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Europa und Exportnation Deutschland
Kritische Blicke auf den "wirtschaftlichen Hegemon"

Im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedsstaaten kam Deutschland 2008 gut durch die Finanzkrise. Auch in der Coronakrise wird der Bundesrepublik wohl eine Schlüsselrolle zukommen. Deutschlands Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik sorgt in Europa für alte und neue Konflikte.

Von Caspar Dohmen | 26.06.2020
Das Bild zeigt einen Arbeiter an einem Montageband in einer VW-Autofabrik. Der Arbeiter trägt eine Mundnasenmaske.
Der Autobauer Volkswagen hat seine Produktion in Deutschland Ende April wieder hochgefahren (dpa/ Hendrik Schmidt)
"Deutschland ist schon seit langem ein wirtschaftlicher Hegemon in der Europäischen Union, auch wenn den meisten von uns Deutschen das Bild nicht gefällt. Aber wir machen ungefähr ein Viertel, fast ein Drittel der europäischen Wirtschaft aus", sagt Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Und das wirtschaftliche Gewicht Deutschlands innerhalb der EU könnte sich durch die jetzige Krise noch weiter vergrößern. Denn andere Länder sind wesentlich stärker von der Virus-Pandemie betroffen.
Dazu lässt Deutschlands Haushalt - anders als der in vielen anderen EU-Mitgliedstaaten - deutlich mehr Spielraum, die finanziellen Auswirkungen bei Unternehmen und Bürgern abzufedern.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Institutes fur Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin
Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher (imago images / IPON)
Politikwissenschaftler Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik: "Das ist schon deutlich mehr. Wenn man sich die Zahlen anguckt, die EU-Kommission muss ja staatliche Beihilfen immer genehmigen, um den fairen Wettbewerb im Binnenmarkt zu sichern und hat die Regeln gelockert und seit Beginn der Coronakrise ist Deutschland für etwa 50 Prozent dieser staatlichen Beihilfen in der gesamten EU verantwortlich. Das macht mehr als doppelt so viel als beispielsweise Italien oder Frankreich aus und das wird natürlich die Unterschiede in der EU noch mal verstärken."
Einerseits wünscht sich die EU seit vielen Jahren höhere Ausgaben des deutschen Staats zum Beispiel für den Ausbau der Infrastruktur und Bildung. Dieser Wunsch geht nun in Erfüllung. Denn die Bundesregierung hat die schwarze Null fallen gelassen und Zusatzausgaben in Rekordhöhe beschlossen. Andererseits könnte Deutschlands wirtschaftliches Gewicht im Gefüge der EU und damit sein Einfluss zu nehmen – wieder einmal. Dabei ist Deutschland schon heute sehr stark.
Hauptsächlich beladen mit Containern aus China fährt ein Containerschiff elbaufwärts in den Hamburger Hafen. Seit dem Ausbruch des Corona-Virus lahmt die chinesische Wirtschaft und die Weltwirtschaft insgesamt. Die Börsen sind weltweit eingebrochen, die Angst vor einer weltweiten Wirtschaftskrise wächst.Foto: Rothermel *** Mainly loaded with containers from China, a container ship sails up the Elbe to the Port of Hamburg Since the outbreak of the corona virus, the Chinese economy and the global economy as a whole have been paralyzed The stock markets have collapsed worldwide, fears of a global economic crisis are growing Photo Rothermel
Exporteinbruch wegen Coronakrise - "Ganz wichtig, dass es gelingt, die europäische Konjunktur anzuschieben"
Der Exporteinbruch in Deutschland zeigt, dass es "historische Zeiten mit historisch großen negativen Effekten" sind, sagte der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr, im Dlf.
Bereits nach der Finanzkrise von 2008 startete Deutschland so schnell durch, wie kein anderes Industrieland. Zwei Gründe dafür nennt der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft Michael Hüther:
"Die besondere Art des deutschen Wettbewerbskerns, Industrie und Dienstleistungen zu kombinieren, differenzierte kundenorientierte Lösungen zu angemessenen Preisen, aber innovativ, raus zu bringen, hat auch dazu geführt, dass man auf den Weltmärkten relativ flexibel reagieren konnte als es an der einen Ecke schwächer, an der anderen vielleicht etwas besser wurde. Die zweite Ursache ist schon auch das relativ konsistente Handeln der Wirtschaftspolitik."
EU-Länder auseinandergedriftet
Deutschland hatte aber auch Glück. Denn es hatte genau die Güter im Angebot, die die Schwellenländer für den Aufbau ihrer Wirtschaft einkauften oder die Konsumenten dort verlangten.
Ökonom Heiner Flassbeck, früher Chefvolkswirt bei der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung: "Deutschland wurde damals in erster Linie von der Weltwirtschaft rausgezogen, China hat eine ganz große Rolle gespielt."
Bereits seit der Finanz- und Eurokrise sind die Länder in der EU wirtschaftlich ein Stück auseinandergedriftet. Wie stark – das zeigt ein Vergleich der Volkwirtschaften von Deutschland und Italien. Beide gehören zu den sechs Gründungsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, aus der später die Europäische Gemeinschaft und dann die Europäische Union wurde. Jahrzehntelang waren beide Länder auf einem ähnlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstand. Aber während Deutschland nach der Finanzkrise schnell an alte Wachstumserfolge anknüpfte, gelang Italien dies nicht. Sein Bruttoinlandsprodukt lag 2019 sogar immer noch unter dem Niveau von 2008 – mit erheblichen Folgen für die Bevölkerung.
Heiner Flassbeck , aufgenommen am 10.10.2014 auf der 66. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main.
Ökonom Heiner Flassbeck. (picture alliance / Frank May)
Der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck: "Nach 2010, sind ja Länder wie Frankreich und Italien überhaupt nicht mehr aus der Misere herausgekommen. Das wird ja in Deutschland nicht zur Kenntnis genommen, aber die Arbeitslosigkeit in Frankreich, in Italien war auch kurz vor Corona noch sehr hoch."
Vor der Corona-Pandemie war in Italien jeder 16. arbeitslos, in Frankreich jeder elfte, in Spanien und Griechenland war sogar fast jeder Fünfte ohne Arbeit. In Deutschland hingegen nur jeder 25.
Der Politikwissenschaftler Nicolai von Ondarza: "Wenn jetzt nach der Corona-Pandemie noch mal oben drauf kommen würde, dass sich Deutschland besser und schneller wieder erholen würde, das würde natürlich diese Ungleichgewichte in der EU noch mal verstärken und dann eben nicht nur wirtschaftlich größere Spannungen auslösen, sondern eben auch politisch."
Dabei hatten sich die Mütter und Väter des Euro die Entwicklungen ganz anders vorgestellt. Sie wollten, dass die Euroländer sich durch die gemeinsame Währung wirtschaftlich annähern.
Wie konnte es dazu kommen?
Der Makroökonom Marcel Fratzscher vom DIW: "Das hat auch die ersten zehn Jahre hervorragend funktioniert: Wir haben eine Konvergenz gesehen. Aber die globale Finanzkrise 2008/2009 war im Prinzip ein Wendepunkt, der das Ganze zum Brechen gebracht hat."
Aber warum genau ist Deutschland in den vergangenen 20 Jahren gestärkt aus Wirtschaftskrisen hervorgegangen – anders und besser als viele europäische Partner?
Deutschland profitierte zum Beispiel davon, dass es - gegen den allgemeinen Trend - an einem stärkeren industriellen Kern festgehalten hat. Der Industrieanteil ist etwa doppelt so groß wie in Großbritannien, Frankreich oder den USA.
Außerdem zahlte sich - gerade in Krisen - die ausgeprägte Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aus, ganz charakteristisch Mitte der 90er-Jahre. Damals begnügten sich die Gewerkschaften einige Runden mit moderaten Lohnforderungen und stärkten damit die Wettbewerbsfähigkeit hiesiger Unternehmen gegenüber ausländischen Konkurrenten.
Hinzu kamen kluge politische Entscheidungen, wie die Ausdehnung des Kurzarbeitergeldes in der Finanzkrise von 2008 von einem auf zwei Jahre.
Grafik zeigt die deutschen Handelspartner
Deutschlands Handelspartner (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
Wenn Länder außerdem mehr Waren und Dienstleistungen exportieren als importieren, erzielen sie einen Leistungsbilanzüberschuss. Deutschland hat seinen ohnehin schon hohen Leistungsbilanzüberschuss seit dem Ende der Finanzkrise noch einmal fast verdoppelt – auf 245,5 Milliarden Euro in 2019. Das war nur möglich, weil andere Länder mehr importieren als exportieren.
Deutschlands Leistungsbilanzüberschüsse belasteten aber andere Handelspartner, gerade auch in Europa, kritisiert Heiner Flassbeck. Das werde hier zu Lande oft unter den Tisch gekehrt, genauso wie die Nebenwirkungen dieses Weges für Deutschland. Wie konnte es dazu kommen?
Die Ursachen finden sich in der Wirtschaftskrise Deutschlands Mitte der 1990er-Jahre. Der durch die Wiedervereinigung ausgelöste Wirtschaftsboom war vorbei und Firmen lagerten erhebliche Teile ihrer Produktion nach Osteuropa und Asien aus. In Deutschland stieg die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen auf über vier Millionen Menschen.
Eine Rede und die Folgen
Die junge Berliner Republik war Europas Schlusslicht beim Wachstum. Das US-amerikanische Magazin "Newsweek" sprach von der "deutschen Krankheit" und sonntagsabends malten Politiker, Industrielobbyisten und Experten regelmäßig in der ARD-Talksendung Sabine Christansen die Zukunft des Landes in düsteren Farben.
Am 26. April 1997 hielt der damalige Bundespräsident Roman Herzog eine einschneidende Rede: "Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von lieb gewordenen Besitzständen."
Sechs Jahre später beschloss die rot-grüne Bundesregierung die Agenda 2010 – für sie ein Umbau des Sozialstaats, für Kritiker ein Abbau des Sozialstaats.
Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) erklärte im Bundestag: "Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen. Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich Tätige und auch Rentner. Wir werden eine gewaltige gemeinsame Anstrengung unternehmen müssen, um unser Ziel zu erreichen, aber ich bin sicher, wir werden es erreichen."
Das Sozialsystem und der Arbeitsmarkt wurden umgebaut. Die Arbeitslosigkeit sank. Der Anteil der Niedrigverdiener stieg. Das Ergebnis: Die Wirtschaft fing an, wieder stärker zu wachsen: 2010 bezeichnete der britische Economist Deutschland als "Europas Maschine" und im viel beachteten Ranking des Weltwirtschaftsforums zur Messung der Wettbewerbsfähigkeit von Staaten kletterte Deutschland von Platz 15 im Jahr 2005 auf Platz 3 im Jahr 2018.
Grafik zeigt die TOP 10 der deutschen Exportgüter
Exportgüter Deutschlands (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
Das deutsche Exportgeschäft bekam aber auch durch den Euro einen Schub. Marcel Fratzscher vom DIW: "Denn wenn Sie keine Wechselkursschwankungen mehr haben, wenn Sie viel leichter in andere europäische Länder exportieren können, dann profitieren natürlich vor allem die Länder, die offen sind, die sehr stark von Exporten abhängig sind. Also sprich, Deutschland ist sehr, sehr klar einer der großen Gewinner der europäischen Integration und auch des Euros."
Der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck gibt zu bedenken, dass Deutschland seit der Einführung des Euro seinen wirtschaftlichen Erfolg aber auch durch unfaires Verhalten gemehrt habe – und zwar zu Lasten seiner Europartner. Flassbeck war 1998/99 zwei Jahre Staatssekretär im Bundesministerium für Finanzen.
"Das erste, was Deutschland gemacht hat, es hat seine Löhne gedrückt via Politik. Die Politik hat über die Agenda 2010 und Hartz IV die Löhne gedrückt, und dadurch hat man sich einen massiven Vorteil verschafft, der in der Währungsunion niemals hätte auftreten dürfen."
Anfang der 2000er-Jahre ex- und importierte Deutschland noch etwa in gleichem Umfang Waren- verfügte also noch über eine ausgeglichene Leistungsbilanz.
Seither hat sich der positive Saldo massiv vergrößert - zu D-Mark-Zeiten ein Ding der Unmöglichkeit. Denn der Wechselkurs von exportstarken Ländern steigt, weil andere Länder dessen Währung benötigen, um dessen Waren zu kaufen. Aus diesem Grund war die D-Mark auch immer wieder aufgewertet worden.
Defizit in der sogenannten Kapitalbilanz
In Vor-Eurozeiten hätten die europäischen Handelspartner ihre eigenen Währungen abwerten können, um so ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Dieser Weg war ihnen danach versperrt. Außerdem profitierten die deutschen Exporteure von der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank.
Als gemeinsame Notenbank muss die EZB eine Geldpolitik für alle Eurostaaten machen, von Finnland bis Portugal. Ein Spagat, wenn die wirtschaftliche Lage in den Ländern sehr unterschiedlich verläuft, wie es seit der Finanz- und Eurokrise der Fall ist. Die Notenbank senkte im Herbst 2014 den Leitzins auf ein historisches Tief von 0,05 Prozent und flutete mit dem Ankauf von Anleihen ab dem Frühjahr 2015 den Markt mit Geld.
Damit hielt sie die Währungsgemeinschaft zusammen und verhinderte wohl eine Deflation, trieb aber gleichzeitig – gewollt und erfolgreich – den Wechselkurs nach unten. Der Euro ist – gemessen am Kurs des Dollar – heute deutlich billiger als vor zehn Jahren. Das befeuerte die Exporte aus der gesamten Eurozone.
Deutschland kann den Wechselkurs kaum beeinflussen, worauf Wolfgang Schäuble als Finanzminister bei einem Interview im April 2017 hinwies – angesprochen auf den hohen Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands, der bei vielen Staaten für Ärger sorgt:
"Natürlich sind acht Prozent ein bisschen hoch und deswegen wäre es besser, wir wären bei vier Prozent. Aber nun ist das eben so. Für die Stärke der deutschen Volkswirtschaft ist der Wechselkurs des Euro zu schwach, nicht für die Stärke der Volkswirtschaft der Eurozone als Ganzes."
Grafik zeigt die reale Entwicklung der Tariflöhne in Europa von 2000 bis 2020
So entwickeln sich die Löhne in Europa (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
Die EU toleriert eigentlich nur einen Überschuss eines Mitgliedslandes in Höhe von maximal sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Deutschland liegt seit Jahren ungestraft über dieser Quote, obwohl Brüssel die Bundesregierung bereits im März 2014 dafür rügte. Auch die US-Regierung und der Internationale Währungsfonds, IWF, prangerten schon mehrmals die einseitige Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf Exporte und die hohen Leistungsbilanzüberschüsse an.
Deren Kehrseite: Deutschland hat ein Defizit in der sogenannten Kapitalbilanz. Sie umfasst alle Geld- und Kapitaltransaktionen zwischen einem Land und dem Ausland. Definitionsgemäß ist sie genauso hoch wie die Leistungsbilanz - nur mit umgekehrten Vorzeichen. Weil Deutschland 2019 absolut das größte Plus eines Staates in der Leistungsbilanz hatte, verzeichnete es entsprechend des größten Minus eines Staates in der Kapitalbilanz.
Furcht vor dem Ende des einheitlichen Binnenmarktes
An den Folgen scheiden sich die Geister. Manche Betrachter halten es für sinnvoll, wenn alternde Gesellschaften wie Deutschland Kapital im Ausland investieren. Denn das führe zu Wachstum im Ausland und Einnahmen aus den Investments im Inland. Aber die Rechnung geht natürlich nur auf, wenn das Geld rentabel angelegt wird.
Das ging gründlich schief als Deutschland mit seinen Ersparnissen Immobilien-Schrottpapiere in den USA kaufte oder Autos und Maschinen "Made in Germany" gegen Lehman- Zertifikate oder griechische Staatsanleihen tauschte. Auf diese Investments musste Deutschland mehrere hundert Milliarden Euro abschreiben.
Makroökonom Marcel Fratzscher: "Die letzten 30 Jahre zeigen, dass deutsche Unternehmen, deutsche Investoren vor allem auch deutsche Banken im Ausland ihr Geld verzockt haben, zu einem erheblichen Maß. Also viel klüger beraten wären, das Geld in Deutschland anzulegen."
Grafik zeigt deutsche Exporte und Importe von April 2019 bis April 2020
Deutsche Exporte und Importe von April 2019 bis April 2020 (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
Statt seine Leistungsbilanzüberschüsse abzubauen, drängte Deutschland nach der Finanzkrise seine europäischen Partner, es ihm gleich zu tun. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte bei dem Davoser Treffen der Wirtschaftselite Anfang 2013.
"Auch in Deutschland zum Beispiel war die Arbeitslosigkeit erst einmal fünf Millionen Arbeitslose, bevor die Bereitschaft da war, solche Strukturreformen durchzusetzen. Meine Schlussfolgerung ist also, wenn Europa heute in einer schwierigen Situation ist, müssen wir heute die Strukturreformen durchführen, damit wir morgen besser leben können."
Viele Länder in Europa bauten seit der Finanzkrise Sozialsysteme und Arbeitsmärkte um. Frankreich, Spanien, Italien, Portugal und selbst Griechenland verzeichneten 2019 einen deutlichen Handelsbilanzüberschuss. Allerdings blieb die Arbeitslosigkeit in vielen Ländern hoch – ebenso wie die Unzufriedenheit der Bürger – weil eben das Wirtschaftswachstum insgesamt schwach war. Und dann kam die Corona-Pandemie.
Spaniens Regierung fürchtet bereits das Ende des einheitlichen Binnenmarktes, wenn etwa einige reiche Länder ihre Unternehmen viel stärker stützten als andere Länder. In normalen Zeiten würde die EU-Wettbewerbskommission solchen Staatshilfen einen Riegel vorschieben. Aber es sind keine normalen Zeiten und die Regeln sind gelockert.
Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln.
Ökonom Michael Hüther (picture alliance / Michael Kappeler)
Kritik an der Krisenstrategie Deutschlands findet der Wirtschaftswissenschaftler Michael Hüther indes wohlfeil: "Deutschland ist immer auffällig, wenn es zu schwach ist und wenn es zu stark ist. Wenn es zu schwach ist, meckern sie alle, wir müssen mehr tun und die deutsche Wirtschaft zieht andere nach unten. Wenn wir mehr tun als andere, gibt es dann vor allem Dingen Sorgen über Wettbewerbsstrukturen, weil vielleicht unsere Unternehmen, die überleben, andere aufkaufen könnten."
Deutschland bemüht sich
Es ist keine ausgemachte Sache, dass Deutschland gut durch die Krise kommt. Denn anders als nach der Finanzkrise, ist Deutschland auch von einer Strukturkrise in der Automobilwirtschaft betroffen – seiner wichtigsten Branche. Außerdem haben sich die Kräfteverhältnisse in der Weltwirtschaft verschoben - hin zu China.
Zudem sind die Beziehungen zwischen China und den USA angespannt und - anders als in der Finanzkrise – gibt es bislang kein gemeinsames Bemühen der großen Industrieländer darum, die Weltwirtschaft wieder flott zu machen. Für Deutschland wächst in dieser Lage die Bedeutung seiner europäischen Partner.
Europa benötigt Berlin, um die wirtschaftlichen Folgen der Krise zu bekämpfen. Umgekehrt benötigt aber auch Deutschland die europäischen Partner, damit seine Wirtschaft wieder flott wird. Ein Hegemon wird dafür aber nicht gebraucht.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Der Politikwissenschaftler Nikolai von Ondarza: "Die EU ist eigentlich darauf ausgerichtet, dass sie keinen einzelnen Hegemon hat." Wie beispielsweise die Nato die USA. Wichtig sei ein Gleichgewicht zwischen den EU-Mitgliedstaaten.
"Wenn Deutschland hier zu dominant wird, dann werden natürlich Fragen häufiger gestellt wie: Kann das Gleichgewicht noch zwischen einem Deutschland, bevölkerungsgrößter, wirtschaftlich größter Staat, gewährleistet werden zwischen den anderen Staaten. Von daher lastet, auch gerade wegen dem Brexit, wodurch die deutsche Rolle noch mal exponierter geworden ist, schon auch Verantwortung auf der deutschen Politik eher eine ausgleichende Rolle in der EU einzunehmen."
Deutschland bemüht sich. Das zeigt sich an der Bereitschaft der Bundesregierung, eine Menge Geld in die Hand zu nehmen, um den europäischen Partnern zu helfen - besonders den stark von der Krise gebeutelten Ländern wie Italien und Spanien. Deutschland setzt sich sogar für Zuschüsse der EU für Staaten in der Eurokrise ein – eine kleine Revolution.
Viel wäre für Europa gewonnen, wenn sich durch den Wiederaufbaufonds und neue Weichenstellungen in der EU die Wirtschaftskraft aller EU-Länder wieder annähern würde. Es wäre elementar dafür, dass das Friedensprojekt Europa bewahrt wird, das ganz erheblich auf Wandel durch gemeinsamen Handel beruht.