Dienstag, 19. März 2024

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Zeitenwende im Orbit
Europas strategischer Zugang zum All

Schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine haben Politiker gefordert, die europäische Raumfahrt neu zu denken: Europa brauche bessere Trägerraketen. Auch eine eigene Megakonstellation aus hunderten Satelliten für sicheres Internet gilt vielen als Gebot. Aber wie ausgereift sind diese Pläne?

Von Karl Urban | 07.08.2022
Die Ariane 5 startet mit dem James Webb-Weltraumteleskop an Bord
Bislang ist die Ariane 5 das Arbeitspferd der ESA für schwere Nutzlasten. Das Nachfolgemodell soll deutlich kostengünstiger und international wettbewerbsfähig sein - ein überaus ambitioniertes Ziel. (imago/UPI Photo/Bill Ingalls)
„Ich freue mich natürlich, hier zu sein. Meine Physiotherapeutin sagt zwar, ich gehe noch ein bisschen wie eine Schwangere. Das muss ich mir noch ein bisschen abgewöhnen. Ich fühle auch, dass mein Kopf etwas wiegt. Das hat er da oben im All nicht getan.“

Am 11. Mai im europäischen Astronautenzentrum in Köln. Matthias Maurer ist frisch zurückgekehrt von der Internationalen Raumstation. „Der Ritt auf der Rakete war ein Highlight. Hochzukommen auf die Station, die man vom Training so gut kennt. Aber dann kommt man oben an und es ist trotzdem alles ganz neu, weil man es jetzt schwebend und in 3D erlebt.“

Es geht um Essen in der Schwerelosigkeit, die unbeschreibliche Schönheit der Erde. Ein Routineereignis mit Routinefragen. Bis das Gespräch auf den Krieg kommt, den Russland in der Ukraine führt. Maurer hat den Angriff gemeinsam mit den zwei Russen und drei Amerikanern erlebt.

„Ihr als Team versteht euch ja glänzend, aber es gibt ja leider auch Politiker?“ „Ja, das ist absolut richtig so. Ich hatte aber den Luxus, dass ich dort oben in einer kleinen Blase leben und arbeiten konnte. Und dort sind wir wirklich eine eingeschworene Familie. Das läuft hervorragend. Ich würde sagen, wir sind beste Freunde - fast schon Weltraumbrüder und -schwestern“.

Ganz unberührt vom Krieg bleibt der Außenposten aber nicht. Am 9. Mai verlässt eine Grußbotschaft von Kommandant Sergey Korsakov die ISS: „Wir wünschen unseren Truppen Erfolg bei ihrer höchst schwierigen und gefährlichen Kampfaufgabe zum Wohle Russlands.“

Keine Starts mehr mit russischen Raketen - und nun?

Die Internationale Raumstation hat schon so manchen Konflikt auf der Erde überstanden. Auch jetzt läuft der Betrieb reibungslos weiter. Darüber hinaus aber rumort es zwischen den bisherigen Partnerstaaten gewaltig. Als Reaktion auf die Wirtschaftssanktionen sagte Russland im März alle Starts westlicher Satelliten mit russischen Raketen ab. Bei anderen Projekten hat die ESA die Zusammenarbeit selbst beendet. Nun fehlen Startgelegenheiten für den Marsrover ExoMars und das geplante Weltraumobservatorium Euklid, aber auch für das Satellitennavigationssystem Galileo. Josef Aschbacher, seit einem guten Jahr Generaldirektor der ESA:

„Also was ist die Situation? Es ist richtig, dass wir durch den Krieg in der Ukraine die Möglichkeit verloren haben, fünf Missionen, fünf Starts durch die Sojus durchzuführen. Diese Sojus-Raketen können nicht mehr aus Kourou starten. Das heißt, wir haben jetzt fünf Satelliten, die wir starten müssen. Und das ist natürlich eine der Aufgaben, die wir haben.“

Die Aufgabe ist immens, denn eine drei Jahrzehnte alte Prämisse der europäischen Raumfahrt funktioniert nicht mehr: im Mai 2022 kann Aschbacher nicht mehr auf die solide russische Raumfahrt bauen, die zuvor viele europäische Missionen relativ kostengünstig gestartet hat. Zwar verfügt die ESA auch über eigene Raketen, aber die leiden ausgerechnet jetzt unter diversen Problemen.

„Wir haben auf europäischer Seite eigentlich zwei wichtige Raketen, plus eine dritte Gruppe an Microlaunchern, die sich derzeit aufbaut. Die größte ist natürlich Ariane 5, die noch in Betrieb ist und ersetzt wird durch Ariane 6. Dann haben wir Vega, die durch Vega C ersetzt wird, Mitte des Jahres.“

Hoffnungsträger Ariane 6 lässt auf sich warten

Die Tage des bisherigen Arbeitspferds Ariane 5 sind gezählt: die letzten zehn Starts bis 2023 sind voll ausgebucht, neue Raketen dieses Typs werden nicht gebaut. Die zweite europäische Rakete Vega C wiederum hat ein anderes Problem. Maßgeblich vom Raumfahrtkonzern Avio in Italien entwickelt, wird das Triebwerk ihrer Oberstufe in der Ukraine gefertigt, das wegen des Kriegs ausfällt. Avio teilte zwar mit, mittelfristig genügend Triebwerke in den eigenen Lagern zu haben. Doch die Vega C bringt ohnehin nur Nutzlasten bis 3,3 Tonnen in einen niedrigen Erdorbit. Die Hoffnung für schwerere Satelliten und Raumsonden aus Europa lastet voll auf der Ariane 6.

„Die Ariane 6? Wir sind gerade dabei, den sogenannten ‚Hot Firing Test‘ in Lampoldshausen durchzuführen und dann können wir wirklich abhängig von den Ergebnissen dieses ‚Hot Firing Tests‘ und der sogenannten ‚Combined Tests‘ in Kourou das Datum für den Jungfernflug festlegen. Das heißt, heute können wir das noch nicht.“

Was nach emsigen Aktivitäten klingt, ist tatsächlich ein Stillstand. Der Hoffnungsträger der ESA hinkt im Zeitplan drei Jahre hinterher. Der Jungfernflug soll nun möglicherweise im April 2023 stattfinden. Um die eigenen Satelliten zu starten, ist Europa bis auf weiteres von anderen abhängig. Und wenn diese Drittstaaten ausfallen, wird es eng. Die europäische Unabhängigkeit im All hat plötzlich eine ganz andere Dringlichkeit.

Konkurrent SpaceX fliegt zu Dumpingpreisen

Vor vier Jahren ist die Ausgangslage noch eine ganz andere. Das Dröhnen der Raketentriebwerke der Ariane 6 hallt planmäßig durch den Harthäuser Wald: Mittendrin, im Institut für Raumfahrtantriebe im Baden-Württembergischen Lampoldshausen, diskutiert im April 2018 die Raumfahrtindustrie noch ein ganz anderes Problem: Es gebe nicht zu wenig Raketen, sondern zu wenig Satellitenkunden, sagt Jacques Breton, der bei Arianespace für Verkäufe und wirtschaftliche Entwicklung zuständig ist:

„Wir brauchen den kommerziellen Markt, weil die europäischen Regierungen weniger eigene Satelliten ins All starten als etwa die USA. Deshalb müssen wir wettbewerbsfähig sein und müssen dafür unsere Kosten ungefähr um die Hälfte reduzieren. Das ist speziell das Ziel für die Ariane 6.“

Er bezweifelt schon damals, dass die Ariane 6 wie versprochen günstiger als die Konkurrenz in Übersee sein wird. Schuld daran seien aber nicht die europäischen Entwickler, sondern das Unternehmen SpaceX, der neue Weltmarktführer. Der sei schlicht zu billig.

"SpaceX ist unser Hauptkonkurrent, und zwar aus zwei Gründen. Nachdem sie jahrelang angekündigt haben, dass sie zehn bis 15 Mal pro Jahr starten würden, fangen sie an zu liefern. Das sehen wir jetzt. Zweitens beherrschen sie den kommerziellen Markt mit sehr niedrigen Preisen. Das geht, weil sie der amerikanischen Regierung Startgelegenheiten zu doppelt so hohen Preisen verkaufen. Und das ist ein völlig anderer Ansatz als in Europa. Hier sind die Institutionen bereit, höchstens den Preis des freien Marktes zu bezahlen – oder sogar weniger, weil sie ja in die Entwicklung der Rakete investiert haben."

Heikle Fragen zur Raketen-Rentabilität

3,5 Milliarden Euro hat die Entwicklung der Ariane 6 bis zu diesem Zeitpunkt gekostet – im Sommer 2022 sind es bereits 3,8 Milliarden. Aber wird sie überhaupt erfolgreich starten?

„Ich bin zuversichtlich, dass sie zuverlässig ist. Aber zuverlässig heißt auch, dass wir alle Großprojekte immer wieder verzögert haben. Damit muss man leben, das wissen wir.“ Sagt Klaus-Peter Ludwig; er hat viele Jahre bei verschiedenen Raumfahrtunternehmen und für das Bundesforschungsministerium gearbeitet. Vor seiner Pensionierung vertrat er dann den Raumfahrtkonzern EADS. Kurz: Er kennt als Lobbyist Stärken und Schwächen der europäischen Raumfahrt und der Raumfahrtpolitik sehr gut.

„Aber bei der Ariane kommt, wie gesagt, das Thema dazu, dass wir im Kleinklein der europäischen Wertschöpfungskette nicht schneller sind.“ Mittlerweile im Ruhestand hat Ludwig für das Interview als Treffpunkt die Lobby eines Nobelhotels in Berlin-Mitte vorgeschlagen, in Laufweite des Kanzleramts. Lassen sich staatliche Investitionen in Raketen eigentlich wieder einspielen? Und: Müssen sie das?

„Also diese Frage ist ja schon fast gefährlich.“ Ludwig lacht und nennt einen Fall, wo das gelungen ist. Eine europäische Rakete, die allerdings schon länger Geschichte ist. „Wir waren eigentlich immer ganz schön stolz darauf, dass die Ariane 4 das einzige Startsystem auf der Welt war – obwohl wir über die schon lange hinaus sind –, die bei den ‚recurring costs‘ ihr Geld eingespielt hat.“
Zwei SpaceX Falcon-Heavy-Raketen landen wieder in Cape Canaveral in Florida, nachdem sie einen saudiarabischen Satelliten ins All gebracht haben
Raketen-Recycling: Das Landen der Erststufen funktioniert mittlerweile und spart Kosten (dpa / Planet Pix / Spacex)

Wettbewerbsvorteil der ESA ist dahin

Die Ariane 4 flog zwischen 1988 und 2003 vergleichsweise günstig und zuverlässig – und begründete damit die langjährige Marktstellung europäischer Raketen. Das gelang auch deshalb, weil sich der zunächst stärkste Konkurrent in den USA voll auf das Space Shuttle konzentriert hatte und die Explosion der Challenger 1986 auch die Startkosten explodieren ließ.

„Das Problem ist immer, dass die Entwicklungskosten und die ‚recurring costs‘, also die wiederkehrenden Kosten, die dann für die Operation notwendig sind, dass die zusammen natürlich über den Gesamtgewinn abgerechnet werden müssen.“

Heute ist die Welt eine andere: SpaceX startet und landet die Erststufen seiner Raketen und hat einzelne davon schon mehr als zehnmal wiederverwendet. Das US-Unternehmen hat diesen technologischen Vorsprung trotz eines viel schlankeren Entwicklerteams geschafft.

„Ich meine, Musk hat da einen Standard gesetzt, das muss man einfach sagen, die Technik ist hervorragend. Diese Entwicklungskosten sind so hoch, dass man diese Preise beim Wettbewerb auf den Weltmärkten kaum noch erwirtschaften kann. Das sieht man bei der Ariane 5. Das wird man so bei der Ariane 6 sehen.“

„Die Ariane 6 ist ja auch angetreten, die Kosten runterzubringen. Das hat nur so mäßig gut geklappt, oder wie ist da Ihr Blickwinkel?“ „Das ist jetzt höflich formuliert. Ich rede jetzt mal als Raumfahrtingenieur. Ich sehe da nicht, dass wir die Preise, die wir mal angestrebt hatten, als Community durchsetzen können.“
EU-Kommissar Thierry Breton am Rednerpult bei einem Besuch des Raumfahrtunternehmens Thales Alenia Space in Mont-sur-Marchienne, Charleroi am 14 Juni 2022. An der Decke des Raumes hängt ein Satelliten-Modell.
Braucht Europa ein eigenes Satelliten-Schwarm-Netzwerk? Thierry Breton findet jedenfalls: Ja. (imago/James Arthur Gekiere)

Die ambitionierten, teuren Pläne des Thierry Breton

Da die Entwicklung der Ariane 6 zu weit fortgeschritten ist, um das Konzept zu verändern, wird eine andere Lösung angedacht. Sie setzt nicht beim Raketenhersteller an, sondern auf der anderen Seite, beim Kunden. Wenn die Ariane zu selten nachgefragt wird, um rentabel zu sein, muss sie eben häufiger starten.

Am 25. Januar 2022 tritt Thierry Breton auf das Podium der Europäischen Weltraumkonferenz in Brüssel. Als EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen ist er auch für die Raumfahrt zuständig. Und er hat einen Plan: “Ich weiß, es ist ambitioniert. Aber ich weiß, es ist auch machbar.“

Breton möchte den Wettbewerbsnachteil gegenüber den USA ausgleichen, und zwar mit staatlichen Großaufträgen aus Europa. Dafür verfolgt er ein neues europäisches Großprojekt im All: Eine Megakonstellation aus hunderten, vielleicht auch tausenden Satelliten. Nach dem Vorbild von SpaceX und seinem privaten Satellitennetzwerk Starlink, soll Europa ein staatliches Satellitennetzwerk für schnelle Internetverbindungen aufbauen. Das würde den strategischen Zugang Europas zum All mit einer gut ausgelasteten Ariane 6 sicherstellen und darüber hinaus deren Kosten pro Start durch hohe Stückzahlen drücken.

„Der Weltraum ist ein strategischer Raum, in dem Großmächte jetzt miteinander wetteifern. Wir dürfen nicht länger naiv sein. Europa muss seine Interessen verteidigen und seine Freiheit, im All zu operieren.“

Jede Verbindung zu einem der Satelliten kann den Plänen zufolge mit einem Quantenschlüssel gesichert werden. Internetverbindungen wären dann sogar durch leistungsstarke Quantencomputer nicht abzuhören. Es wäre ein europäisches Alleinstellungsmerkmal.

“Und wir werden dafür sorgen, dass diese Initiative von einem neuen Weltraum-Enthusiamus getragen wird."
Starlink-Satelliten im Formationsflug mit senkrecht ausgeklapptem Sonnensegel funken die Internet-Signale auf das jeweils abgedeckte Segment der Erde hinunter (Illustration)
Starlink ist in Betrieb - aber auch Russland und China planen eigene Mega-Konstellationen. Und die EU. (imago / Science Photo Library / Mark Garlick)

Braucht Europa wirklich ein eigenes Internet-Satellitennetz?

Das Navigationssystem Galileo arbeitet mittlerweile genauer als das amerikanische GPS. Copernicus-Satelliten ermitteln Daten über Pflanzenwachstum, Eisschwund und Naturkatastrophen. Bei Waldbränden werden damit die Löscharbeiten geplant und koordiniert, zuletzt zum Beispiel in Brandenburg. Und die Megakonstellation „Secure Connectivity“ von Thierry Breton? Ist auch sie für das tägliche Leben der Europäerinnen und Europäer nützlich?
Immerhin sind weltweit ähnliche Konstellationen in Arbeit. SpaceX hat für sein eigenes Netzwerk Starlink schon über 2.600 Satelliten in den Orbit befördert – und das System bereits für weite Teile Europas freigeschaltet. Die Konstellationen OneWeb sowie Kuiper vom Amazon-Konzern sind weit gediehen. Auch diese Unternehmen wollen viele hundert Satelliten starten und schnelle Internetverbindungen anbieten. Die Idee des Kommissars dagegen wird wohl frühestens in einigen Jahren realisiert. Wird sie dann überhaupt noch gebraucht?

Diese Frage stellt auch der Moderator auf der europäischen Weltraumkonferenz im Januar 2022. Weil Thierry Breton die Konferenz verlassen hat, sitzt jetzt Ekaterini Kavvada auf dem Podium, in der EU-Kommission Direktorin für Innovation und Öffentlichkeitsarbeit.

„Das ist etwas, was wir nicht haben und definitiv brauchen.“ „Wenn Sie den Vorschlag einem skeptischen Minister unterbreiten, aus einem EU-Land, das nicht viel Geld hat. Und Sie sagen, die Kommission braucht ein paar Millionen von Ihnen, um die zwei Milliarden zusammenzubekommen und am Ende die sechs Milliarden. Wie wollen Sie die überzeugen?“

Quantensichere Verschlüsselung als Alleinstellungsmerkmal

Genau genommen wären es sogar 6,4 Milliarden Euro: Zwei Milliarden sollen von den Mitgliedsstaaten kommen, 2,4 Milliarden aus verschiedenen EU-Programmen und von der ESA und zwei weitere Milliarden von der Industrie. Ekaterini Kavvada:

"Ich hätte auf jeden Fall 27 skeptische Minister. Aber ich erwarte nicht, dass sie allzu skeptisch sind. Für diese Minister sind die Anwendungen entscheidend. Wir wissen wo Europa steht und wie wichtig es ist, gut gerüstet zu sein. Nehmen Sie den europäischen Grenzschutz, humanitäre Hilfseinsäze, den Schutz der Infrastruktur. Es gibt Bereiche, wo die Regierungen die richtigen Werkzeuge im richtigen Moment brauchen. 'Secure Connectivity' ist ein zusätzliches Werkzeug und ich würde auch sagen, ein geopolitisches Werkzeug.“

Formal wird die Gesetzgebung im Februar 2022 auf den Weg gebracht. Zuvor hat allerdings ein unabhängiger Kontrollausschuss das Vorhaben des Kommissars scharf kritisiert. Unter anderem sei der zusätzliche Bedarf neben Starlink, OneWeb und Kuiper nicht schlüssig begründet.

Als Breton seinen Plan nachbessert, fällt der ein zweites Mal durch. Wegen des gesenkten Daumens im Kontrollauschuss muss der Vizepräsident der Kommission Maroš Šefčovič das Vorhaben persönlich durchwinken.

Mitspielen im Weltraum - oder doch nur hinterherlaufen?

Thomas Jarzombek, Bundestagsabgeordneter für die CDU, ist nicht überzeugt. „Ich lese davon, dass Starlink ein Gamechanger im Krieg in der Ukraine ist, um da Daten auf offenem Feld auszutauschen. Ich glaube, diese Lösung zeigt gerade extrem ihre Leistungsfähigkeit und dann muss man sich realistisch überlegen, kommt man dagegen an?“

Jarzombek war von 2018 bis 21 Koordinator für Luft- und Raumfahrt der Bundesregierung. Schon zu seiner Amtszeit war er skeptisch gegenüber der Idee des EU-Kommissars.

„Wir sollten vor allen Dingen nicht immer die letzten sein und die, die den anderen hinterherlaufen. Das ist, glaube ich, eine klare Lernkurve. Und der Zug für diese Internetkonstellation ist nach meinem Dafürhalten mittlerweile ein gutes Stück weit einfach abgefahren. Da sind wir jetzt zehn Jahre zu spät. Es gibt böse Stimmen, die sagen, am Ende ist diese ganze Internetkonstellation nur darauf aus, eine nicht wettbewerbsfähige Raumfahrtindustrie zu subventionieren. Und das darf, glaube ich, keine Triebfeder sein.“

„Nein, das sehe ich nicht so.“ Niklas Nienaß ist Jahrgang 1992 und sitzt für Bündnis 90 / Die Grünen im Europäischen Parlament. Ob die Europäer die Megakonstellationen der US-Amerikaner dauerhaft und uneingeschränkt nutzen können, sei nicht gesagt. Deshalb könnte ein eigenes, abhörsicheres Netz noch einmal wichtig werden. Nicht nur geopolitisch, denn US-Unternehmen machten sich im Orbit gerade ziemlich breit.

„Wir haben mit einem ehemaligen Berater von Trump gesprochen und der meinte, dass es zwar eine gewisse Wildweststimmung im Weltraum gibt, damit kenne man sich ja hier aus. Und da ist das so, wer nicht da ist, der macht auch keine Regeln. Also wenn du Regeln machen willst, dann musst du eben auch präsent sein. Und das ist ganz wichtig, wenn wir als Europa mitspielen wollen, dann müssen wir auch mit auf dem Spielplatz vertreten sein.“

Wieviel "Megakonstellationen" passen noch in den Orbit?

Schon heute liegt ein erhebliches Risiko im Betrieb von Megakonstellationen. Ein Zusammenstoß mit Weltraumschrott oder gar von zwei aktiven Satelliten wird mit jedem Jahr wahrscheinlicher. Trotzdem sollte Europa selbstbewusst seinen Platz im Orbit erstreiten, fordert Nienaß. Der Abgeordnete war zuletzt in den USA unterwegs, bei Behörden und Unternehmen, um dort für verbindliche Regeln für den Betrieb von Satellitennetzwerken zu werben. Es gehe darum, festzulegen, wie die vielen neuen Satelliten bei einer drohenden Kollision sicher ausweichen oder wie sie am Lebensende entsorgt werden.

„Das ist das große Problem, was ich sehe, dass wir Wildwestbedingungen bekommen. Dann werden wir am Ende keinen Weltraum haben, an dem jeder teilhaben kann, sondern vor allen Dingen die zwei bis drei großen Firmen, die man jetzt am meisten kennt. Das sind vor allen Dingen SpaceX und Blue Origin. Es sind die Milliardäre, die da ein Wettrennen machen. Am Ende besteht die Gefahr, dass die beiden sich den gesamten Weltraum untereinander aufteilen.“

Im Europäischen Parlament hat die Debatte um die Megakonstellation „Secure Connectivity“ und eine bessere Regulierung der Raumfahrt gerade erst begonnen. Eine ganz neue und preisgünstige Generation von Trägerraketen made in Europe nimmt indes schon Formen an. Es geht dabei nicht um Ariane und Vega, sondern um Kleinraketen, die speziell für den Unterhalt einer Megakonstellation immer wichtiger werden dürften.
Der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder hält ein Raketenmodell in der Hand bei der Eröffnung der Raketenproduktion der Isar Aerospace Technologies GmbH in Ottobrunn, 7. September 2020
Eine Hightech-Industrie wie der Raketenbau ist attraktiv für jedes Bundesland - nur soll sie letztlich auch wettbewerbsfähig sein. (imago/Bayerische Staatskanzlei)

Der Charme der großen Stückzahlen: Raketen bauen wie Autos

„Das hier ist mein Baby. Ich habe hier angefangen als Projektleiter, bei der Rocket Factory. Und das hier war meine Case Study.“ In einer Fabrikhalle am Stadtrand von Augsburg führt Ibrahim Ata zwischen Metallfräsen, 3D-Druckern und Zylindern aus Edelstahl hindurch, die so groß sind wie Reisebusse.

„Und was ist das hier, ein Sauerstofftank?“ – „Das ist der Oberstufentank, flugqualifiziert. 300er Serie Edelstahl, austenitisch. Das heißt, bei tiefkalten Temperaturen wird der sehr fest. Das heißt, man kann das sehr dünn machen. Da macht es keinen Sinn mehr, das in Karbon zu machen, weil man da die ganzen Angstlagen hat. Da kostet ein Kilogramm mit Resin und Bearbeitung und Verschnitt 300 bis 400 Euro. Das hier hat einen 5-Euro-Kilogrammpreis.“

Die Rocket Factory Augsburg ist eine Tochter des Raumfahrtkonzerns OHB in Bremen. Der Mutterkonzern baut Teile der Ariane-Raketen. Doch Firmengründer und „Chief Operating Officer“ Stefan Brieschenk hat eine eigene Vorstellung vom Raketenbau: „Das ist natürlich genau der Punkt. Industrialisierung bedeutet große Stückzahlen und ich muss natürlich im Jahr mindestens 10 bis 20 mal fliegen. Unsere Vision ist, dass wir jede Woche einmal fliegen.“

In Augsburg will man die Fehler der traditionsreichen europäischen Raketenbauer vermeiden. Nicht jede Rakete mit ihren gewaltigen Triebwerken verteilt über viele ESA-Staaten fertigen, sondern weitgehend in Eigenregie. Es ist der Ansatz, den die US-Unternehmen erfolgreich vorgelebt haben.

„Wir wollen ja im Preis mithalten mit den großen Raketen. Das heißt, die echte Disruptionen, die wir versuchen anzugehen, ist, einen kleinen Launcher zu bauen, der genau die gleichen Preispunkte anbieten kann wie so ein großes ‚Heavy Launch Vehicle'. Wenn Sie Raketenmotoren bauen, die so groß sind wie ein Automobilmotor, dann kann ich das recht einfach automatisieren. Das beste Beispiel sind unsere Automobilbauer. Pro Tag schafft es ein Techniker, vier Motoren zusammenzubauen. Und das ist natürlich bei großen Raketenmotoren deutlich schwerer. Da dauert sowas Wochen.“

Startup-Konkurrenz belebt das Geschäft

Ende 2022 soll die Rakete „RFA One“ nach aktuellem Zeitplan das erste Mal von Norwegen aus starten. Auch andere europäische Start-Ups entwickeln neue Kleinraketen. Sie sollen vorerst Nutzlasten zwischen einigen hundert bis 1600 Kilogramm starten. Aber eines Tages könnten sie auch der Vega oder sogar der Ariane Konkurrenz machen. Und das sei durchaus gewollt, sagt Thomas Jarzombek: "Konkurrenz ist doch gut. Konkurrenz belebt das Geschäft. Und genau das wollen wir ja erzielen.“

Unter der Ägide von Raumfahrtkoordinator Jarzombek wurde das staatliche Anreizprogramm ins Leben gerufen. Die Start-Ups erhielten die Gelder anders als bei der Ariane-Entwicklung nicht schon vorab, sondern mussten schrittweise mit technologischen Leistungen überzeugen. Zehn Millionen Euro erhielt Isar Aerospace aus Ottobrunn. Elf Millionen gingen an die Rocket Factory Augsburg. Die ausgezahlten Summen sind vergleichsweise klein, der Löwenanteil der Entwicklungskosten wird über private Investoren gedeckt. Jarzombek:

„Das ist auch ein Philosophieunterschied innerhalb Europas. Wir haben aus Frankreich oft genug gehört, Europa sei zu klein für mehrere Anbieter. Wir in Deutschland glauben daran: Wir brauchen immer mehrere Anbieter.“

Die neuen europäischen Raketenanbieter müssen ihre Fähigkeit erst noch unter Beweis stellen – und sie stehen im globalen Wettbewerb. Über 150 Start-Ups weltweit wetteifern um den lukrativen Markt der Kleinsatelliten und Megakonstellationen. Der Raumfahrtexperte Klaus-Peter Ludwig geht davon aus, dass nicht einmal 15 davon die nächsten Jahre überstehen. Werden die Firmen aus Deutschland, Schottland oder Spanien sich behaupten? Die europäische Raumfahrtagentur ESA und die EU wären die wichtigsten Nutzer der Raketen und sollten am Erfolg größtes Interesse haben.
Der russische Kosmonaut Anton Schkaplerow übergibt symbolisch die ISS-Schlüssel an den US-amerikanischen Astronauten Thomas Marshburn.
Die enge Gemeinschaft der ISS-Besatzung - ein Vorbild für die Zusammenarbeit jenseits von Ideologien und Rivalitäten (imago-images / UPI-Photo / NASA)

Relikt einer friedvolleren Welt

Zurück im europäischen Astronautenzentrum in Köln. Der russische Krieg in der Ukraine dominiert die Weltpolitik, aber Matthias Maurer befindet sich gedanklich noch an Bord der ISS, wo Raumfahrer aus Russland und anderen Ländern gut zusammenarbeiten:

„Das nur mal so als Beispiel, wie gut die Atmosphäre oben war: Wir haben natürlich auch Essen zusammen geteilt, zusammen gefeiert. Zu meinem Geburtstag gab es Glückwünsche aus jedem Kontrollzentrum der Welt, und ausdrücklich auch aus Moskau.“

Trotz anderslautender Drohungen wird die Raumstation wohl vorerst weiter bestehen, zu verwoben sind die Aufgaben zwischen den Partnerländern. Aber sie ist nur noch das Relikt einer friedvolleren Welt 400 Kilometer über dem Boden. Josef Aschbacher:

„Früher, das heißt vor dem 24. Februar, war die Kooperation eigentlich auf globaler Ebene möglich, mit Russland, China, Indien, Japan, Amerika und vielen anderen Nationen. Und das hat sich seit dem 24. Februar drastisch geändert.“

Der Krieg als Antreiber der Autarkie

Seither hat auch die Megakonstellation Secure Connectivity Rückenwind bekommen. Immerhin soll sie auch von Sicherheitsbehörden oder den europäischen Streitkräften genutzt werden, deren Waffensysteme wie überall auf der Welt auf stabile und sichere Internetverbindungen angewiesen sind. Ob die Satelliten im Orbit unangetastet bleiben, ist dabei eine offene Frage: Nach den USA und China haben mittlerweile auch Indien und Russland demonstriert, dass sie Satelliten im Notfall abschießen können. Erst im April 2022 haben chinesische Forscher einen Bericht veröffentlicht, wie eine Megakonstellation wie Starlink gestört oder sogar vernichtet werden kann. Klaus-Peter Ludwig:

„Wir müssen jetzt über die Blöcke reden. Das ist natürlich eine der Konsequenzen der geopolitischen Entwicklungen. Das ist nicht nur Russland, das wird auch China sein, wenn wir uns Taiwan angucken und was da an Säbelrasseln läuft, dann werden wir in Blöcken agieren müssen. Und dann werden wir sicherlich einen staatlichen Bedarf mit etwas anderen Kosten abdecken als im freien Wettbewerb.“

Das Gebot der Stunde heißt wohl, Europas Raumfahrt nicht nur unabhängig von Russland weiter zu betreiben, sondern sie im Kern autark aufzustellen. Ein eigenes hochsicheres Satellitennetzwerk wäre ein solcher Schritt. Die ESA diskutiert sogar die Idee, seine Astronautinnen und Astronauten ohne Hilfe der Amerikaner starten zu lassen – die Entwicklungskosten werden derzeit ermittelt. Die Machtverhältnisse können sich auch im All schnell verschieben. Die Fähigkeit, Nutzlasten ins All zu starten, ist dabei zentral. Eine Aufgabe, die Josef Aschbacher nun rigoros angehen will:

„Durch den Ukrainekrieg ist es vollkommen klar geworden, dass Europa diesen unabhängigen Zugang braucht. Wir sind derzeit abhängig von anderen Nationen. Das ist für mich als Generaldirektor der ESA ein ganz starkes Signal, dass ich mit meinen Mitgliedsländern Lösungen suchen muss, um den Weltraum in Europa robuster aufzustellen, unabhängiger aufzustellen und einfach sicherzustellen, dass genau das, was wir machen müssen, nämlich Satelliten in den Weltraum schicken, um das tägliche Leben zu ermöglichen, dass das gewährleistet sein muss.“