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Freispruch für Ex-Bundespräsident Christian Wulff
Eine Frage der Reputation

Das Landgericht Hannover hat Christian Wulff vom Vorwurf der Korruption freigesprochen. Damit dürfte sein Ruf größtenteils wiederhergestellt sein. Er kann ein neues berufliches Leben beginnen. Bleibt die Frage nach dem Bild, das er als ehemaliger Bundespräsident abgibt.

Von Alexander Budde, Stefan Maas und Michael Reissenberger | 27.02.2014
    Ex-Bundespräsident Christian Wulff (M.) verlässt am 27.02.2014 nach der Urteilsverkündung das Landgericht in Hannover und steigt in ein Auto ein.
    Nach diesem Richterspruch von Hannover gilt Christian Wulff als unschuldig. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Christian Wulff: "Was die anstehende rechtliche Klärung angeht, bin ich überzeugt, dass sie zu einer vollständigen Entlastung führen wird."
    Ist das der Freispruch, den Christian Wulff sich bei seinem Rücktritt vor zwei Jahren gewünscht hat? Auf den ersten Blick sieht es so aus - nach einem Freispruch erster Klasse: Das Landgericht Hannover hat entschieden, für den Vorwurf der Vorteilsannahme im Amt gebe es keinerlei Belege. Nach diesem Richterspruch gilt Wulff also als unschuldig und hat zudem Anspruch auf finanzielle Entschädigung für die Durchsuchung seines Wohnhauses. Der Anwalt des ehemaligen Staatsoberhaupts, Michael Nagel, sprach von einer Ehrenerklärung für seinen Mandanten.
    Auch der mitangeklagte Filmfinancier David Groenewold wurde freigesprochen. Er hatte Wulffs Hotel- und Bewirtungskosten während eines Oktoberfestbesuchs übernommen und musste sich deshalb wegen Vorteilsgewährung verantworten.
    Richter Frank Rosenow erklärte in seiner ausführlichen Urteilsbegründung auch seine Sicht zum Verhältnis von Wulff und Groenewold. Aus einer geschäftlichen Beziehung habe sich ein enges freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Das Gericht habe nicht feststellen können, dass Wulff Vorteile angenommen und es eine Unrechtsvereinbarung zwischen ihm und Groenewold gegeben habe.
    Wie genau ist aber gesetzlich geregelt, was Vorteilsannahme ist? In einem der Kommentare, die auf Tausenden Seiten für Richter, Staatsanwälte und Verteidiger die Strafrechtsparagrafen Wort für Wort erklären, steht bei den Vorbemerkungen zu Paragraf 331, - das ist die Vorteilsannahme - ein bemerkenswerter Vorwurf an den deutschen Gesetzgeber: Er handele "im Bereich der Korruption mit "Pönalisierungswut", sei also sozusagen scharf auf Bestrafung. Es bestehe die Neigung "moralisierende US-amerikanische Vorstellungen in das deutsche Strafrecht aufzunehmen".
    Dabei hatte der deutsche Gesetzgeber in den 90er-Jahren aus gegebenem Anlass sehr bewusst eine Verschärfung der Korruptionsdelikte ins Strafgesetzbuch geschrieben. Man wollte abrücken von der früheren Einschätzung des Gesetzgebers, "in der Gewährung eines Vorteils für eine ordnungsgemäße Handlung sei nichts Verfängliches, sondern nur ein Akt des Wohlwollens oder der Dankbarkeit zu erblicken".
    Denn man hatte in der Flickaffäre ja gesehen, wie eine durchaus korrekte steuerbefreiende Investionsgenehmigung zugunsten des Flickkonzerns mit hohen Geldbeträgen - wie es hieß - "zur Pflege der politischen Landschaft" begleitet wurde.
    Dieser und weitere "kommunale Korruptions-Sümpfe", wie es damals hieß, hatten es nahegelegt, den Bereich der Strafbarkeit bei Vorteilsannahme von Amtsträgern auszudehnen.
    "Es kann nicht länger hingenommen werden, wenn, wie in der Praxis mehrfach vorgekommen, Amtsträgern n a c h Vornahme der Diensthandlung hochwertige Vorteile wie Fernsehgeräte, Urlaubsreisen oder großzügige Rabatte straflos zugewandt werden können", so stand es im Gesetzentwurf des Bundestages. Deshalb wollte man die sogenannte "Klimapflege", das "Anfüttern" von Staatsdienern in den Blick rücken.
    Niedersächsischen Beamten wird in Schulungen zur Korruptionsbekämpfung regelmäßig per Powerpoint-Vortrag zur Gesetzeslage in punkto Vorteilsannahme Folgendes klargemacht.
    Aufpassen bei zinsgünstigen Krediten, bei Mitnahme auf Urlaubsreisen, Übernahme von Bewirtungs- oder Hotelkosten.
    Warnsignale sind: Hohe persönliche Schulden, das Leben über den "eigenen Verhältnissen".
    Merksatz: Jeder, der etwas annimmt, sollte sich auch immer fragen: Was möchte der Geber erreichen, würde ich das im Kollegenkreis erzählen, würde ich das auch in einer anderen Funktion bekommen.
    Widersprüchliche Erklärungen im Wulff-Prozess
    Das Landgericht Hannover, das sich am Ende des Korruptionsprozesses gegen Wulff genervt gab, hatte zuvor selbst bei Eröffnung des Verfahrens verdeutlicht, dass die heutige vorverlagerte Verfolgung von Korruptionskriminalität umfänglichste Ermittlungen erforderlich macht. Zumal die Beteiligten eines Korruptionsdelikts ja fast immer verdeckt vorgehen, Absprachen mündlich treffen, Zahlungen verschleiern, häufig Bargeld anstelle von Überweisungen fließt.
    Die Erklärungen im Wulff-Prozess zu den untersuchten Zahlungsvorgängen waren oft widersprüchlich, bei Ungereimtheiten hatte sowohl die Beteiligten als auch die Zeugen auffällig oft jede Erinnerung verlassen. Und an dieser Stelle ist auf den Bundesgerichtshof hinzuweisen, der sagt: Wenn Schilderungen von Angeklagten in Teilen widersprüchlich und in anderen Teilen widerlegt sind und das behauptete Geschehen bereits in sich unstimmig ist, dann muss das ein Gericht so nicht hinnehmen, sondern darf sich ein eigenes stimmiges Bild machen. Und weitere Urteile des Bundesgerichtshofs geben diese Stichworte für den Fall einer Revision der Staatsanwaltschaft Hannover:
    Es soll "schon einem bewussten Handeln von Amtsträgern begegnet werden, mit dem ein böser Anschein möglicher "Käuflichkeit" erweckt wird."
    "Ein persönliches Verhältnis zwischen Amtsträgern und Zuwendendem vermag die Anwendung der Korruptionsvorschriften nicht zu hindern."
    Die Bundesrichter sehen also durchaus mit Argwohn auf das Geschäftsmodell des modernen Lobbyismus, in dem umtriebige Netzwerker aus Wirtschaftskreisen sich binnen Jahresfrist als engste Freunde von Politikern aufführen.
    Auf den ersten Blick bleibt also von den Vorwürfen gegen Christian Wulff nicht viel übrig. Es gibt aber die Möglichkeit der Revision. Dafür bleibt nach dem Urteil nun eine Woche Zeit. Hans-Jürgen Lendeckel, Sprecher der Staatsanwaltschaft Hannover:
    "Unsere Aufgabe ist jetzt, diese ausführliche Begründung auch im Detail zu bewerten. Das werden wir machen. In aller Ruhe und Gelassenheit, Und dann werden wir zu einem Ergebnis kommen."
    Das klingt nach dem anfänglichen Ermittlungseifer nun eher verhalten. War die Staatsanwaltschaft also auf dem Holzweg, hat sie sich gar verrannt, wie nun einige Berichterstatter behaupten? In der Tat gerät die Staatsanwaltschaft in Niedersachsen dieser Tage verstärkt in den Blick. Die Schlagzeilen begannen mit dem Fall Christian Wulff.
    Christian Wulff: "Ich trete deshalb heute vom Amt des Bundespräsidenten zurück, um den Weg zügig für die Nachfolge freizumachen."
    Die Staatsanwaltschaft hatte Ermittlungen gegen das Staatsoberhaupt wegen des Verdachts der Vorteilsannahme aufgenommen.
    Gut zwei Jahre später, am Freitag vorvergangener Woche, sorgte Jörg Fröhlich, der Leiter der Staatsanwaltschaft Hannover, für den nächsten Paukenschlag. Geheime Informationen aus der Ermittlungsakte zum Fall des SPD-Politikers Sebastian Edathy seien an interessierte Parteikreise und ausgewählte Medien durchgestochen worden, klagte Fröhlich vor der Presse. Eine Straftat, betonte der Behördenchef:
    Jörg Fröhlich: "Dass trotz der überaus großen Zurückhaltung der Staatsanwaltschaft Hannover derart viele Informationen an die Öffentlichkeit gelangt sind, die Ermittlungsakten teilweise sogar vollständig wiedergegeben wurden, erschüttert mich, erschüttert meine Behörde zutiefst."
    Fröhlichs Vorwurf zielte insbesondere auf Hans-Peter Friedrich. Dieser hatte bereits eingeräumt, als damaliger Innenminister SPD-Chef Gabriel darüber informiert zu haben, dass Edathys Name im Zusammenhang mit internationalen Ermittlungen aufgetaucht war. Hinweise auf ein drohendes Ermittlungsverfahren wegen "Verletzung des Dienstgeheimnisses" zwangen Friedrich noch am Abend der Hannoveraner Pressekonferenz aus seinem Ministeramt.
    Die Ermittlungen der Niedersachsen erschütterten ein weiteres Mal das politische Berlin. Doch mittlerweile sind auch die Ankläger aus Hannover in die Kritik geraten. In den Prozessen gegen Wulff und seinen ehemaligen Sprecher Olaf Glaeseker, hier geht es um Bestechung, machte das böse Wort vom "Tugendterror" die Runde. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit wurde von Prozessbeobachtern gestellt.
    Bei einem hinreichenden Tatverdacht sind Staatsanwälte verpflichtet, Ermittlungen aufzunehmen. Hier gibt es keinen Ermessensspielraum. Doch ob Indizien tatsächlich geeignet sind, einen Anfangsverdacht zu begründen, ist nicht eindeutig zu beantworten. Daher steht rasch der Vorwurf im Raum, dass auch taktische Erwägungen eine Rolle spielen könnten.
    Staatsanwaltschaft Hannover im Kreuzfeuer der Kritik
    Könnten die Ermittler frühe Hinweise auf Edathy als zahlender Kunde eines Kinderporno-Händlers mit Sitz in Kanada bewusst zurückgehalten haben, um nicht erneut den Sturz eines Politikers zu bewirken? Behördenchef Fröhlich bestreitet diesen Verdacht mit Vehemenz. Die Nacktbilder und Filme, die Edathy bestellt habe, seien nicht eindeutig strafbares kinderpornografisches Material gewesen, fügt der Leiter der Staatsanwaltschaft Hannover hinzu.
    Jörg Fröhlich: "Wir haben versucht, weitere Erkenntnisse zusammenzutragen, mit welch hoher Wahrscheinlichkeit denn bei derartigen Fällen noch Material aufzufinden ist. Aus unserer Sicht bestand keine Zeitnot. Sodass ich diesen Zeitraum auch aus eigener Verantwortung mir genommen habe, um mich nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, ich würde vorschnell das Leben und die Karriere von Politikern vernichten."
    Im nun beendeten Prozess gegen Christian Wulff und David Groenewold wegen Vorteilsannahme bzw. Gewährung sah sich Oberstaatsanwalt Clemens Eimterbäumer mit dem Vorwurf konfrontiert, ihn habe "übertriebener Jagdeifer" geleitet. Diese Behauptung der Verteidigung tat Eimterbäumer in seinem Schlussplädoyer als reine "Prozesspropaganda" ab.
    Tatsächlich steht der Chefermittler am Ende des Verfahrens jedoch in keinem guten Licht da. Bei der Befragung von zwei Dutzend Zeugen der Anklage wirkte er eher blass. Etwas Belastendes war von den angereisten Sekretärinnen, Hotelmitarbeitern, Leibwächtern und Promifreunden ohnehin kaum zu hören, dagegen sehr viel über die Freundschaft der Angeklagten Wulff und Groenewold und ihre gewinnenden Persönlichkeiten. Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Hannover, Hans-Jürgen Lendeckel, zur grundsätzlichen Rolle seiner Zunft:
    Jürgen Lendeckel: "Ein Kollege hat gesagt, das ist ein konfrontativer Beruf. Damit leben wir auch in anderen Verfahren, damit können wir umgehen."
    Der Vorsitzende Richter Frank Rosenow hatte schon während des Verfahrens mehrfach deutlich gemacht, was er von der Beweislage hält - und den Prozess deutlich abgekürzt. Seine Rolle wird von Beobachtern deshalb ebenfalls kritisch gesehen. Einmal hatte Rosenow gar mit einer Aussetzung des Verfahrens gedroht, weil Eimterbäumer neue Beweise einführen wollte. Der Oberstaatsanwalt hatte seine Position in dem Prozess fortan wie bei einem "Auswärtsspiel" beschrieben.
    Bernd Müssig: "Es ist die Tragik dieses Staatsanwalts, dass er nicht gemerkt hat, dass das Pferd tot ist, das er hier reitet."
    So kommentierte Wulffs Rechtsanwalt, der Bonner Strafverteidiger Bernd Müssig, bereits bei einer "Zwischenbilanz" des Richters kurz vor Weihnachten siegesgewiss. Diese Haltung zeigte der Verteidiger auch in seinem Schlussplädoyer. Dieses Verfahren mit all der Öffentlichkeit sei notwendig gewesen, um zu zeigen, dass es die Anklage in der "Causa Wulff" niemals hätte geben dürfen.
    Christian Wulff: "Nun kann ich mich wieder der Zukunft zuwenden und vor allem all den Themen, die mir immer am Herzen gelegen haben."
    Der Ruf des ehemaligen Politikers dürfte nach dem Freispruch größtenteils wiederhergestellt sein. Wulff kann nun eine neue Aufgabe antreten und damit ein neues berufliches Leben. Denn anders als bei den meisten seiner Vorgänger war von Anfang an klar, das Amt wird gewiss nicht Wulffs letzte Tätigkeit sein, schon aufgrund seines Alters: Einundfünfzig Jahre alt war Christian Wulff, als er am 30. Juni 2010 als Nachfolger Horst Köhlers zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Der mit Abstand jüngste. 19 Monate später trat er zurück. Im Unterschied zu seinen Vorgängern - nicht freiwillig.
    Einsatz für die Integration
    Geblieben ist die Erinnerung an eine Präsidentschaft, die von vielen als überwiegend unspektakulär gewertet wurde. Und: die eine Rede. Gehalten in Bremen zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit. Einen Monat zuvor war Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" erschienen und hatte eine Debatte über das Thema Integration entfacht. Der Bundespräsident griff dieses Thema auf – und forderte ein Verständnis von Deutschland, in dem Zugehörigkeit nicht nur am Pass, der Familiengeschichte oder am Glauben festgemacht wird:
    Christian Wulff: "Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland."
    Dieser Satz wurde in der Folge viel diskutiert, kritisiert, auf seine Richtigkeit abgeklopft und gelobt. Eines hat Christian Wulff damit erreicht, sagt Sergius Seebohm, stellvertretender Vorsitzender der degepol, der Deutschen Gesellschaft für Politikberatung.
    Sergius Seebohm: "Dieser Satz war sicherlich das, was von Christian Wulffs Amtszeit hängengeblieben ist. Das war der Satz, bei dem man damals gedacht hat, das ist vielleicht auch ein bisschen der Schwerpunkt, den er sich für seine Amtszeit vorgenommen hat."
    Tatsächlich zieht sich dieser Aspekt wie ein roter Faden durch Wulffs Zeit im Schloss Bellevue. Nur wenige Tage nach dieser Rede sprach er als erstes deutsches Staatsoberhaupt vor der türkischen Nationalversammlung und forderte die Zuwanderer in Deutschland auf, sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen. Und schon bei seiner Vereidigung Anfang Juli 2010 betonte der neue Bundespräsident die Notwendigkeit, auf andere Kulturen zuzugehen.
    Damit sei Wulff zwar nicht der Einzige gewesen, sagt Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Aber:
    Kenan Kolat: "Es war sehr wichtig, dass ein Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland diesen Satz gesagt hat."
    Es sei jedoch zu kurz gegriffen, wenn Wulffs Einsatz für Integration nur auf diese eine Aussage und nur auf seine Zeit als Bundespräsident reduziert werde.
    Kenan Kolat: "Er hat, als er Ministerpräsident wurde, Aygül Özcan als erste nicht deutschstämmige Ministerin installiert. Das war auch historisch in der Bundesrepublik."
    Nach wie vor genieße Wulff hohes Ansehen in der türkischen Gemeinde, erklärt Kolat. Daher sei die Meldung, Wulff werde zukünftig als Anwalt für eine Hamburger Kanzlei arbeiten und sich um Kontakte zu Mandanten in der islamischen Welt kümmern, sehr gut nachvollziehbar.
    Neues berufliches Leben nach dem Freispruch
    Wulff wäre damit nicht der erste Politiker, der nach seiner politischen Karriere eine zweite in der Wirtschaft startet. Bundeskanzler Schröder hat es gemacht, ebenso sein ehemaliger Außenminister Joschka Fischer, der heute als Redner und Berater arbeitet. Roland Koch, der ehemalige hessische Ministerpräsident, ist heute Vorstandvorsitzender des Baukonzerns Bilfinger. Politiker seien für Unternehmen aus mehreren Gründen interessant, sagt Politikberater Sergius Seebohm:
    Sergius Seebohm: "Man muss sich vor Augen halten, dass er Minister war, Ministerpräsident war, dass das jemand ist, der mal eine sehr, sehr große Behörde geleitet hat über einen langen Zeitraum. Das ist jemand, der vorausschauend planen musste, der ständig, täglich neue Einflüsse abfangen musste und praktisch Kurs halten. Das sind natürlich schon Fähigkeiten, die auch der Geschäftsführer eines großen Unternehmens haben muss."
    Auch die fachliche Qualifikation spiele natürlich eine Rolle, sagt Seebohm. Der ehemalige Innenminister Otto Schily zum Beispiel ist wieder als Anwalt tätig. Eine Chance also auch für Christian Wulff. Und doch ist ein ehemaliger Bundespräsident nicht mit anderen Ex-Amts- und Mandatsträgern zu vergleichen.
    Sergius Seebohm: "Ich glaube, das ist schon etwas Besonderes. Staatsoberhaupt, das ist ein herausragendes Amt. Gerade in Deutschland, wo wir ein Staatsoberhaupt haben, das fast nur repräsentative Funktionen einnimmt."
    Finanziell sind ehemalige Bundespräsidenten nach dem Ende ihrer Amtszeit gut abgesichert. Sie haben lebenslang Anspruch auf einen Ehrensold in Höhe von derzeit 217.000 Euro pro Jahr. Anders als seine Vorgänger ist Wulff nach seinem Rücktritt aber noch nicht im Rentenalter. Deshalb sei es nachvollziehbar, dass Wulff wieder arbeiten wolle, nun da er freigesprochen worden sei, sagt Seebohm. Zu beneiden sei er bei der Suche nach einer neuen Tätigkeit nicht:
    Sergius Seebohm: "Er hat ein Amt ausgeübt, was das höchste Amt ist, was man in Deutschland überhaupt innehaben kann. Er ist in eine Kontroverse geraten, die von seiner beruflichen Reputation wenig übriggelassen hat. Und er ist noch in relativ jungem Alter. Und wo findet man jetzt in diesem dramatischen Spannungsfeld den richtigen Ort. Und was passt denn jetzt eigentlich dazu für ein ehemaliges Staatsoberhaupt. Das ist eine ganz schwierige Frage, die sich sicherlich auch viele stellen, die grundsätzlich auch noch Interesse hätten, mit Christian Wulff zusammenzuarbeiten. Und es ist ganz schwierig, da einen Platz zu finden. Gerade aus seiner Perspektive."
    Neben der neuen Tätigkeit bleibt also die Frage nach dem Bild, das er als ehemaliger Bundespräsident nun abgibt. Eignet sich Christian Wulff nach allem, was im Zuge des Gerichtsverfahrens ans Licht kam denn noch als moralische Instanz, als Mahner und Versöhner? Eine Rolle, die viele seiner Vorgänger angenommen haben. Warten Sie es ab, sagt Sergius Seebohm. Und verweist darauf, dass die BILD-Zeitung, die gestern noch einmal den Anruf Wulffs bei Chefredakteur Kai Diekmann in ihrer Online-Ausgabe für alle zur Verfügung gestellt hat, bei Facebook eine Welle der Empörung über sich ergehen lassen musste. Die Einträge reichten von:
    "Und kaum hat die BILD nicht genug Schlagzeilen, wird halt eine alte Story wieder ausgegraben."
    über:
    "Lasst den Mann endlich in Ruhe. Ist ja widerlich."
    bis hin zu:
    "Systematisch habt ihr ein politisches Leben zerstört!"
    Die Bewertung bestimmter Vorgänge könne sich mit der Zeit wandeln, sagt Politikberater Seebohm.
    Sergius Seebohm: "Und vielleicht nimmt Christian Wulff in ein paar Jahren auch noch einmal ganz explizit Stellung zu diesen Vorgängen der letzten Jahre. Und wenn er dann die richtigen Worte und die richtigen Ansatzpunkte findet, wer weiß, vielleicht wird er erst recht zu einer moralischen Instanz. Da sind viele Wege, glaube ich, denkbar."