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Kolumne
Die ermüdende Wiederkehr von Schreckensnachrichten

Jeden Tag sterben Menschen auf der Flucht oder an Hunger. Doch als Meldung in die Medien schaffen es meist nur Fälle mit scheinbar besonders tragischen Todesumständen. Eine Selektion, die abgestumpft wirkt – und doch gerade ein Abstumpfen verhindert, meint Samira El Ouassil.

Von Samira El Ouassil | 14.09.2022
Ein verlassenes Flüchtlingsboot vor der libyschen Küste am 28.1.2022
Wo sind die Menschen? Ein verlassenes Flüchtlingsboot vor der libyschen Küste am 28.Januar 2022 (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Pau de la Calle)
Am Montag tauchte eine dpa-Meldung in meiner Timeline auf. Inhalt: Sechs Personen waren bei ihrer Flucht über das Mittelmeer gestorben. Es handelte sich um drei Erwachsene und drei Kinder. Die drei Erwachsenen und eines der Kinder waren auf dem Flüchtlingsboot offenbar verdurstet und verhungert. Ich teilte die Meldung, weil sie in mir eine unendliche Traurigkeit freisetzte. Mein Unvermögen, in dem Augenblick etwas tun zu können, übersetzte sich in den Wunsch, dass viel mehr Menschen diese Nachricht zu Gesicht bekommen. Damit der Tod dieser drei Erwachsenen und drei Kinder nicht in Bedeutungslosigkeit verschwindet.
Eine Person kommentierte daraufhin: "Das Problem ist die Berichterstattung: 1x alle paar Wochen heißt es, heute sind sechs Menschen gestorben. Nein, JEDEN Tag passiert das, es ist nicht die Ausnahme, es ist die Regel."
Und die Person hatte recht. Das Ertrinken auf dem Mittelmeer, ebenso das Sterben in Kriegs- und Krisengebieten, sind ein fortlaufender, täglich stattfindender Horror, der so normal ist, dass er keine Meldung mehr ist. Eine neue Information ist nach dem Anthropologen und Philosophen Gregory Bateson, Mitbegründer der kybernetischen Systemtheorie, ein "Unterschied, der einen Unterschied macht". Übertragen auf Medienlogik könnte man sagen, dass berichtenswerte Meldungen Informationen oder Ereignisse sind, die einen Unterschied machen – und deshalb zur Nachricht werden. Aber die Tragödie ist: Der Tod geflohener Menschen ist keine Ausnahme, die eine Meldung erst zur Meldung macht.

Wirklichkeit, die abgebildet werden muss

Und dennoch ist ihr Tod ein relevanter Teil einer zu berichtenden Wirklichkeit, der abgebildet werden muss. Dass täglich Menschen im Mittelmeer ertrinken oder – größer betrachtet – beispielsweise der Umstand, dass alle zehn Sekunden ein Kind verhungert, hat nicht trotz seiner Alltäglichkeit, sondern wegen seiner Alltäglichkeit einen Nachrichtenwert. Eben weil es nicht Alltag sein sollte, dass Menschen durch Krieg, Hunger, Durst oder auf der Flucht sterben.
Das Zugeständnis an die Art, wie Nachrichtenzyklen funktionieren, ist also, alle paar Wochen medial so zu tun, als seien just wieder ein paar Menschen ertrunken oder verdurstet. Aber es ist natürlich schal, allein durch die Form zu behaupten, dies sei eine Nachricht, die jetzt einen Unterschied macht und deshalb jetzt berichtet wird, im Vergleich zu den Tagen und Wochen davor.

Wieviele Opfer machen eine Meldung?

In Nachrichtenagenturen und Redaktionen fängt die Frage, ob eine Information eine Information ist, die einen Unterschied macht, schon bei der Opferzahl an. Ab wann ist es eine Meldung? Wenn wir im zweistelligen Bereich sind? Wenn Kinder umkamen? Wenn man argumentiert, dass jeder Mensch, der umkommt, einer zu viel ist und sein Tod natürlich einen Unterschied macht, ausmachen muss und sollte, dann kommen wir irgendwann an die Grenzen der journalistischen Umsetzbarkeit.
Ein Holzboot mit 28 Flüchtlingen aus Afrika am 5. März 2022 vor der libyschen Küste
Welche Schicksale schaffen es in die Nachrichten? (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Andoni Lubaki)
Eigentlich müsste man jeden Tag die Meldung erhalten: wieder Menschen ertrunken. Und alle zehn Sekunden eine Pushmitteilung: wieder ein Kind verhungert. Und das sind nur Überlegungen auf der Senderseite – also was sollten und was können Journalisten tun. Aber es gibt auch die Empfängerseite: Ermüden Rezipienten in Anbetracht täglichen Horrors, stumpfen sie ab, werden sie ohnmächtig? Wenn eines der drei zutrifft, wäre die journalistische Sichtbarmachung kontraproduktiv.
Die Selektivität bei der Auswahl der Meldungen, die zur Nachricht werden, sowie alle paar Wochen zu berichten, ist nicht zynisch oder bequem, sondern eine praktische Notwendigkeit, um wirksam zu bleiben. Und während ich hier laut nachdachte, starben 21 Kinder. Ich weiß nicht, was Sie mit dieser Information anfangen sollten, aber - ich wollte sie zumindest mit Ihnen teilen.