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Flüchtlingspolitik
Türkei-Deal als Blaupause für Afrika

Wie umgehen mit den Flüchtlingen aus Afrika? Neben einem verstärkten Grenzschutz in den Herkunftsländern ist auch ein Flüchtlingsabkommen á la Türkei der EU etwa mit Ägypten im Gespräch. Das allerdings stößt auf Bedenken.

Von Björn Blaschke, Karl Hoffmann und Mirco Keilberth |
    Afrikanische Flüchtlinge in Italien (16.05.2016).
    Afrikanische Flüchtlinge in Italien. (dpa / picture alliance / Michael Alesi)
    Ein ungewöhnlich grauer Herbstmorgen im Hafen von Messina auf Sizilien. Vorsichtig lenkt Capitano Paolo Zottola die Monte Sperone zwischen Fischerbooten und Autofähren zur Hafenausfahrt. Dann nimmt das schnelle Patrouillenboot Fahrt auf. Ziel ist das Planquadrat M1 vor der libyschen Küste, 400 Seemeilen entfernt.
    "Wir sind im Auftrag der europäischen Grenzschutzagentur Frontex unterwegs. Die Operation heißt Triton 2016. Unsere Aufgabe ist es, den südlichen Teil des Kanals von Sizilien zu überwachen."
    Ein ziemlich großes Seegebiet, das sich bis wenige Seemeilen vor die libysche Hauptstadt Tripolis erstreckt. Das Patrouillenboot braucht fast 17 Stunden bis zum Ziel.
    "Die Entfernungen sind viel größer als man sich das vorstellt. Und deshalb dauert es natürlich, bis man an den Einsatzort gelangt."
    Oft zu lange: Die Frontex-Einsatzzentrale schickt die Position von drei Flüchtlingsbooten. Doch die sind weit im Süden unterwegs.
    "Eines ist 22 Meilen vor der libyschen Küste, ein anderes 28 Seemeilen."
    Andere Frontex-Schiffe sind bereits alarmiert und werden versuchen, die Migranten zu retten. Alleine in den ersten neun Monaten dieses Jahres waren es fast 106.000. Seit die Balkanroute geschlossen ist, konzentriert sich der Flüchtlingsstrom Richtung Europa fast ausschließlich auf die süditalienische Küste.
    Flüchtlingsboote kommen derzeit praktisch nur noch aus Libyen, zunehmend auch aus Ägypten. Eine europäische Flotte mit dem Namen Eunavformed ist deshalb überwiegend vor der afrikanischen Küste unterwegs. Im Auftrag der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex rettet sie unter der Führung der italienischen Küstenwache vor allem dort Menschen, demnächst mit zusätzlichen Rettungseinheiten.
    Denn die Befugnisse von Frontex, der europäischen Agentur für Grenzschutz, wurden unlängst ausgeweitet, ihr Personal soll verdoppelt werden. Doch Italien fordert mehr europäische Solidarität. Es geht, ganz schlicht, um mehr Geld aus Brüssel für die Aufnahme der Flüchtlinge.
    Auch die Monte Sperone der Guardia di Finanza rettet Flüchtlinge. Aber im Gegensatz zu Küstenwache oder privaten Rettungsschiffen haben die italienischen Grenzschützer polizeiliche und militärische Befugnisse. Das Patrouillenboot ist mit Maschinengewehren bewaffnet und mit hochmoderner Überwachungstechnik ausgestattet. Die 30-köpfige Besatzung soll Schlepper und Waffenschieber dingfest machen. Stefano Sogliuzzo, der 1. Offizier des Patrouillenboots Monte Sperone:
    "Wir arbeiten hier für ein gemeinsames europäisches Interesse, egal, unter welcher Flagge wir fahren. Hier geht es darum, unsere Außengrenzen zu schützen. Wir wollen illegale Aktivitäten verhindern. Zum Schutz unseres Landes, und damit meine ich nicht nur Italien, sondern ganz Europa. Und dazu bedarf es der Zusammenarbeit aller, um unsere gemeinsamen europäischen Außengrenzen zu schützen."
    Italien ist Hauptaufnahmeland in der EU
    Die Besatzung der Monte Sperone ist hochmotiviert. Sie erhält nicht wenig Lob von höchster Stelle, allen voran von Ministerpräsident Matteo Renzi.
    "Wir sind stolz auf den Einsatz der Frauen und Männer unserer Militär- und Polizeikräfte. Ich bin stolz auf diese Engel des Meeres, die viele Tausend Menschenleben retten."
    Doch selbst, wenn inzwischen der Einsatz zur Rettung der Migranten mit Frontex endlich auf eine europäische Basis gestellt ist und von der EU finanziert wird, bleibt das Problem, was weiter mit den Migranten geschehen soll. Italien ist inzwischen das Hauptaufnahmeland in der EU. Und seit Einführung der Hotspots und der Identifizierung von mittlerweile 90 Prozent aller Migranten bleiben tatsächlich auch fast alle, die ankommen, in Italien.
    Immer wieder kommt es jetzt an der Grenze zu Frankreich zu dramatischen Szenen, wenn Migranten zurückgeschickt werden. Die Anfang des Jahres beschlossene Verteilung der Flüchtlinge aus Italien ist gescheitert. Nur knapp 900 von vereinbarten 34.000 Menschen wurden von anderen EU-Staaten aufgenommen. Ministerpräsident Matteo Renzi sieht deshalb nur eine Lösung:
    "Wenn Menschen ohne Aufenthaltsrecht nach Italien kommen, dann müssen schnell Maßnahmen zur Rückführung ergriffen werden. Die internationale Kooperation mit den Herkunftsstaaten muss verknüpft werden mit der Rückführung. Es darf keine Kooperation mit Staaten geben, die die Rückführung ihrer Landsleute nicht akzeptieren."
    Italien hat bislang erfolgreich Rückführungsabkommen mit allen Mittelmeeranrainern in Nordafrika geschlossen. Abgesehen von Libyen - doch gerade von dort kommen derzeit etwa 90 Prozent aller Migranten in Richtung Europa. Hier müsse deshalb das Hauptaugenmerk einer gesamteuropäischen Außenpolitik liegen, fordert Regierungschef Renzi.
    "Wir suchen nach Möglichkeiten, den Migrantenzustrom zu stoppen und Libyen zu befrieden. Das schafft man nicht, wenn man einfach drauflosbombt, wie das in der Vergangenheit passiert ist. Deshalb bestehe ich auf einer gemeinsamen Außenpolitik und gehe damit überall in der EU hausieren. In Libyen hat man Bomben abgeworfen und gedacht, damit das Problem zu lösen. Doch stattdessen hat man ein neues geschaffen. Deshalb brauchen wir eine langfristige europäische Außenpolitik."
    Italien setzt auf massive Kooperation mit Herkunftsländern
    Tatsächlich liegt Italien wie eine Brücke Richtung Afrika. Und um seiner geografischen und geopolitischen Position gerecht zu werden, sucht die römische Regierung Unterstützung, die nur die EU leisten kann: zur Verstärkung der Sicherheit an den Außengrenzen. Italien hat soeben einen Pakt zur europäischen Verteidigung vorgeschlagen, zum Abbau des Flüchtlingsstaus im eigenen Land und zur Lösung des Libyen-Problems, denn ohne letztere wird der Migrationsstrom kein Ende nehmen.
    Langfristig setzt Italien auf eine massive Kooperation der EU mit den afrikanischen Herkunftsländern der Migranten. Auch Vereinbarungen nach dem Vorbild des Abkommens zwischen der EU und der Türkei sind für Rom denkbar. Eine Idee, die auch die deutsche Bundeskanzlerin zuletzt mehrfach ins Gespräch brachte und die auch während ihrer Afrika-Reise mitschwang.
    Der italienische Ministerpräsident Renzi und Bundeskanzlerin Merkel
    Der italienische Ministerpräsident Renzi und Bundeskanzlerin Merkel (dpa /picture alliance /Michael Kappeler)
    Die Frage wird jedoch sein, wie weit die EU den betreffenden Staaten entgegen kommen will. Finanziell, aber auch in anderer Hinsicht. Italien etwa geht bilateral bereits voran und setzt verstärkt auf die Kooperation mit Ägypten. Unter anderem mit jüngsten Waffenlieferungen an die Sicherheitskräfte des Regimes in Kairo, von dem man hofft, es werde die Migration aus dem eigenen Land entsprechend massiv kontrollieren.
    Kapitän Zottola und seine Mannschaft tun ihr Möglichstes, um Grenzen zu sichern und Menschen zu retten. Das Problem der Migration können sie mit ihrem Patrouillenboot aber nicht lösen. Zu leicht haben es kriminelle Organisationen im Vakuum der europäischen Außenpolitik.
    "Den Menschenschmuggel zu bekämpfen, ist sehr schwierig. Solange es Migranten gibt, verdienen die Schmuggler enorm viel Geld mit dem Handel von Menschen in den Ländern Nordafrikas."
    Schweres Schiffsunglück vor der libyschen Küste
    Die Fahrt in die libysche Küstenstadt Misrata führt durch eine idyllische Landschaft. Palmen- und Olivenhaine auf der rechten Seite, links branden die Wellen des Mittelmeeres an den weißen menschenleeren Sandstrand. Am Kontrollpunkt bei Garabulli schaut ein junger Milizionär mit schussbereiter Kalaschnikow in die Wagen. Gesichtskontrolle, wer verdächtig wirkt, muss den Pass oder die Ladung im Kofferraum zeigen. Ganz in der Nähe des Checkpoints legte im Januar letzten Jahres ein überladenes Fischerboot ab. Als es vor der sizilianischen Küste Schlagseite bekommt und sinkt, werden 640 Menschen mit in die Tiefe gezogen.
    Doch das größte Schiffsunglück auf dem Mittelmeer seit dem Zweiten Weltkrieg hat den Schmugglern das Geschäft nicht ruiniert. Nach Einbruch der Dämmerung fahren hier bei Garabulli regelmäßig Lastwagen zu einem der vielen Ferienhäuser, angeblich zahlen die Schlepper 200 Euro Miete am Tag für eine Villa mit Garten. Frühmorgens legen dann die Schlauchboote in Richtung der vor der Küste kreuzenden Schiffe der EU-Mission ab. Seitdem die Marinesoldaten Flüchtlinge aus Seenot retten und sie anschließend nach Sizilien bringen, schicken die Schmuggler sie nur noch mit einer geringen Menge Benzin auf die Reise.
    Die libysche Marine ist gegen die Menschenschmuggler machtlos. In der Industriemetropole Misrata sind gerade mal vier Patrouillenboote stationiert, um einen Abschnitt von 700 Kilometern Küste zu kontrollieren. Tatsächlich ist die libysche Küste in den letzten Jahren ein Eldorado für Schmuggel jeglicher Art geworden. Benzin, elektronische Geräte und Drogen sind die üblichen Tauschobjekte auf hoher See.
    Eine kaputte Schwimmweste ist an einen Strand in Libyen angespült worden.
    Eine kaputte Schwimmweste ist an einen Strand in Libyen angespült worden. (dpa-Bildfunk / EPA / Ben Khalifa)
    Die nach Tunis evakuierten Diplomaten und die EU setzen ihre Hoffnung indessen auf die Einheitsregierung von Premier Fayez Serraj. Sie soll die Lage wieder unter Kontrolle bringen. Doch Serraj kann den Marinestützpunkt Abu Sitta im Hafen von Tripolis nur mit schwerer Bewachung verlassen. Über ein Dutzend Milizen haben in Tripolis ihre Reviere abgesteckt, die wenigen Polizisten in schneeweißen Uniformen wagen es nicht einmal, bei Verkehrsunfällen einzugreifen.
    Um die Boote, die auch vom Küstenstreifen in der Villengegend Hail Andalous und Gargaresh ablegen, zu stoppen, müsste die Regierung den Milizionären Jobalternativen bieten können. Alleine im Großraum Tripolis sind über 100.000 Kämpfer offiziell vom Verteidigungsministerium registriert. Doch da die Staatskasse leer ist, verdienen die meisten revolutionären Brigaden selbst am Schmuggel mit.
    Doch selbst, wenn es gelänge, das Schmugglerwesen einzudämmen und mehr Migranten von der gefährlichen Überfahrt abzuhalten – in Libyen droht ihnen ein bitteres Schicksal. Denn bringt die libysche Küstenwache aus Misrata doch einmal ein Boot auf, dann werden die Migranten in ein sogenanntes Detention Center gebracht, sechs offizielle und unzählige Privatgefängnisse gibt es, in denen Prostitution und Zwangsarbeit Alltag sind. Die Schmuggler gehen straffrei aus, denn in Libyen ist nicht der Menschenhandel illegal, sondern die Migranten machen sich strafbar.
    Situation in Gefangenschaft sehr schlimm
    In den zehn Zellen eines ehemaligen politischen Gefängnisses in Garabulli sitzen über 600 Menschen aus zehn Ländern ein. Aus Ghana, Nigeria, der Elfenbeinküste oder Eritrea kommen die Gefangenen in einer der 20 Quadratmeter großen Zellen, je 40 teilen sich den Steinboden und ein paar Decken.
    Ähnlich beengt ist die Situation auch in Al Kararim bei Misrata. Über 1.000 Menschen teilen sich die acht Klassenräume, zwei Waschbecken und vier Toiletten der ehemaligen Grundschule. Die zwölf Wärter erhalten am Monatsende ein Gehalt, das nur ein Bruchteil dessen ist, was ihre Bekannten und Freunde in den über 200 Milizen von Misrata verdienen.
    Timothee Kitshenge aus der Republik Kongo ist mit seiner Familie seit vier Jahren auf der Flucht. In Kinshasa hatten Anhänger von Präsident Kabila gedroht, seine beiden Töchter und seinen Sohn umzubringen, weil er sich für einen Oppositionskandidaten eingesetzt hatte. Nach einer dreijährigen Odyssee gelangte er mit seiner Familie nach Libyen. Dort hofften sie ein Jahr lang auf ein Asylverfahren.
    Doch die internationalen Hilfsorganisationen und Botschaften haben Libyen verlassen. Und so wird Kitshenge wohl doch noch ein Boot in Richtung Europa besteigen. Er sieht keinen anderen Ausweg mehr. In Libyen, so seine Überzeugung, wird ihm niemand helfen.
    Eine Überlegung, die täglich Hunderte Flüchtlinge auf dem afrikanischen Kontinent anstellen und ähnlich entscheiden, in letzter Zeit verstärkt auch in Ägypten. So kam es Ende des vergangenen Monats an Ägyptens Mittelmeerküste zu schrecklichen Szenen. Ein Fischerboot war gesunken, das von der Stadt Rosetta aus Kurs auf Europa genommen hatte - mit Hunderten Flüchtlingen und Migranten an Bord. Die Nachricht sprach sich schnell herum. Und so warteten an Land Hunderte Menschen auf die Rückkehr der Boote und Schiffe, die Überlebende aus dem Meer zogen – oder Tote.
    "Ali war in der sechsten Klasse. 14 Jahre oder 15 Jahre alt. Ich wusste nicht, dass er nach Europa wollte. Aber sein Vater. Und der war dagegen, dass Ali sich auf den Weg machte. Aber er war ein Jugendlicher und träumte von einem guten Einkommen. Und wenn sich so ein Junge was in den Kopf gesetzt hat, kann man es nicht verhindern. Ein anderer Junge aus dem Dorf war mit ihm unterwegs. Ein Nachbar. Der hat überlebt. Er sagte uns, dass Ali neben ihm unterging, während er wieder an die Wasseroberfläche kam. Die Fischer haben ihn geborgen."
    Flüchtlingsabkommen mit Ägypten im Gespräch
    In Europa hat das Unglück die Forderung einiger Politiker bestärkt, mit Ägypten ein Flüchtlingsabkommen zu schließen, das dem mit der Türkei ähnelt. Eine Idee, die in Ägypten auf offene Ohren stößt. Zum Beispiel bei Anwar al-Sadat. Er ist ein Neffe des 1981 ermordeten, gleichnamigen ägyptischen Staatspräsidenten und Mitglied des Parlaments in Kairo.
    "Libyen war bisher das Land, aus dem viele Flüchtlinge aus den südlicheren afrikanischen Ländern nach Europa aufgebrochen sind. Aber wegen der Situation in Libyen jetzt, wegen der vielen Kämpfe, ist es schwieriger geworden. Also werden künftig immer mehr Menschen versuchen, von Ägyptens Küste aus nach Europa zu gelangen. Sodass Ägypten zu einem zentralen Punkt wird - auf der Route, die Menschen über das Mittelmeer nehmen wollen."
    Und zwar Menschen aus beispielsweise Äthiopien, dem Sudan oder Eritrea. Sollten Flüchtlinge aus diesen Ländern nach dem Abschluss eines Abkommens mit Ägypten aus dem Mittelmeer gerettet werden, würden sie nach Ägypten zurückgebracht wenn es nach Thomas De Maizière geht. "In menschenwürdige Zustände", formulierte der Bundesinnenminister kürzlich. Gegebenenfalls müssten dort in Ägypten dann zusammen mit dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR Lager gebaut werden.
    Helfer bringen die ertrunkenen Menschen am 22. September 2016 mit Booten aufs Festland.
    Vor der ägyptischen Mittelmeerküste sind viele Menschen ertrunken. (dpa / picture-alliance / Tarek Alfaramawy)
    Sicherlich: Ägypten würde sich das einiges kosten lassen, zumal in dem Land Flüchtlinge aus Schwarzafrika nicht sonderlich beliebt sind. Aber: Wäre Ägypten schon heute in der Lage, Flüchtlinge, die aus dem Mittelmeer gerettet werden, wieder aufzunehmen? - Anwar al-Sadat beantwortet die Frage eindeutig:
    "Nein, ich denke noch nicht. Aber es gibt bereits einen Parlamentsausschuss, der ausarbeiten soll, welche Wege gegangen werden können, welche Möglichkeiten und Mittel wir haben, um solche Einrichtungen, wie etwa Zeltlager, anbieten können. Für die, die zurückkommen."
    Spätestens nachdem Ende September das Fischerboot vor Ägyptens Küste sank, ist allerdings eines klar: Neben denen, die aus dem Sudan, Äthiopien oder Eritrea stammen, wollen auch viele Ägypter über das Mittelmeer nach Europa. Für sie könnte ein Flüchtlingsabkommen ebenfalls eine Chance darstellen – sagt Anwar al-Sadat:
    "Die Ägypter... sie können zu ihren Familien zurückkehren. Oder in ihre Dörfer. Aber für sie müssen ebenfalls Lösungen gefunden werden. Sie müssen beschäftigt werden und ein Einkommen haben."
    Immer mehr Ägypter wollen das Land verlassen
    Mehr als 90 Millionen Einwohner zählt Ägypten heute; ein Land, dessen Wirtschaft vor dem Kollaps steht: Seit den Umbrüchen, die 2011 begannen, bleiben die Touristen weg und mit ihnen die Devisen. Die Reserven sind mittlerweile fast aufgebraucht, die Subventionen müssen abgebaut werden, die Preise steigen wie auch die Arbeitslosenquote. Da ist jede ausländische Milliarde herzlich willkommen – als Kredit, als Geschenk oder eben als Teil eines Flüchtlingsabkommens.
    Für die Europäer könnte es also teuer werden, wenn sie wollen, dass die 90 Millionen Ägypter da bleiben, wo sie sind. Kritiker halten derlei Überlegungen entgegen, dass Geld, das nach Ägypten geschickt wird, doch nur einem diktatorischen Staat zu Gute komme. Anwar al-Sadat sagt, die Geldgeber müssten im Gegenzug Reformen verlangen:
    "Ja, das ist etwas, was wichtig ist. Und ich sage: Helft uns, und wir werden versuchen, Reformen umzusetzen. Es geht um Geld, aber es geht auch um die soziale und politische Lage. Wir müssen eine Situation schaffen, die die Menschen spüren lässt, dass ihnen Recht und Gerechtigkeit widerfährt und Chancengleichheit."
    So wünscht sich Anwar al-Sadat als Teil des Flüchtlingsabkommens auch eine gewisse Reisefreizügigkeit. Gut ausgebildete Facharbeiter sollten beispielsweise die Gelegenheit erhalten, in die EU kommen zu dürfen, um ihr Wissen zu vertiefen oder gar dauerhaft in Europa zu arbeiten. Wie gesagt: ein Wunsch von Anwar al-Sadat. Eine Forderung richtet er derweil an den ägyptischen Staat:
    "Wir sollten sicherstellen, dass unsere Grenzen und unsere Küsten besser überwacht und geschützt werden, damit ein Schiffsunglück, wie das Ende September, nicht noch einmal passiert."
    Doch dass Grenzschutz nicht die alleinige Lösung sein kann, ist Europa ebenso wie Afrikas Regierungs- und Staatschefs wohl gleichermaßen bewusst. Fluchtrouten lassen sich anpassen, neue Wege nach Europa werden sich auftun. Die Kooperation und Abkommen mit Herkunfts- und Transitländern, sie wollen wohlüberlegt sein.