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Frank Heller: "Die Diagnosen des Dr. Zimmertür"
Der Detektiv der Seelenlandschaften

Literatur und Psychoanalyse pflegen eine verwandtschaftliche Beziehung: Beide blicken in die Abgründe der menschlichen Seele. Einer der therapeutisch interessantesten Detektive ist Dr. Zimmertür von Frank Heller. Seine Diagnosen klingen auch heute noch frisch und modern.

Von Carola Wiemers |
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    Schwedens erster Krimi-Bestesellerautor (Cover: Walde+Graf Verlag, Hintergrund: picture alliance / dpa/Patrick Pleul)
    Bei einem Dinner in einer idyllisch an der holländischen Nordseeküste gelegenen Villa befindet sich unter den Anwesenden ein Fremder, der durch seine Konversation nicht nur die Gastfreundschaft des Hausherrn, sondern auch die Geduld der Gäste strapaziert. Man fragt sich, was dieser "krummnasige, vollmondrunde Herr mit gelblichem Teint" eigentlich in dieser "englischen Burg" zu suchen hat. Schließlich gibt sich der Störenfried als Psychoanalytiker namens Dr. Joseph Zimmertür zu erkennen - als Sprössling einer jungen Wissenschaft, die Anfang des 20. Jahrhunderts zwar in aller Munde ist, doch längst nicht gesellschaftsfähig.
    Während sich in Wien um 1900 Literatur und Psychoanalyse zu einer bizarren Form der Seelenkunst verbinden, setzen sich in Skandinavien nicht nur der Schriftsteller August Strindberg und der Maler Edvard Munch mit der "Kunst der Nerven" auseinander. Auch Hjalmar Söderbergs Roman "Doktor Glas" löst bei seinem Erscheinen 1905 eine Welle der Empörung aus und avanciert zum Inbegriff der Dekadenz. Ein Stockholmer Arzt tötet darin mittels einer Zyankalikapsel einen Geistlichen; aus Leidenschaft und Barmherzigkeit, so der lakonische Kommentar.
    Im Umfeld der Psychoanalyse Sigmund Freuds, der Philosophie Friedrich Nietzsches, bei dem die Gedanken des Dänen Søren Kierkegaards nachhallen, eröffnet sich auch für den schwedischen Schriftsteller Frank Heller eine Terra incognita, die dem wachen Geist neue Themen zuspielt.
    An krimineller Energie kaum zu übertreffen
    Den Literaten verbindet mit dem Psychoanalytiker, dass sie in die Abgründe der menschlichen Seele hinabsteigen. Hellers Hobbyermittler-Figur Dr. Zimmertür ist beides in einer Gestalt. Weniger an der konkreten Tat interessiert als an den Beweggründen, die dazu führten, trägt er mit spielerischer Freude und analytischem Wortwitz zur Aufklärung der Verbrechen bei. In der Erzählung "Ein schwankes Rohr" lässt er ihn sagen:
    "Wir sind Menschen – eine vernunftwidrige Vereinigung aus Geist und Materie, in einem Raum schwebend, der unendlich sein muss ... Und gleich wie der Mensch die Gesetze des äußeren Universums erforschte, hat er auch begonnen, die Gesetze des inneren zu erforschen – das ist es, was ich nach Maßgabe meiner Kräfte zu tun versuche."
    Frank Hellers eigenes Leben, dessen bürgerlicher Name Martin Gunnar Serner lautet, ist an krimineller Energie kaum zu übertreffen und bietet reichlich Stoff für die Tiefenpsychologie. 1886 im schwedischen Blekinge geboren, promoviert der Hochbegabte 23-jährig im Fach Philosophie. Eine Lehrerausbildung finanziert er durch Scheckbetrug. Als er auffliegt, muss er Schweden verlassen. Er wird zum Kosmopolit, bereist England, Sizilien, Tunesien. Bevor Heller im Genre der Edelgauner Erfolge feiert, versucht der passionierte Zocker in Monte Carlo vergeblich sein Glück.
    Die Sinnkrise der Jahrhundertwende
    Martin Gunnar Serner pflegte einen intensiven Kontakt zur Halbwelt, was der Vitalität und der abgründigen Verwerflichkeit seiner Texte sehr zugute kommt. Mit dem Gentleman-Betrüger Filip Collins, alias Professor Pelotard, unter dem Titel "Herrn Collins Abenteuer" in deutscher Sprache erschienen, knüpft er zudem an Maurice Leblancs Edelganoven Lupin an.
    Inspiriert sind Hellers Geschichten von der Psychoanalyse und der Sinnkrise, die seit der Jahrhundertwende spürbar ist. Sie grundieren die sieben Fallstudien in "Die Diagnosen des Dr. Zimmertür". Alles, was die Psychoanalyse der Zeit zu bieten hat, ist thematisiert: von der Traumdeutung über einen "Fall von Schizofrenie" bis zum Ödipuskomplex, der sich in "Das Ende eines Traumes" für die Aufklärung als zentral erweist.
    Adressat für seine tiefenpsychologischen Exkurse ist Kommissar Groot, der, ermittlungstechnisch gesehen, noch tief in der Konvention steckt. Die Dialoge zwischen ihnen strotzen nicht nur vor neuem Bildungsgut. Sie dienen dazu, die Gedanken Sigmund Freuds in die Handlung einzuschleusen, wodurch die detektivische Strategie raffiniert kommentiert wird.
    "Erinnern Sie sich nicht an die Sage von König Ödipus? Es war sein vorbestimmtes Schicksal, seinen Vater zu töten und seine Mutter zu heiraten. Und der Nestor unserer Wissenschaft versichert, dass diese Tragödie sich hier in der Welt am häufigsten abspielen würde, wenn jeder von uns den angeborenen Trieben seines Wesens nachgeben würde. Der Kommissar stellte das Glas weg: in seinem breiten Gesicht malte sich Abscheu. ... – das soll Wissenschaft sein? Das ist doch das Widerwärtigste, was ich in meinem ganzen Leben gehört habe."
    Das Leben: ein Traum
    Freuds wissenschaftliche Deutung der Trauminhalte stellt das "Traumbuch", das neben der Bibel, in jedem Haushalt um 1900 vorhanden war, in Frage, um den fatalistischen Kreislauf vorgegebener Schicksale zu durchbrechen. Der Traum ist für ihn eine besondere Form des Denkens, die erst durch den Schlafzustand ermöglicht wird. Auch Dr. Zimmertürs therapeutisches Vorgehen und seine Ermittlungsstrategie basieren darauf. In der Fallstudie "Angebot und Nachfrage" bekennt er:
    "Träume erklären? Das tue ich oder versuche es wenigstens zu tun – unter anderem [...] Ich bin, mit einem Worte, Psychoanalytiker. Verstehen Sie? Ein Traum ist immer der wahrnehmbare Niederschlag eines unterdrückten Wunsches. Was wir im bewußten Zustand gewünscht, aber nicht erreicht oder nicht zu tun gewagt haben, das kommt im Schlaf in Form von Träumen wieder."
    In Hellers literarischen Texten, die auf einer subtilen wie schonungslosen Analyse der Zeit basieren, werden die komplizierten Verschachtelungen von äußerer und innerer Welt anhand kleinster Gesten und Körperbewegungen erkundet. Mitunter scheinen seine Täterfiguren wie Klienten, die soeben von der Couch des Dr. Freud aufgestanden sind. Dr. Zimmertür entlarvt Falschmünzer ebenso wie gespielte Blindheit, und er wertet die Aphasie, eine Störung der Sprache, auf der Höhe der Zeit als symbolische Krankheit:
    "Wenn Sie sich einer Sache oder Person nicht erinnern wollen, so vergessen Sie nicht nur diese, sondern auch, was mit ihr im Zusammenhang steht. Das ist ein Prozeß, der frappant an den erinnert, wenn der Körper einen Fremdkörper verkapselt. Der Eindruck, den Sie vergessen wollen, ist die ganze Zeit da, aber er ist von Ihnen durch eine Mauer, die Sie selbst aufgerichtet haben, getrennt."
    Frank Hellers narrative Diagnosen wirken äußerst frisch und modern. Seine Sprache zeichnet sich durch poetische Spitzfindigkeiten und rationale Klarheit aus. Mit dem feinsinnigen Gespür eines Detektivs und den profunden Kommentaren eines Psychoanalytikers leuchtet Dr. Zimmertür die Seelenlandschaften aus, um deren dunkle Schatten aufzuspüren.
    Frank Heller: "Die Diagnosen des Dr. Zimmertür. Kriminalgeschichten", übersetzt von Marie Franzos, Walde + Graf, Berlin. 192 Seiten, 20 Euro. Die deutsche Erstausgabe des Buches erschien 1927 im Verlag Grethlein & Co. / Leipzig, Zürich.