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Revolte des Musterschülers
Großbritannien und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte

Mehr Souveränität für die Gerichte und das Parlament im Vereinigten Königreich will die britische Regierung. Mit der sogenannten "Bill of Rights" will sie sich von der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg lösen. Doch das könnte neue Probleme schaffen.

Von Burkhard Birke | 01.08.2022
Fassade des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg
Vor diesem Straßburger Gericht wurde Britannien immer wieder verklagt und musste manche politisch gewollte Entscheidung zurücknehmen (imago images / SGM)
„Die geplanten Gesetzesänderungen könnten den Schutz der Menschenrechte schwächen, und ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Augenblick im Vereinigten Königreich.“
Dunja Mijatovic läutet die Alarmglocken. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats hat Ende Juni das Vereinigte Königreich besucht und sich intensiv mit der sogenannten Bill of Rights befasst, dem Gesetzesvorhaben, mit dem die konservative Regierung ein altes Versprechen einlösen will: Das Vereinigte Königreich dem vermeintlichen Diktat des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg zu entziehen. Justizminister Dominic Raab:
„Das Vereinigte Königreich beabsichtigt als Staat weiterhin Teil der Europäischen Menschenrechtskonvention zu bleiben. Hauptziele der Reform sind: die typischen Rechte wie Redefreiheit zu stärken, also die Freiheit die alle anderen Freiheiten schützt. Darüber hinaus wollen wir die Gewaltenteilung im Land stärken, indem wir die Vorrangstellung des Obersten Gerichtshofes bestätigen und klarstellen, dass britische Gerichte unter keinen Umständen der fallweisen Rechtsprechung aus Straßburg folgen müssen, sondern die Freiheit besitzen, davon abzuweichen. Und wir werden sicherstellen, dass jedwede Ausweitung von Menschenrechten – im Gegensatz zu ihrer Auslegung – nur mit entsprechender demokratischer Kontrolle durch die gewählten Mitglieder dieses Parlamentes stattfindet.“
Dominic Raab, britischer Justizminister, im Frühjahr 2022
Wünscht sich weniger Einmischung aus Straßburg: der britische Justizminister Dominic Raab (picture alliance / empics / Joe Giddens)
Besonders die letzten beiden Punkte spielen in der öffentlichen Debatte im Vereinigten Königreich eine große Rolle, nicht erst seit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unlängst den Abtransport illegaler Flüchtlinge nach Ruanda buchstäblich in letzter Minute durch eine einstweilige Verfügung gestoppt hatte.

Straßburger Richter verhindern Abschiebeflug aus Großbritannien

Die britische Regierung hat mit Ruanda ein Abkommen geschlossen, wonach illegal nach Großbritannien eingereiste Personen zum Asylverfahren in das ostafrikanische Land gebracht werden sollen. Ein erster Flug sollte Anfang Juni mit mehreren Dutzend Personen starten. In etlichen Verfahren hatten Menschenrechtsanwälte den Abtransport zahlreicher Geflüchteter verhindert. Am 14. Juni sollte dann eine Maschine mit sieben Personen nach Ruanda fliegen.
Das Gericht mit Sitz in Straßburg hatte dann jedoch in einem Eilverfahren entschieden, dass es vorerst unzumutbar sei, sie auszufliegen. Es sei nicht sichergestellt, dass es faire Verfahren in Ruanda gebe; die Entscheidung müsse detaillierter geprüft werden, so das Straßburger Gericht.
Die britische Regierung gab im betreffenden Fall schließlich nach, allerdings nicht ohne heftige Kritik am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. In einem Zeitungsinterview unterstellte Innenministerin Priti Patel, die Entscheidung sei politisch motiviert gewesen. Im Parlament gab sie sich jedoch etwas zurückhaltender:
„Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat nicht entschieden, dass unsere Politik der Zwangsumsiedlung illegal ist, aber er hat den Abtransport von drei Personen des Fluges verboten. Diese Verbote gelten für verschiedene Zeitspannen, bedeuten aber kein generelles Verbot. Obwohl die Intervention des Straßburger Gerichtes angesichts der anderslautenden und wohl durchdachten Entscheidungen unserer nationalen Gerichte enttäuschend und überraschend war, werden wir unsere Politik weiterverfolgen.“

Einstweilige Verfügungen aus Straßburg verhindern

Vorläufige Eilentscheidungen des Menschenrechtsgerichtshofs nach der sogenannten „Rule 39“ waren und sind nicht rechtsbindend. Wären die Betroffenen jedoch ausgeflogen worden und das Gericht in Straßburg hätte die Ausweisung im Nachgang grundsätzlich für rechtswidrig befunden, so hätte die britische Regierung die Konsequenzen tragen müssen: Sprich die Menschen wieder zurückholen müssen. Genau das will Justizminister Dominic Raab jetzt mit der Bill of Rights offenbar verhindern. Dabei war es angeblich Zufall, dass das Gesetz nur wenige Tage nach der Eilentscheidung in Straßburg im britischen Parlament eingebracht wurde.
„Wenn drei Gerichte im Vereinigten Königreich die Klagen abweisen, dann ist es nicht richtig, dass das Straßburger Gericht in dieser Form interveniert. Unser Gesetz 'Bill of Rights' wird das korrigieren und nicht mehr zulassen, dass das Straßburger Gericht einstweilige Verfügungen gegen uns erlassen kann. Ich denke, das ist richtig so, gerade weil wir uns an die Menschenrechtskonvention halten wollen, genau das aber auch vom Straßburger Gericht verlangen.“
Wie die Menschenrechtskonvention eingehalten werden kann, ohne dass die britische Regierung Beschlüsse des Menschenrechtsgerichts anerkennt, bleibt bei dieser Argumentation allerdings ein Rätsel.
Die Eilentscheidung aus Straßburg in Sachen Ruandaflug war jedenfalls Wasser auf die Mühlen von Dominic Raab und all den europaskeptischen Tories, die nach der EU und dem EuGH, dem für alle EU-Fragen zuständigen Europäischen Gerichtshof, im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Wurzel allen Übels erkennen. Das Straßburger Gericht beschränke die Souveränität des Vereinigten Königreichs, britischer Gerichte und des Parlamentes, so die Argumentation.

Europarat und EGMR gehen maßgeblich auf Churchill zurück

Offensichtlich sei alles, was europäisch im Namen trägt, ein leichtes Angriffsziel, mit dem sich auch von den negativen Auswirkungen des Brexit ablenken lasse, glaubt Piers Gardener, Menschenrechtsanwalt und Vorsitzender des Sonderausschusses des Rates der Anwälte beim Europarat.
„Einige haben überhaupt nicht verstanden, dass das Europäische Menschenrechtsgericht überhaupt nichts mit der EU zu tun hat. Sehr viele Tories meiner Meinung nach haben das nie richtig verstanden und sind der Meinung, einer falschen Meinung, dass das irgendwie eine europäische Einmischung in unser Rechtssystem ist, was überhaupt nicht der Fall ist.“
Es war der konservative britische Premierminister Winston Churchill, der im Nachgang zum Zweiten Weltkrieg am 5. Mai 1949 mit neun weiteren europäischen Staaten den Europarat gründete. Heute, nach dem Ausscheiden Russlands infolge des Ukrainekriegs, zählt der Europarat noch 46 Mitglieder, darunter auch die Türkei. Churchill war auch maßgeblich an der Formulierung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Gründung des Menschenrechtsgerichtshofes beteiligt.
Der Europarat verstand und versteht sich als Wächter über die Einhaltung von Menschenrechten und Demokratie in Europa. Als solcher hat er sicher die Einigung Europas beflügelt, ist aber völlig losgelöst von der EU und ihren Institutionen. In der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichten sich die Mitgliedsstaaten des Europarats zur Einhaltung der fundamentalen Menschenrechte wie Redefreiheit, Religionsfreiheit, das Recht auf Leben und Privatsphäre etc.

Vereinigtes Königreich gehörte bisher zu den "Klassenbesten"

Das Vereinigte Königreich galt bislang als vorbildlich bei der Einhaltung der Bestimmungen der Menschenrechtskonvention. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Labour-Regierung unter Premierminister Tony Blair mit dem Human Rights Act 1998 die 16 fundamentalen Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention direkt im britischen Recht verankert hat. Piers Gardener:
„Kein anderes europäisches Land, soviel ich weiß, außer vielleicht den Niederlanden nimmt so viel Akt von der Konvention im innerstaatlichen Recht so wie wir jetzt. Also diese Änderung wird uns zurück in die normale Gruppe bringen oder vielleicht – ja – ein bisschen hinten. Das wäre natürlich schade, aber noch mit der Menschenrechtskonvention überhaupt vereinbar.“
Denn grundsätzlich steht es jedem Land frei, wie es die Europäische Menschenrechtskonvention einhält. Weshalb aber ein funktionierendes System, wie es der Human Rights Act – das Menschenrechtsgesetz im britischen Recht garantiert, ändern? Zumal das Vereinigte Königreich bei der Einhaltung der Menschenrechte vorbildlich ist in Europa. Daniel Höltgen, Sprecher des Europarates:
„In den vergangenen Jahren gehörte das Vereinigte Königreich unter unseren Mitgliedsstaaten regelmäßig zu den Ländern, die die wenigsten Klagen vor dem Straßburger Gericht zu verantworten hatten. Man könnte auch sagen, Britannien gehört, was Klagen beim Menschenrechtsgerichtshof betrifft, zu den ‚Klassenbesten‘.“

Bekannte Straßburger Urteile gegen Britannien

Allerdings gab es in der Vergangenheit immer wieder strittige Fälle, in denen sich das Vereinigte Königreich dem Urteil der Straßburger Richter beugen musste.
2005 klagte John Hirst dagegen, dass ihm als Sträfling das Wahlrecht verweigert wurde. Per Gesetz hatte das Vereinigte Königreich sämtlichen Strafgefangenen das Wahlrecht entzogen, was aus Sicht des Straßburger Menschenrechtsgerichtes inakzeptabel war.
Noch spektakulärer war indes die juristische Auseinandersetzung um die Auslieferung von Abu Qatada nach Jordanien. Der fundamentalistische Islamist palästinensischer Herkunft mit jordanischem Pass lebte seit 1993 in Großbritannien und sollte in Jordanien wegen seiner mutmaßlichen Verwicklung in Attentate gegen Israelis und US-Bürger vor Gericht gestellt werden. Der britische Supreme Court billigte seine Auslieferung. Allerdings verhinderte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof jahrelang die Abschiebung Abu Qatadas. Er befürchtete, unter Folter erlangte Beweise könnten im Verfahren geltend gemacht werden. Erst ein Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und Jordanien ebnete den Weg für die Auslieferung Abu Qatadas, der später von einem jordanischen Militärgericht freigesprochen wurde.
Der Fall schlug hohe Wogen und veranlasste die damalige Innenministerin Theresa May zu folgendem Statement: „Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bindet dem Parlament die Hände, tut nichts für unseren Wohlstand, macht das Land unsicherer, indem die Abschiebung von Ausländern verhindert wird, und tut nichts, Russland zur Einhaltung der Menschenrechte zu bewegen. Unabhängig vom EU-Referendum glaube ich deshalb: Wenn wir die Menschenrechtsgesetzgebung hierzulande reformieren wollen, sollten wir nicht die EU verlassen, sondern uns der Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs entziehen.“
Sogar der komplette Rückzug von der Menschenrechtskonvention war für May eine Option, so groß war ihre Verärgerung über die Entscheidung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofes.

Neue britische Rechtecharta könnte sich als Enttäuschung erweisen

„Weshalb wollen sie etwas reparieren, wenn es nicht kaputt ist?“, hinterfragt die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatovic, die geplante Gesetzesänderung: „Das Vereinigte Königreich ist doch eines der Länder mit der niedrigsten Fallzahl vor dem Menschenrechtsgerichtshof.“
Die Unabhängigkeit und Souveränität britischer Gerichte in letzter Instanz, das Ziel, dass Parlamentsentscheidungen nicht durch das Straßburger Menschenrechtsgericht revidiert werden können, das sind die Kernanliegen, die Justizminister Dominic Raab verfolgt.
Doch sollte die britische Regierung ernsthaft glauben, dass sie mit der neuen Rechtecharta, der Bill of Rights, die Flut der Klagen durch Menschenrechtsanwälte eindämmen kann, so könnte sie arg enttäuscht werden. Die frühere Richterin am Supreme Court, Lady Brenda Hale:
„Das Gesetz schützt die Opfer nicht nur weniger gegen Menschenrechtsverletzungen und könnte gegen internationale Verpflichtungen verstoßen, sondern es wird zu Zweifeln und Unsicherheiten führen, mit dem Risiko, dass es zu jahrelangen Prozessen hier und in Straßburg kommen kann.“
Denn die Zulassung von Verfahren wegen Menschenrechtsverstößen vor britischen Gerichten wird erschwert; die Gerichte sind auch nicht mehr gehalten, die Rechtsprechung aus Straßburg zur EMRK, der Europäischen Menschenrechtskonvention, bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen, die Verpflichtung für den Staat, Leben proaktiv zu schützen, wird ebenso eingeschränkt wie der Schadenersatz für Opfer etwa bei unrechtmäßiger Inhaftierung.

Bill of Rights könnte zahlreiche Probleme bringen

„Der vorgesehene Gesetzentwurf legt zahlreiche Rechte der EMRK äußerst restriktiv aus, und zwar besonders die Rechte, an denen die aktuelle Regierung ein politisches Interesse hat. So wird etwa Artikel 8 EMRK, der sich auf das Recht auf Privatleben und Familie bezieht, mit Blick auf Deportationen eng ausgelegt", sagt Kai Ambos, Professor für internationales Straf- und Völkerrecht an der Uni Göttingen. Es könnte durch die Reform sogar zu einer Prozessflut – nicht zuletzt vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg – kommen, da das Vereinigte Königreich Teil der EMRK, der Europäischen Menschenrechtskonvention, bleibt.
Im Klartext: Die Bill of Rights ändert nichts an der grundsätzlichen Zuständigkeit des Straßburger Menschenrechtsgerichtes, zumindest solange die Briten Teil der Menschenrechtskonvention bleiben. Der von Justizminister Raab lautstark geforderte Vorrang britischer Gerichte stehe auch derzeit nicht in Frage, sagte Lady Hale in einer Rede vor dem nordirischen Menschenrechtsausschuss. Denn Straßburg ist keine Berufungsinstanz für britische Gerichte, sondern das Vereinigte Königreich wird als Staat in Straßburg verklagt. Und schon heute gilt, dass einstweilige Verfügungen – wie etwa im Falle des Ruandafluges – nicht rechtsbindend sind.
De facto würde die Bill of Rights den direkten Schutz der Menschenrechte schwächen, die Verfahren nach Straßburg verschieben und könnte zu einem Stolperstein für das Nordirland-Friedensabkommen werden, glaubt die ehemalige Vizepräsidentin des Supreme Court, Brenda Hale.
„Mit dem Belfaster Abkommen wurden nicht nur die Menschenrechtsinstitutionen in Nordirland geschaffen, sondern die Grundvoraussetzung für das Abkommen war, dass beidseits der Grenze gleiche Menschenrechtsstandards gelten. Die Bill of Rights wird jedoch den Schutz der Menschenrechte in Nordirland verwässern.“

Strafverfolgung im Ausland würde schwieriger

Sämtliche Konfliktparteien in Nordirland, so berichtet auch die Menschenrechtskommissarin des Europarates, lehnen die Bill of Rights deshalb ab. Denn gekoppelt mit dem Sondergesetz zu den Unruhen in Ulster könnte die nötige Aufarbeitung von Verbrechen eingeschränkt werden, so Dunja Mijatovic: „Das Gesetz sieht die Möglichkeit von Immunität vor Strafverfolgung auf einem sehr niedrigen Niveau vor, was zu Straffreiheit führen könnte.“
Gerade die Aufarbeitung der Vergehen nicht nur durch die paramilitärischen Gruppen, sondern auch durch die Sicherheitskräfte vor dem Abschluss des Karfreitagsabkommens 1998 ist der Schlüssel für die enorm schwierige Aussöhnung in Nordirland.
Auch das teilautonome Schottland steht der Bill of Rights skeptisch gegenüber. „Das wäre eine weitere Unterstützung von der Unabhängigkeitsbewegung in Schottland, aber das wäre eigentlich eine politische Debatte. In Nordirland ist es eine rechtliche Frage“, sagt Piers Gardener.
Der Menschenrechtsanwalt sieht genau wie der Völkerrechtler Kai Ambos aber noch weitere Probleme mit der Bill of Rights: „Ferner wird durch den Entwurf der Rechtsschutz gegenüber Akten der britischen Armee im Ausland erheblich eingeschränkt. Und das wendet sich explizit gegen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, in denen die extraterritoriale Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention etwa für Aktivitäten britischer Soldaten im Irak und Afghanistan bejaht wurde und Großbritannien wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt wurde.“
Das heißt: Künftig dürfte es enorm schwer werden, Menschenrechtsverletzungen durch britische Armeeangehörige außerhalb Europas zu ahnden. Kann dies im Sinne einer Nation sein, die maßgeblich an der Entstehung der Europäischen Menschenrechtskonvention beteiligt war?

Gang nach Straßburg wird künftig häufiger nötig sein

Solange das Vereinigte Königreich Teil der Menschenrechtskonvention bleibt, wird sich im Grunde an der Bedeutung der Rechtsprechung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofes für seine Bürger nichts ändern. Statt britische Gerichte entscheiden zu lassen, wird künftig häufiger der Gang nach Straßburg nötig sein. Als guter demokratischer Staat wird Großbritannien die Urteile wohl auch umsetzen – ganz anders als andere Europaratsmitglieder wie die Türkei oder früher Russland beispielsweise. Vor seinem Ausscheiden aus dem Europarat hatte Russland nämlich schon sein Verfassungsgericht über den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gestellt. Die Vorgabe der britischen Regierung, sich dem Diktat des Straßburger Gerichtes nicht länger unterwerfen zu wollen, wirkt wie eine Fata Morgana, wie ein Trugbild. Der Preis – international – ist allerdings sehr hoch.
Das Signal, das von der Bill of Rights ausgeht, sei verheerend in seiner Wirkung, glaubt Dunja Mijatovic: „Wenn man sich für Demokratie, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit einsetzt, darf es keine Rosinenpickerei geben. Man kann sich nicht aussuchen, was einem gefällt und was nicht. Das Vereinigte Königreich hat anderen immer Lehren erteilt, wie sie das zu tun hätten. Was ist das denn jetzt für ein Signal an andere Staaten des Europarats?“
Die Menschenrechtskommissarin des Europarats hofft, dass die Bill of Rights vielleicht doch noch entschärft wird. Eine trügerische Hoffnung: Denn auch nach dem Ausscheiden von Premierminister Boris Johnson wird kein grundlegender Politikwechsel erwartet, oder höchstens einer, der noch feindlicher gegenüber all dem ist, was ‚europäisch‘ im Namen trägt.