
Seit dem 14.10. kursiert in den sozialen Medien ein Video von Friedrich Merz, das für Diskussionen sorgt. Der Bundeskanzler und CDU-Parteivorsitzende sagt darin:
"Bei der Migration sind wir sehr weit. Wir haben in dieser Bundesregierung die Zahlen August 24/August 25 im Vergleich um 60 Prozent nach unten gebracht. Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem. Und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen."
Die Äußerung ist im Rahmen eines Antrittsbesuches des Bundeskanzlers in Potsdam gefallen: Merz stellt sich derzeit bei den Regierungschefs der Bundesländer vor, diesmal war er in Brandenburg bei Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD). Der Sprecher der Bundesregierung Stefan Kornelius sagte im Nachhinein, Merz habe die Aussage nicht als Bundeskanzler, sondern als CDU-Chef gemacht - es handele sich also um eine parteipolitische Äußerung.
Wie und von wem der Begriff "Stadtbild" verwendet wird
Merz ist nicht der erste, der den „Stadtbild“-Begriff nutzt. Der CSU-Chef Markus Söder hatte ihn im September bei einem Interview mit der Tageszeitung "Münchner Merkur" ebenfalls im Zusammenhang mit Abschiebungen verwendet. Auf die Frage, ob er dafür streiten werde, dass auch Afghanen und Syrer zurückkehren müssen, und zwar nicht nur Straftäter, hatte der bayerische Ministerpräsident geantwortet, das müsse zwingend passieren: „Das Stadtbild muss sich wieder verändern. Es braucht einfach mehr Rückführungen.“
Es handelt sich beim „Stadtbild“ auch um einen bewährten Kampfbegriff der AfD. Im Wahlkampf in Gelsenkirchen beispielsweise warb die AfD für „eine saubere Heimat mit einem gepflegten Stadtbild“.
Es gibt Experten, die ordnen die Rede vom „Stadtbild“ als klassisches „Dog Whistle“ ein: eine rassistische Aussage, die je nach Publikum unterschiedlich verstanden werden kann. Die Soziologin Nina Perkowski von der Universität Hamburg sagte gegenüber "tagesschau.de", es werde "ein kollektives Gefühl des Unwohlseins" konstruiert. So würden Maßnahmen wie Abschiebungen als notwendige Reaktion auf eine vermeintlich "gestörte Ordnung" legitimiert. Das erzeuge ein Klima, das rassistische Anfeindungen und Übergriffe befördere.
Kritik aus anderen Parteien
Die Kritik an Merz aus anderen Parteien geht genau in diese Richtung. So nannte beispielsweise Katharina Dröge, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, seine „Stadtbild“-Aussage „diskriminierend“ und „unanständig“ und fragte den Bundeskanzler: „Wie sieht man denn dieses Problem, außer an der Hautfarbe der Menschen?“ Dröge forderte, Merz solle sich entschuldigen.
Ähnlich äußerte sich die Linke. Auch vom Koalitionspartner SPD kam Kritik an Merz. Adis Ahmetović, der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, kritisierte aber auch Dietmar Woidke, da der SPD-Ministerpräsident beim Besuch von Friedrich Merz nichts zu dieser Äußerung gesagt habe.
Reaktionen aus der CDU
In der CDU verteidigen viele jedoch die Äußerungen des Kanzlers. Union-Fraktionschef Jens Spahn etwa unterstützte gegenüber der "Bild-Zeitung" die Äußerung von Merz und konkretisierte sie: „Schauen Sie sich einen Hauptbahnhof an, in Duisburg, in Hamburg, in Frankfurt“, sagte Spahn. „Verwahrlosung, Drogendealer, junge Männer, meistens mit Migrationshintergrund, meistens Osteuropa oder arabisch-muslimischer Kulturraum. Das hat auch mit irregulärer Migration zu tun, wie es in unseren Innenstädten, auf den Marktplätzen ausschaut.“
Auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer stellt sich im Gespräch mit dem "Spiegel" hinter den Kanzler: Seit 2014 habe sich viel verändert. Die Menschen beschäftige, ob Migranten zum Wohlstand Deutschlands beitrügen, und auch das Thema Kriminalität.
Distanziert hat sich wiederum Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner. Auch andere in der CDU sehen die Äußerung des Kanzlers kritisch: So etwas helfe nur der AfD und ermöglichten ihr, die eigene Partei vor sich herzutreiben.
Gefragt nach dem „Stadtbild“-Begriff, setzte auch der CDU-Politiker Ruprecht Polenz einen anderen Akzent als Merz, Söder und Spahn, sprach von Bausünden und gelungener Architektur statt von Migration und Abschiebungen. Polenz, früher CDU-Generalsekretär, betonte: „Wichtig ist, dass wir das richtige Bewusstsein vom Wir entwickeln.“ Darunter versteht er „das deutsche Volk, so wie es sich jetzt entwickelt hat. Und das ist eben bunt, vielfältig und, wenn Sie so wollen, multikulturell.“
Rhetorik bei Friedrich Merz und Angela Merkel
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Merz gegenüber Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund abfällig geäußert hat. Söhne von Migrantinnen und Migranten bezeichnete er bereits als „kleine Paschas“. Außerdem behauptete er fälschlicherweise, abgelehnte Asylbewerber nähmen Deutschen die Zahnarzttermine weg. Zum Zeitpunkt dieser Äußerungen war Merz allerdings noch nicht Bundeskanzler.
Seine Rhetorik unterscheidet sich damit auch deutlich von jener der ehemaligen CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel: Als nach der Bundestagswahl 2017 der damalige AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen in einer Diskussion sagte: "Ich sehe zum Teil in den Innenstädten, in denen ich mich bewege, nur noch vereinzelt Deutsche. Das kann nicht Ziel unserer Politik sein", grenzte sich Merkel davon ab. Sie wisse nicht, "was Sie sehen, denn ich kann auf der Straße Menschen mit Migrationshintergrund, die deutsche Staatsbürger sind und solche, die die deutsche Staatsbürgerschaft nicht haben, nicht unterscheiden", antwortete die damalige Bundeskanzlerin.
jfr