Mittwoch, 24. April 2024

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Migrationsforscher Knaus
"Das Recht auf Asyl wird täglich vor unseren Augen gebrochen"

Die Zahl der Flüchtlinge im Mittelmeer steigt seit 2022 wieder stark an. Dabei würden Hilfesuchende an den Grenzen weiterhin gewaltsam zurückgewiesen, sagte der Migrationsforscher Gerald Knaus im Dlf. Europa habe sich mit dieser Praxis eingerichtet.

Gerald Knaus im Gespräch mit Barbara Schmidt-Mattern | 26.08.2022
Ein Migrantenboot auf dem Mittelmeer kurz vor Malta.
Mit bislang 1161 Toten und Vermissten in diesem Jahr zählt das Mittelmeer zu den gefährlichsten Fluchtrouten der Welt (IMAGO / Valeria Ferraro)
Das Mittelmeer zählt zu den wichtigsten und zugleich gefährlichsten Fluchtrouten weltweit. Seit Beginn des Jahres sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mindestens 1.161 Menschen bei der Überfahrt gestorben oder gelten als vermisst. Häufig brechen sie aus dem nordafrikanischen Libyen aus, wo ihnen in Haftlagern Folter und andere Menschenrechtsverletzungen drohen.
Seit einigen Monaten beobachtet das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR dabei eine Verlagerung der Flüchtlingsrouten am Mittelmeer: Italien wird jetzt wieder verstärkt als Ziel der Schlepper und Flüchtlingsboote angesteuert. Dort machen rechte Parteien vor den Parlamentswahlen am 25. September mit der Asylpolitik verstärkt Wahlkampf.
Der Migrationsforscher Gerald Knaus hat an Deutschland und die anderen EU-Staaten appelliert, Strategien für die humanitäre Lösung der Flüchtlingsfrage zu entwickeln. "Die Lage ist so dramatisch wie noch nie zuvor", sagte der Vorsitzende der Europäischen Stabilitätsinitiative, einem Thinktank, der sich unter anderem mit den Migrationsbewegungen in Europa beschäftig, im Deutschlandfunk. Er kritisierte, Hilfesuchende würden nach wie vor an den Grenzen gewaltsam zurückgewiesen. Anstatt Alternativen zu erarbeiten habe man sich in Europa aber mit dieser Praxis eingerichtet.
Diese Haltung führe zu Zynismus und Resignation im Umgang mit dem Migrationsproblem. "Darum ist es so wichtig, dass man zeigt, dass es Alternativen geben kann", sagte Knaus. "Denn wenn wir das nicht schaffen, sehen wir, dass ein Grundrecht, die Menschenwürde, das Recht auf Asyl, an den Außengrenzen der EU vor unseren Augen täglich und systematisch gebrochen wird."
Die EU-Staaten streiten seit Jahren über die Reform der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik. Vor allem in der Frage der Verteilung Schutzsuchender auf die Mitgliedstaaten besteht keine Einigkeit. Auch im Koalitionsvertrag hatte die Ampelkoalition einen Kurswechsel der Flüchtlingspolitik versprochen. Passiert ist offenbar bisher aber kaum etwas.
Was die Situation zusätzlich verschärft: Trotz der Gefahren und der hohen Zahl an Geflüchtenden gibt es keine staatlich organisierte Seenotrettung mehr auf dem Mittelmeer. Lediglich die Schiffe ziviler Organisationen halten Ausschau nach in Not geratenen Flüchtlingen und Migranten.
Das Interview in voller Länge:
Barbara Schmidt-Mattern: Wenn mir mal eine Momentaufnahme wagen, wie dramatisch ist die Lage zurzeit im Mittelmeer?
Gerald Knaus: Wenn wir die Menschenrechtsverletzungen betrachten, über die wir regelmäßig erfahren, das was investigative Journalisten allein in diesem Jahr über Menschenrechtsverletzungen etwa in der Ägäis berichtet haben, dann ist die Lage so dramatisch wie noch nie zuvor. Denn es scheinen alle Einschränkungen wegzufallen. Wir hören davon und verschiedene Qualitätsmedien in Europa liefern Beweise dafür, dass Migranten unter Druck gesetzt werden, andere Migranten mit Gewalt über den Grenzfluss zurückzustoßen, dass Menschen auf den griechischen Inseln festgenommen werden und ins Wasser geworfen werden.
Es gab eine Geschichte im „Spiegel“ vor kurzem über einen Mann von der Elfenbeinküste, der ertrunken ist, der bereits in Samos war. Wir hatten den tödlichsten Zwischenfall seit vielen Jahren von Melilla erst im Juni. Die Todeszahlen liegen zwar noch unter denen in den Jahren 2015, 2016 und 2017 im Mittelmeer, aber sind auch schon jetzt bis Mitte August bei 1500 mindestens auf dem Weg nach Europa. Ich würde sagen, humanitär und aus der Sicht des Zusammenbruchs des Rechtsstaates ist die Lage extrem dramatisch.
Auftaktveranstaltung zur Phil.Cologne
Der Migrationsforscher Gerald Knaus (picture alliance/dpa)

"Viele Schlepper sind einfach brutale Mörder"

Schmidt-Mattern: Wer ist aus Ihrer Sicht hauptverantwortlich für dieses humanitäre Leid? Sind das die Schlepperbanden? Sind das auch Küstenwachen, die gegen Migrantinnen und Migranten vorgehen?
Knaus: Das sind zwei unterschiedliche Fragen. Die Schlepper sind je nach Region unterschiedlich zynisch. Viele Schlepper sind einfach brutale Mörder, vor allem die, die die Menschen in Libyen dann versklaven, ausrauben, töten, foltern. Anderswo sind Schlepper zynische Geschäftsleute, die versuchen, aus dem Leid der Menschen Profit zu schlagen. Aber an die Schlepper kann man ja zurecht nicht die gleichen Standards anlegen – das sind Verbrecher – wie an europäische Beamte und Beamtinnen von Mitgliedsstaaten oder von europäischen Institutionen. Die sind an Recht gebunden. Das Recht ist sehr klar.
Ich glaube, erst vor kurzem hat die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg, gesagt, auf konkrete Fälle angesprochen in der Ägäis von Pushbacks, dass das an Abgründigkeit und Perfidität nicht zu überbieten ist. Da spricht sie über die Handlungen von EU-Staaten.
Das wirkliche Problem ist, dass wir das mittlerweile scheinbar in vielen Ländern als unvermeidlich akzeptieren. Die Reputationskosten, wenn neue Menschenrechtsverletzungen bekannt werden, auch mit sehr, sehr vielen Beweisen, die Reputationskosten für die Staaten, die dahinter stehen, sinken, weil immer mehr Staaten darin keinen Bruch von Werten und Gesetzen sehen, sondern ein Vorbild.

"Eine Situation, die außer Kontrolle zu geraten droht"

Schmidt-Mattern: Das steht ja in offensichtlichem Widerspruch zu dem, was die Europäische Union erst Ende Juni beschlossen hat, das man die Mittelmeer-Anrainerstaaten stärker unterstützen will durch den sogenannten Solidaritätsmechanismus. Kurz gesagt sollen die Migrantinnen und Migranten auf andere Staaten innerhalb der EU verteilt werden. Ist dieses Vorhaben jetzt schon wieder Makulatur?
Knaus: Die zwei Dinge können sehr gut nebeneinanderstehen, denn die Verteilung von einer beschränkten Zahl von Menschen, die unbedingt zu begrüßen wäre – in diesem Jahr haben in Zypern die größte Zahl von Menschen in der Geschichte der EU in einem Mitgliedsstaat, jetzt auf die Größe der Insel gerechnet, einen Asylantrag gestellt. Das waren in sechs Monaten 12.000 Asylanträge. Das wäre so, wie wenn in Deutschland in sechs Monaten 1,2 Millionen Asylanträge eingebracht würden. Das ist noch nie passiert.
Wenn man da sagt, wir helfen Zypern, wir nehmen Leute auf, die Schutz brauchen, dann ist das positiv. Aber es löst das Problem von Zypern nicht, denn die allermeisten – und die Zahl wächst jeden Monat -, die jetzt nach Zypern kommen und einen Asylantrag stellen – und die größte Gruppe sind jetzt schon aus Kongo und Nigeria -, bekommen kein Asyl, bleiben aber auf der Insel. Wir haben da eine Situation, die außer Kontrolle zu geraten droht, und die EU hat darauf keine Strategie, weil sie keine Strategie hat, wie es gelingen kann, ohne Gewalt – und in Zypern gibt es noch keine Gewalt – irreguläre Migration zu reduzieren.
Das ist der Schlüssel: Wie schafft man es, Menschen aus dem Kongo, aus Bangladesch, aus Tunesien, aus Nigeria, wo die Anerkennungsquoten am Ende extrem niedrig sind, davon abzuhalten, irregulär zu kommen, und greift nicht gleichzeitig auf die brutalen Methoden zurück, die wir an so vielen Außengrenzen der EU heute erleben. Das ist die Frage und auf diese Frage muss man eine Antwort finden, denn ansonsten gewinnen wie in Italien sehr wahrscheinlich sehr bald wieder diejenigen die Wahlen, die sagen, es ist ein militärisches Problem, schicken wir die Marine, schicken wir Soldaten, mit Gewalt lässt es sich lösen.

"Italien setzt auf Libyen, und das ist natürlich eine Katastrophe"

Schmidt-Mattern: Sie sprechen es an, in Italien stehen Parlamentswahlen an. Ein Mitte-Rechts-Bündnis könnte Ende September die Parlamentswahlen gewinnen. Worauf muss sich dann in der Asyl- und Migrationspolitik die Europäische Union einstellen, wenn es soweit kommt?
Knaus: Wir hatten in Italien jetzt mehrere Innenminister und Innenministerinnen seit 2017, einmal von der Demokratischen Partei Mitte-Links, dann von der rechtspopulistischen Lega und jetzt eine Präfektin die letzten Jahre, parteipolitisch nicht gebunden. Aber der Kern der Politik war in all den Jahren der gleiche. Italien setzt auf Kooperation mit Libyen. Man will quer über alle Parteien hinweg, auch in der Großen Koalition der letzten Zeit unter Mario Draghi, keine Wiederholung der großen Zahlen ankommender wie 2016, als 180.000 gekommen sind. Da gibt es einen Konsens.
Auf die Frage, wie man es erreicht, dass nicht mehr so viele Menschen kommen, haben alle großen italienischen Parteien quer durch die politischen Lager den Konsens gefunden, wir setzen auf Libyen, und das ist natürlich eine Katastrophe. Die Leute werden in ein Land zurückgebracht, wo sie schlecht behandelt werden, aber es reicht nicht, das zu beklagen. Wir brauchen dann, auch die deutsche Regierung, auch die EU-Institutionen, wenn wir Italien davon abbringen wollen, ein alternatives Konzept.
Wir müssten etwa sagen, wir retten, so wie das der Koalitionsvertrag vorsieht, sehr schnell alle Menschen im zentralen Mittelmeer, niemand soll ertrinken, man baut die Seenotrettung aus, aber man schafft es auch, die, die gerettet werden – und die größten Gruppen sind aus Bangladesch oder Tunesien, die in Italien kein Asyl bekommen -, schnell in ein sicheres Land zurückzubringen und dann Italien davon zu überzeugen. Wenn das nicht passiert, dreht sich die Debatte im Kreis.

"Zeigen, dass es eine Alternative zur Gewalt gibt"

Schmidt-Mattern: Herr Knaus, Sie sprechen die deutsche Regierung und auch den Koalitionsvertrag der Ampel-Partner an. Die Grünen stellen jetzt die Außenministerin und haben zu Zeiten in der Opposition immer scharfe Kritik an der Asyl- und Migrationspolitik von Union und SPD geübt. Was erwarten Sie jetzt von der deutschen Außenministerin, von Annalena Baerbock von den Grünen, was sie vielleicht mehr an Engagement für die europäische Asyl- und Migrationspolitik einbringen müsste?
Knaus: Was ich glaube, was am dringendsten gebraucht würde, wenn Deutschland – und das ist eine große Aufgabe – diesen europaweiten Trend der Normalisierung von Rechtsbruch und Menschenrechtsverletzungen drehen will, ist eine Konzentration auf konkrete Lösungen, wo man dann auch Resultate erzielt. Etwa: Wie kann Deutschland Zypern helfen, dass die Zahl der Menschen, die irregulär kommen und dort zu einer humanitären großen Krise führen, aus Kongo, aus Nigeria, fällt. Wie kann Deutschland mit Spanien ein Konzept entwickeln, dass nicht mehr Leute mit Gewalt versuchen und unter Lebensgefahr – und vor kurzem sind zwei Dutzend gestorben -, über den Zaun der Exklaven in Melilla zu klettern. Wie kann Deutschland eine Alternative finden zur derzeitigen Kooperation mit Libyen?
Vielleicht sollte man ganz einfach beginnen: Wie kann Deutschland dafür sorgen, dass zwischen Großbritannien und Frankreich – Großbritannien, ein ehemaliger EU-Staat -, zwei europäische Demokratien, dass es dort eine Lösung gibt, irreguläre Migration human zu reduzieren, indem etwa Frankreich anbietet, alle zurückzunehmen, die nach Großbritannien kommen, um das zu stoppen als Vorbild auch für andere Regionen, und dafür Großbritannien legal Wege anbietet für Menschen, die aus Frankreich nach Großbritannien kommen.
Wir brauchen Lösungen, die zeigen, dass es eine Alternative zur Gewalt gibt, und daran müsste die deutsche Bundesregierung mit viel mehr Nachdruck arbeiten. Das ist sehr, sehr schwierig. Die meisten in der EU haben längst aufgegeben. Aber der Ampel-Koalitionsvertrag spricht davon, verspricht das, und daran, glaube ich, sollte sich die Ampel messen lassen.

"Das Recht auf Asyl wird täglich vor unseren Augen gebrochen"

Schmidt-Mattern: Abschließend noch, Herr Knaus, weil wir sehr beschäftigt sind in Europa mit dem Krieg in der Ukraine, weil das viele Kräfte auch auf europäischer und internationaler Ebene bindet. Was bedeutet das denn für alle Bemühungen, gegen das Elend der Migrantinnen und Migranten im Mittelmeer vorzugehen?
Knaus: Ich glaube, ehrlich gesagt, das größte Problem ist dieses Gefühl, es gibt keine Alternative zur Gewalt. Wenn Sie heute mit Politikern in Polen reden, dann werden die Pushbacks an der Grenze zu Belarus nicht verheimlicht, sondern ganz offen als Vorbild präsentiert. Wenn Sie mit dem griechischen Migrationsminister reden, dann sagt der ganz klar, wir schicken die Menschen in die Türkei zurück, weil die Türkei ist sicher, und wenn die Türkei dann Leute nach Afghanistan abschiebt, ist das kein Problem der EU.
Dieses Gefühl, dass es keine Alternative zu dieser Politik gibt, dass sie keine Reputationskosten mehr hat, wenn man das aufdeckt, führt zu einem Zynismus und zu einer Resignation und darum ist es so wichtig, dass man zeigt, dass es Alternativen geben kann, denn wenn wir das nicht schaffen – und das ist vielleicht das wichtigste -, sehen wir, dass ein Grundrecht, die Menschenwürde, das Recht auf Asyl, an den Außengrenzen der EU vor unseren Augen täglich und systematisch gebrochen wird, und das ist für die Rechtsstaatlichkeit einer Rechtsunion dramatisch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.