicht wäre.
Moralistisch wird dieser moralische Diskurs immer dann, wenn diese Vorwürfe in dem Sinne überhand nehmen, dass ein Verhalten als unmoralisch deklariert wird, von dem wir eigentlich sagen würden, das ist übertrieben. Das ist vielleicht schlechter Stil, das ist vielleicht unsympathisch, aber vielleicht noch nicht im starken Sinne unmoralisch, was eine andere Person tut. Also der Moraldiskurs hat eine gewisse Tendenz, ins Moralistische zu kippen, wenn wir es mit moralischen Vorwürfen übertreiben.
Florin: Haben Sie da ein Beispiel?
Pollmann: Wenn wir jetzt mit einem Gegenüber zu tun hätten, der oder die beispielsweise in der Eisdiele zu uns sagen würde: "Weißt du, wie diese Vanille hergestellt worden ist? Weißt du, wo diese Erdbeere und unter welchen Bedingungen sie produziert worden ist?" Dann hat diese Person vielleicht einen Punkt, denn an den Produktionsbedingungen auch von Speiseeis lässt sich natürlich ein moralischer Dissens festmachen. Trotzdem würden wir sagen: Hier mischt sich jemand zu sehr in unsere alltäglichen, privaten, in diesem Fall Konsumentscheidungen ein und macht aus einem Gespräch über Geschmacksfragen einen moralistischen Diskurs.
"Glücklich das Land, das solche Heldinnen hat"
Florin: Heldin ist bei Ihnen positiv konnotiert – "Held" dagegen klingt irgendwie lächerlich. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Pollmann: Also ich selbst finde den Begriff keineswegs lächerlich, auch nicht in seiner männlichen Form. Ich werde eher misstrauisch, wenn jemand darauf verzichten will. Ich sehe natürlich auch, dass heute viele Menschen mit dem Heldenbegriff eine unkritische bis blinde Verherrlichung kriegerischer Gewalt oder nationalistischen Opferkults verbinden.
Tatsächlich ist ein solches, wie mir scheint überkommenes Heldenbild vor allem in rechten und rechtsradikalen Kreisen noch immer weit verbreitet. Es wäre aber, glaube ich, ganz falsch, das Kind mit dem Bade auszuschütten und den Heldenbegriff deshalb auf den heute allseits zitierten "Müllhaufen der Geschichte" zu werfen. Denn auch unsere Gesellschaft braucht außeralltägliche Vorbilder, Vorbilder, die mehr tun als das, wozu wir "Normalos" bereit sind. Und nur weil diese neuen Heldinnen und Helden nicht mehr den Muskelprotzen der Antike gleichen, bedeutet das nicht, dass es keine Heldinnen und Helden mehr gibt.
Tausende Schüler nehmen zusammen mit der schwedischen Klima-Aktivistin Greta Thunberg an der Fridays for Future Demonstration teil.
Greta Thunberg wird gefeiert - und diffamiert (Paul Zinken/dpa/picture alliance )
Florin: In Brechts "Galileo Galilei" heißt es ja: "Unglücklich das Land, das keine Helden hat." Und dann: "Unglücklich das Land, das Helden nötig hat." Sie neigen der Position zu: Glücklich das Land, das Helden hat?
Pollmann: Ja, eindeutig. Sicher: Wenn Heldinnen und Helden notwendig werden, dann liegt gesellschaftlich irgendetwas im Argen. Es ist für eine Gesellschaft kein Kompliment, wenn die Sehnsucht nach heroischer Veränderung erwacht. Aber Gesellschaften werden immer irgendwelche Krisen, Missstände und Defizite aufweisen, dann wird es eben auch auf neue oder auch alte Heldinnen und Helden ankommen – und auf deren Bereitschaft, Außeralltägliches zu leisten. Diese brecht'sche Vorstellung, wie sie im "Galilei" anklingt, dass die Gesellschaft nach der Revolution nur noch aus "Neuen Menschen" bestehen wird, die keine Helden mehr brauchen, das ist, glaube ich, eine ganz lächerliche, sozialistische Traumwelt.
"Heilige sind nicht von dieser Welt - Heldinnen schon"
Florin: Der Berliner Erzbischof Heiner Koch hat vor einigen Wochen, das war zu Palmsonntag, Greta Thunberg als "Prophetin" bezeichnet, die auf Missstände hinweist. Diese religiöse Dimension, sehen Sie die auch? "Prophetin", ist das ein treffendes Wort?
Pollmann: Nein, ich denke nicht. Und zwar aus zwei Gründen: Zunächst trifft es das religiöse Wort "Prophetin" schon deshalb nicht, weil im Gegensatz zu einem weitverbreiteten Missverständnis Prophetinnen und Propheten keine Hellseher sind, die die Zukunft voraussagen. Prophetinnen und Propheten sind, wenn man so will, Medien, derer sich ein Gott bedient, um seine Worte unter das Volk zu bringen. Und wer jetzt, wie der Erzbischof, Greta Thunberg eine Prophetin nennt, der will sie offenbar vor allem für das eigene missionarische Projekt vereinnahmen.
Wichtiger aber ist noch das Folgende: Heldinnen sind auch keine Heiligen. Denn Heilige sind darauf gepolt, wenn man so will, geradezu wie selbstverständlich, automatisch, das übergebührlich Gute zu tun. Heilige sind in einer gewissen Weise nicht ganz von dieser Welt – Heldinnen hingegen schon. Sie kämpfen auf sehr irdische Weise gegen ihre eigene Furcht, gegen ihre eigenen Ängste an. Sie haben teilweise sehr viel zu verlieren. Und eben das macht sie so bewundernswert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.