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Flucht und Migration
Von politischem Kontrollverlust

Europa erlebt nach Ansicht des Politologen Hans-Peter Schwarz eine neue Völkerwanderung, auf die die EU-Eliten nicht vorbereitet waren. Um die Kontrolle wiederzuerlangen, müssten die EU-Außengrenzen gemeinsam geschützt, die Freizügigkeit im Schengenraum eingeschränkt und das Asylrecht wieder den Mitgliedsstaaten anvertraut werden, so Schwarz.

Von Claus Heinrich | 22.05.2017
    Flüchtlinge mit Kindern auf dem Arm gehen in Mazedonien eine Straße entlang
    Das Bild vom Februar 2016 zeigt Flüchtlinge in Mazedonien, die gerade über die griechische Grenze gekommen sind. (picture alliance / dpa / EPA / Georgi Licovski)
    Völlig unvorbereitet und zunächst vollkommen ohnmächtig erlebt Europa eine Völkerwanderung von Millionen Menschen aus Afrika und Asien. Eigentlich nichts Neues. Der Politologe und Historiker Hans-Peter Schwarz erinnert an Hunnen- und Mongolenstürme, an räuberische Germanenhorden, die Türken vor Wien und die Araber, die bis zur Loire vorgedrungen sind. Vage Erinnerungen eines kollektiven Unterbewusstseins, das die Geschichte Europas eben auch als eine Geschichte von Invasionen kennt.
    Auch Flucht und Vertreibung sind im Grunde nichts Neues, denn in den ersten acht Jahrzehnten des 20. Jahrhundert sind 250 Millionen Menschen vor Kriegen, Gewaltherrschaft und wirtschaftlicher Not geflohen. Und dennoch war Europa auf die neue Völkerwanderung aus den Bürgerkriegsstaaten des Nahen Ostens und den Armutszonen Afrikas nicht vorbereitet. Dafür und für den folgenden Kontrollverlust macht Schwarz zwei aus seiner Sicht fatale strategische Entscheidungen der Europäischen Union verantwortlich: zum einen die von Helmut Kohl und François Mitterand inspirierte unkontrollierte Freizügigkeit großer Teile Europas:
    "Jeder der entgrenzten Staaten in Schengenland gleicht einem Ei ohne Schale. Voll guten Willens, aber ohne ausreichenden Instinkt für mögliche Gefahren haben Politik und Bürokratie der EU ein System errichtet, das in ruhigen Zeiten halbwegs funktioniert, in Notlagen aber fast zwangsläufig kollabieren muss."
    Diese Notlage sei entstanden, weil die EU - Fehler Nummer zwei - den Schutz der Außengrenzen an betroffenen Küstenstaaten delegiert hatte. Insbesondere Italien und Griechenland waren damit überfordert und ließen immer mehr Flüchtlinge dann einfach weiterreisen, obwohl sie laut Dublin-Abkommen für die Aufnahme der Asylsuchenden zuständig waren.
    Fragwürdige deutsche Gesinnungsethik
    Auslöser der krisenhaften Eskalation hierzulande sei aber die Entscheidung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel im September 2015 gewesen, die in Ungarn festsitzenden syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland aufzunehmen.
    "Nie zuvor in den 65 Jahren bundesdeutscher Geschichte hat eine Bundesregierung ein derartiges Chaos verschuldet und seine Fortsetzung wie gelähmt toleriert, bis die Sperrung der Balkanroute durch eine Koalition der Willigen unter Führung Österreichs im März 2016 dem Kontrollverlust eine Ende machte."
    Warum hat Angela Merkel so gehandelt? Hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil Deutschland so lange vom Dublin-Abkommen profitiert hat? Wollte sich die europapolitisch angezählte Kanzlerin auf einmal solidarisch zeigen mit den einseitig belasteten Staaten an der EU-Außengrenze? Oder ist sie doch in erster Linie eine Überzeugungstäterin aus linksprotestantischem Pfarrhaus? Schwarz lässt das offen. Schreibt dann aber doch, man könne Merkel nach ihren öffentlichen Auftritten als Verkörperung der Kultur globalisierter Barmherzigkeit bezeichnen. Und bemüht das bei Historikern beliebte Klischee von den ebenso idealistischen wie unberechenbaren Deutschen:
    "Offensichtlich dominiert in der deutschen Gesellschaft eine stark ausgeprägte Mentalität, die man als eine Mischung von global orientierter Barmherzigkeit, Pazifismus, Europaglaube und Glaube an die Leistungskraft der deutschen Wirtschaft bezeichnen könnte."
    Schwarz sieht Merkel gleichwohl in der freizügigen europäischen Tradition ihres ehemaligen Mentors Helmut Kohl. Eines mangelhaften Europas wohlgemerkt, das unter Bürokratisierung, Volksferne, unkontrollierbarem Lobbyismus in Brüssel und dem Eurosystem leide, wie Schwarz ohne nähere Begründung schlagwortartig auflistet.
    Die Renaissance des Nationalstaats
    Bewusst wählt Hans-Peter Schwarz die Form der "essayistischen Studie". Die verschaffte dem Autor stilistische Freiheit, anders als ein streng wissenschaftlicher Text. Was einerseits die Lektüre des pointiert geschriebenen Buchs erleichtert. Und anderseits dem Autor erlaubt, seine Thesen weitgehend den Diskurs mit widersprechenden Lehrmeinungen zu ersparen.
    Er kann so seine traditionelle Vorstellung von einer Staatenwelt zugrunde legen, die vom Nationalstaat als einzig denkbarem Souverän ausgeht. Der sich definiert durch ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und einer Staatsidee. Dass diese nationalen Grenzen durch supranationale Organisationen wie die EU erweitert oder gar aufgelöst werden können, wird von Schwarz ebenso wenig erwogen wie er die immer schwieriger werdende Definition nicht problematisieren mag, wer dem modernen Staatsvolk denn nun zugehört und wer nicht. Und dass die Staatsidee auch universalistische Werte wie den Schutz von Kriegsflüchtlingen oder ein garantiertes Grundrecht auf Asyl umfassen kann, fällt ebenso unter den Tisch. Zumal Schwarz für internationale Gerichte, die über die Einhaltung transnationaler Rechtsvereinbarungen wachen, nur Spott übrighat.
    Bekämpfung der Symptome
    Schwarz empfiehlt, um die Migrationsbewegungen zu kontrollieren, nicht die Fluchtursachen zu bekämpfen, sondern auf klassische Abschottungsstrategien zu setzen:
    1.einen wirksamen EU-Außengrenzschutz als europäische Gemeinschaftsaufgabe,
    2.die zumindest vorübergehende Abschaffung der innereuropäischen Freizügigkeit nach dem Schengen-Abkommen und
    3.die Renationalisierung des Asylrechts.
    Illegal übers Mittelmeer Eingeschleuste möchte Schwarz in "Hotspots" – so wörtlich – internieren.
    Erstaunlich ist die Arglosigkeit, mit der der renommierte Politologe ausgerechnet Thilo Sarrazin mit seinen hysterischen Berechnungen des künftigen Migrantenanteils an der deutschen Bevölkerung zitiert. Schwarz erlaubt sich sprachliche Analogien, die in einer streng wissenschaftlichen Studie wohl keinen Platz hätten. So bezeichnet er die Region von Nordafrika bis nach Afghanistan als "muslimischen Krisenbogen". Und setzt den derzeit wieder populären Wortschatz der Deichgrafensprache ein mit Wörtern wie "Flüchtlingsflut", "Einwanderungswelle" oder "Hereinströmen entwurzelter Menschenmassen".
    Abgesehen von dem mitunter irritierenden polemischen Ton ist die Analyse der sogenannten Push- und Pullfaktoren, also der Saug- und Schubkräfte, die für die aktuellen Flüchtlingsbewegungen verantwortlich sind, sehr erhellend. Ebenso die beschriebene Genese des europäisierten Asylrechts, die sich wie ein Politkrimi liest. Auch wenn aus Sicht des Autors die Schurken in diesem Stück immer postnationale Ideologen sind. Aber für eine solche Weltsicht gibt es auch in Deutschland offenbar ein gewachsenes Publikum.
    Hans-Peter Schwarz: "Die neue Völkerwanderung nach Europa. Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheiten"
    DVA, Deutsche Verlags-Anstalt, 256 Seiten, 19,99 Euro.