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Französische Werte
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Laizität

In Frankreich sind Kirche und Staat getrennt. Daher gibt es keinen Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen. Ihr Auftrag ist vielmehr, republikanische Werte zu vermitteln. Damit Kinder das laizistische Prinzip verstehen, hängt in jedem Klassenzimmer die „Charta der Laizität“.

Von Birgit Kaspar | 23.03.2020
Schüler bei einer Prüfung in Lille
An Frankreichs Schulen werden die Werte der Republik vermittelt (imago / CrowdSpark / Thierry Thorel)
Pause für die rund 200 elf- bis fünfzehnjährigen Schüler am Collège in Emile-Paul Vayssié in Aurignac. Jean-Paul Ferré lehrt hier Geschichte und EMC – Enseignement morale et civique – deutsch: Bürgerkunde und Moral. Es sollen die Werte der Republik vermittelt werden, also Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und nicht zuletzt: Laizität. Diese Aufgabe verlange Fingerspitzengefühl, meint Ferré lachend.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Laizität in Frankreich - Verschleierte Debatte".
Man könnte fast sagen, es sei eine Art republikanischer Katechismus. Aber das sollte man in einer öffentlichen laizistischen Schule nicht laut äußern.
"Wir sehen uns mit relativ abstrakten Dingen konfrontiert. Zum Beispiel der Frage: Was ist Identität? Was sind Diskriminationen oder Vorurteile? Was bedeutet Laizität? Kindern von zwölf oder 13 Jahren das zu vermitteln, ist nicht leicht. Wir müssen versuchen, sehr konkrete Beispiele zu finden, um diesen großen Worten einen Sinn zu geben, sonst bleibt es sehr abstrakt."
Laizität spielt in den ganzen Schulalltag
Lediglich 18 Unterrichtsstunden seien für die Bürgerkunde im Schuljahr vorgesehen – aber das Thema Laizität spiele auch in Fächer wie Geschichte und überhaupt in den ganzen Schulalltag, so der 46-jährige Lehrer.
"Wenn die Schüler aufs Collège kommen, dann erklären wir ihnen zuerst die internen Regelungen der Schule. Auch, dass das Tragen betont auffälliger religiöser Symbole weder den Schülern noch den Lehrern erlaubt ist. Aber die meisten haben das schon in der Grundschule verstanden."
Kopftuch, Kippa, Kreuz
Zu den auffälligen Symbolen gehören ein Kopftuch, eine Kippa oder ein großes Kreuz. 15 Grundregeln rund um die Laizität sind seit 2013 in einer Charta zusammengefasst und hängen in jedem Klassenzimmer. Doch wichtiger seien interaktive Spiele oder auch die Arbeit mit Ton und Bild, wie zum Beispiel mit diesem Video von einer Rede des Präsidenten Francois Hollande.
"Die Laizität ist nicht verhandelbar, weil sie unser Zusammenleben ermöglicht. Man muss die Laizität im Kern verstehen, nämlich als Gewissensfreiheit, also auch Religionsfreiheit. Die Laizität, das sind Werte und gesetzliche Regelungen, die unsere Gemeinsamkeiten schützen sollen, aber auch das, was dem einzelnen eigen ist."
Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat
Den Schülern solch eher philosophisch-politische Reden zugänglich zu machen, ist die Aufgabe von EMC-Lehrern wie Ferré. Die sehr komplexe Geschichte der Trennung von katholischer Kirche und Staat, die mit der Französischen Revolution begann, mutet Ferré den 27 jungen Schülern seiner Klasse aber noch nicht zu.
Es war eine recht gewaltsame Entmachtung der katholischen Kirche, die auch dazu führte, dass Zehntausende Religiöse Frankreich verlassen haben. Das Gesetz von 1905 über die Glaubensfreiheit und die Trennung von Kirche und Staat trug schließlich zur Befriedung bei und steckt noch heute den Rahmen der Laizität ab.
Die Charta umfasst insgesamt 15 Absätze, in denen die wesentlichen Kernpunkte der laizistischen Grundordnung des französischen Staates (Absatz 1-5) und deren Bedeutung für den Laizismus in den Schulen (Absatz 6-15) zusammengestellt sind.
Artikel 1 bis 5 der Charta beschäftigen sich mit der laizistischen Grundordnung des französischen Staates (Ministère éducation nationale)
17 Uhr. Der Schultag ist zu Ende – die meisten Schüler steigen in Schulbusse oder werden von den Eltern abgeholt. Unter ihnen ist auch die 12-jährige Myrtille. Sie lebt mit ihrer Mutter in einem renovierten Landhaus mit einer riesigen Fensterfront und Blick auf eine hügelige Landschaft. Myrtille findet die Themen Laizität und Identität spannend:
"Wir haben heute mit Muslimen, Juden und Katholiken zu tun und Laizität ist ein großes Thema in der Schule. Das macht mich neugierig. In Aurignac gibt es zudem Asylbewerber, auch deshalb kommen wir mit anderen Religionen in Kontakt, zum Beispiel mit orthodoxen Katholiken. Um all das zu verstehen, muss man mehr darüber wissen. Deshalb interessiert es mich."
Nicht jeder interessiert sich für Religion
Nicht alle in ihrer Klasse fühlten sich von solchen Fragen betroffen, erklärt mir die Fünftklässlerin mit langen braunen Haaren und wachen, dunklen Augen. Aber mit ihren Freunden spreche sie über solche Themen: "Wir diskutieren, sind nicht immer einer Meinung, haben unterschiedliche Standpunkte. Das ist normal, denn wir haben verschiedene Erfahrungen und es ist interessant die Meinungen auszutauschen."
Es ist kühl in dem großen Wohnzimmer. Myrtille knöpft ihre blaue Wolljacke zu. Für das nachdenkliche Mädchen ist es selbstverständlich, katholische und auch muslimische Freunde zu haben.
"Den Muslimen ist es in unserer Schule erlaubt, während des Ramadan nichts zu essen. Aber niemand trägt ein Kopftuch. Die Katholikin hat eine Kette mit einem Kreuz um den Hals, doch das bleibt unter ihrem T-Shirt versteckt. Nicht weil sie sich ihrer Religion schämen müsste, sondern weil es überflüssig, ist zu zeigen, was man glaubt. Die eigene Religion zu betonen, ist zudem verboten."
Spannungen und Diskriminierungen im Alltag
Myrtille hat immer ein paar Bücher um sich. Im Moment liest sie eines über Frauen in aller Welt, die ihren eigenen Weg gehen. Im Gegensatz zu vielen Französinnen hat sie keine Probleme damit, wenn Mädchen oder Frauen ein Kopftuch tragen.
"Ich bin vielen begegnet und habe verstanden, dass es für sie merkwürdig ist, das Kopftuch abzulegen. Wir alle haben unterschiedliche Standpunkte, das hängt mit unserer Geschichte zusammen und damit, wer wir sind. Niemand verurteilt mich, also warum sollte ich das mit diesen Frauen tun, nur weil sie anders sind? Es gibt keinen Grund."
Der Wind schiebt dunkle Regenwolken über den Himmel vor dem Fenster. Myrtille lächelt. "Klar, sie lebe in einer privilegierten Umgebung, in der jeder jeden kenne. Das aufgeweckte Mädchen weiß, dass im nahen Toulouse und an vielen anderen Orten Frankreichs große Spannungen und Diskriminierungen zum Alltag gehören.