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Führungsanspruch und Demokratiedefizite

Am Sonntag wählen die russischen Bürger ein neues Parlament. Kaum jemand bezweifelt, dass Wladimir Putins "Einiges Russland" eine erdrückende Stimmenmehrheit auf sich vereinen wird. Die neu eingeführte Sieben-Prozent-Hürde wird womöglich dazu führen, dass einzig die Kommunisten als Opposition in die nächste Duma einziehen.

Von Robert Baag | 01.12.2007
    Der Manegeplatz in Moskau, einen kurzen Steinwurf entfernt vom Kreml, zu Füßen des Reiterdenkmals für Sowjetmarschall Zhukov, den Sieger von Berlin 1945. Heute, an diesem Samstagvormittag im November sind dort Oppositionelle zu besichtigen. Vor einer Hotelbaustelle knien drei Jugendliche, erheben sich rhythmisch, knien nieder, erheben sich wieder, knien nieder und beschwören dabei ein hellblaues Riesenplakat, das die Hotel-Fassade fast völlig bedeckt. Am linken Rand ein stilisierter weißer Bär, das Symbol der so genannten Präsidenten-Partei "Jedinnaja Rossija" - zu Deutsch: "Einiges Russland". Auf dem etwa 100 mal 20 Meter messenden Banner sind nur vier Worte zu lesen - in roten Riesenlettern:

    "Moskau - stimmt - für - Putin!"

    "Oh, Großer Bär", skandieren die jungen Leute, " wir werden den Plan überfüllen, oh Großer Bär, erklär uns Unwürdigen Deinen Plan, den Plan des Großen Bären..."

    Sie haben Spaß, die drei, der Hintergrund aber ist ernst. Sie nennen sich "Freie Radikale" und zählen sich zur Opposition gegen Putin und sein - wie sie sagen - "System". - Allerdings: Kaum ein Passant nimmt Notiz von ihnen. Etwas anderes haben sie auch nicht erwartet. Viele hätten Angst, sich auf so ein kleines Politspektakel einzulassen. Andere aber, so der 27-jährige Maxim Galuschkin ironisch, würden ihre Übungen bestimmt gar nicht bemerken, denn:

    "Für die Fußgänger sind unsere Kniefälle vor dem Bären-Symbol Putins doch Alltag. Das machen die doch schon lange freiwillig - zu Hause, auf der Arbeit, auf Versammlungen... Warum sollten die also auch noch extra hierher kommen, um sich mit uns zu verbeugen?"

    Ganz bestimmt nicht verbeugen, noch nicht einmal aus Spaß, wird sich das reichliche Dutzend verwitterter Kommunisten, das mühsam den Takt zu ihrem Kampflied, der "Internationalen" haltend, vom Lenin-Mausoleum heruntergezogen kommt. Trotzig recken sie ihre Fahnenstangen nach oben. Die roten Flaggen mit dem gelben Hammer-und-Sichel-Emblem beulen sich schlapp in der kühlen Herbstbrise. - Die 70jährige Lydia Ivanovna, die sich extra aus ihrem Dorf bei Moskau auf den Weg gemacht hat, lässt an Putin und dessen Partei "Einiges Russland" kein gutes Haar:

    "Nicht für Putin! Wir stimmen nur für die Kommunistische Partei! - Putin hat doch fürs Volk überhaupt nichts Gutes gemacht. Die Landwirtschaft - die hat er umkommen lassen. Wir haben keine Maschinen mehr, können nicht mehr arbeiten. Für Putin stimmen wir nicht!"

    Die Kommunisten verfügen immer noch über eine Stammwählerschaft. Es sind zumeist die weit über 50-Jährigen und in der Regel sogenannte Wende-Verlierer - Rentner, Veteranen. Wahlforscher, darunter auch vom seriösen unabhängigen Levada-Zentrum, geben der KPRF, der Kommunistischen Partei Russlands unter ihrem Chef Gennadij Sjuganov bei den Duma-Wahlen jetzt am Sonntag bis zu 14 Prozent der Stimmen. Damit wäre sie im nächsten russischen Parlament sicher vertreten. Die neu eingeführte Sieben-Prozent-Hürde wird sie wohl leicht überwinden, ihren landesweit organisierten Parteiapparat hat sie sich in den 16 Jahren nach dem Ende der Sowjetunion bewahren können. - Für viele Menschen in Russland klingt es dennoch wie ein Treppenwitz der Geschichte, dass womöglich nur die Kommunisten, diese selbst ernannten Lordsiegelbewahrer des untergegangenen Sowjetvermächtnisses, in der Oppositionsrolle das frei gewählte demokratische Feigenblatt in der nächsten Duma abgeben könnten. Kaum jemand bezweifelt, dass Putins "Einiges Russland" am Sonntag eine erdrückende Stimmenmehrheit im russischen Parlament auf sich vereinen wird. "Spannend" - in Anführungszeichen - ist für viele Politikinteressierte - und das ist schon lange eine Minderheit in Russland - spannend ist für sie eigentlich nur noch, ob "Einiges Russland" vielleicht sogar die verfassungsändernde Zweidrittel-Mehrheit im neuen Unterhaus erreichen kann - mit all den daraus drohenden Konsequenzen. Das Staatsoberhaupt höchstpersönlich, Vladimir Putin, hat ein ehrgeiziges Ziel vorgeben. Mitte November, im sibirischen Krasnojarsk, umgeben von Technikern, - von "Werktätigen" - spotteten Journalisten unter Anspielung auf offenkundig sowjetisch inspirierte Rituale, dort also beschrieb Putin, welches Wahlergebnis er sich als offiziell parteiloser Spitzenkandidat von "Einiges Russland" erwartet:

    "Was mich persönlich betrifft, kann ich Ihnen sagen: Wenn die Menschen, so wie Sie das tun wollen, für mich als Spitzenkandidat von ‚Einiges Russland' stimmen werden, dann heißt das: Die erdrückende Mehrheit unserer Bürger vertraut mir! - Das aber gibt mir das moralische Recht, all jene nach ihrer Verantwortung zu fragen, die in Duma und Regierung arbeiten, ob sie unsere jetzt beschlossenen Entscheidungen umgesetzt haben. - Wie ich das dann machen werde, möchte ich heute noch nicht sagen. Aber es gibt verschiedene Möglichkeiten. Wenn es zu dem Wahlergebnis kommt, auf das ich zähle, dann habe ich die Option."

    Damit war die Katze endgültig aus dem Sack. Kurz vor dem Urnengang der Bürger hatte Putin klar gemacht, dass es nicht so sehr ums Parlament geht, um den Sieg aus einem fairen Kampf unterschiedlicher politischer Richtungen und Parteien, sondern um die Kontinuität der Herrschaftsausübung, seiner Herrschaftsausübung in welcher Funktion auch immer. Parteien, so der Eindruck, haben dabei allenfalls ornamentalen Charakter. Die eigentlichen Entscheidungen werden ganz woanders getroffen, so die Botschaft zwischen den Zeilen. - Heinrich Vogel, Sowjet- und Russland-Experte seit vielen Jahren kam erst vor wenigen Tagen vor dem Deutsch-Russischen Forum in Berlin zu einem alarmierenden Befund:

    "Das Land steht an der Schwelle eines neuerlichen Systemwechsels, und zwar nicht in Richtung Verfassungsstaat, Parlamentarismus oder Demokratie, sondern zur Parallelstruktur von Partei und Staat nach wenig bewährtem Vorbild. Mit dieser Entwicklung liebäugelt nicht nur eine autoritär denkende Führung. Nach einer jüngsten Umfrage des unabhängigen Levada-Instituts vertreten 37% des Wahlvolks die Meinung, das Land sollte nur mit Erlassen regiert werden, 35% finden das politische System vor 1990 besser als das heutige, 28% wollen nur eine starke Partei und 7% gar keine. In einem solchen Umfeld kann der Duma-Vorsitzende Boris Gryslov feststellen, dass - Zitat: - "die Duma kein Platz für Diskussionen" sei, ohne dass es in der russischen Öffentlichkeit zu nennenswerten Protesten käme."

    Boris Gryslov, Parlaments-Chef und Vorsitzender von "Einiges Russland", den Scharfzüngige nicht selten als die äußerlich perfekte Kreuzung zwischen einem britischen Landadligen und einem hohen preußischen Beamten bespötteln, dieser sich stets distinguiert gebende Boris Gryslov also geriet kürzlich völlig aus dem Häuschen. Bei dem jüngsten Auftritt des russischen Präsidenten vor seinen Anhängern der Sammlungs-Bewegung "Za Putina" "Für Putin" im Moskauer Luzhniki-Sportpalast gab Gryslov eine Premiere - als fast schon ein wenig hysterisch wirkender Einpeitscher:

    "Wir lieben unsere Heimat! - Ja!", ruft Gryslov in den Saal, aus dem es begeistert "Jaaa!" zurückschallt. - "Wir sind stolz auf unseren "Nationalen Leader" Vladimir Putin! - Ja!" - und wieder kommt das begeisterte Echo: "Ja!" - "Leader", das englische Wort für "Anführer", "Mannschaftskapitän" - aber eben auch "Führer". Semantik kann nichts für historisch belastete Begrifflichkeit. Denn im Russischen gibt es selbstverständlich eine direkte Entsprechung für "leader". Das Wort lautet: "Vozhd". Aber diesen Titel trug im Sinn von "Führer" in Russland bisher nur einer - inoffiziell -, und das war Sowjetdiktator Stalin. Mit dessen Namen ist aber auch noch ein anderes Phänomen der jüngeren Geschichte Russlands verbunden: Der Begriff des Personenkults, der byzantinischen Lobpreisung und freiwilligen, aber auch erzwungenen Huldigung an einen Herrscher. Für viele Russen ist die öffentliche Putin-Begeisterung in Russland während der vergangenen Monate und Wochen eine Art Neuauflage des Personenkults - und sie geht nicht wenigen auch schon gehörig auf die Nerven. Keine Fernsehnachrichten ohne den Präsidenten - Minister oder Generäle erscheinen zum Rapport, werden gelobt, ermahnt oder auch schon mal abgekanzelt, dann: Putin auf dem Dorf, als um das Wohl seiner Offiziere besorgter Kontrolleur von Armeeunterkünften, als Freizeitangler mit nacktem, muskulösem Oberkörper, und auch schon einmal als milder, vor jugendlichen Internet-Begeisterten sanft tadelnder Romantiker - inklusive beifälligem Nicken vieler um ihn gescharter adretter junger Mädchen:

    "Wir haben doch noch Theater, Bücher, Konzertsäle, Sportplätze, Schwimmbäder, Hallen für Kampfsport ... - ja, klar, natürlich kann man SMS-Botschaften schicken, aber vielleicht ist es ja manchmal einfach noch schöner, an einer Straßenuhr mit einem Rosenstrauß auf ein Mädchen zu warten."

    "Am zweiten Dezember", mahnt Nikita Belych von der oppositionellen konservativen Partei SPS "Bund Rechter Kräfte" in einem gegen Mitternacht ausgestrahlten Fernseh-Wahlspot, "da entscheidet sich das Schicksal Russlands für viele Jahre. Uns wird erzählt, hier gehe es um eine Vertrauensabstimmung für Präsident Putin - in Wirklichkeit wird es ein Referendum darüber sein, ob wir zurück kehren in die Sowjetunion, in das Ein-Parteien-System, eine staatlich gelenkte Wirtschaft, zum Personenkult, zur künstlichen Angst vor Spionen, zur Militarisierung des Landes. Im Moment scheint dies irreal zu sein. Genauso wie der kommunistische Umsturz vor 90 Jahren irreal erschien. - Gegen all dies ist der SPS. Er ist die Widerstandsbewegung gegen eine neue Form der KPdSU, einer Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Der SPS will, dass Russland sich europäisch entwickelt, auf einem europäischen Wohlstandsniveau. Trefft eure Wahl: SPS oder KPdSU neu.- Wählt die Zukunft. Nicht die Vergangenheit. - Für den "Bund Rechter Kräfte"! Gegen den Personenkult!"

    Nikita Belych und Boris Nemzov, der voraussichtliche Präsidentschaftskandidat der Rechtsliberalen bei den Wahlen im kommenden März, haben genauso wie die linksliberale "Jabloko"-Partei des Grigorij Javlinskij nur eine geringe theoretische Chance, am Sonntag die Sieben-Prozent-Hürde zu überwinden. Sie alle gelten, wenn auch in unterschiedlicher Schärfe, der Macht im Land als die Verkörperung der "inneren Feinde". Ein ausgrenzender Begriff, der einmal mehr eine berüchtigte, mit der stalinistischen Schreckensherrschaft verbundene Tradition fortsetzt: Wurde damals jemand als "vrag naroda", als "Volksfeind" bezeichnet, musste er ernsthaft um seine Freiheit, wenn nicht sogar um sein Leben fürchten. Heute nennt Putin Russlands innere Feinde öffentlich "Schakale", die um Botschaften herumschlichen und auf ausländische Hilfe und Finanzen hofften. Und auch das alte Bild vom "eingekreisten Russland" wird zunehmend wieder aufpoliert:
    "Da gibt's Leute, die - entschuldigt den Ausdruck - wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank haben. So sagt man doch wohl im Jugend-Slang? Jedenfalls reden die fortwährend davon, Russland müsste aufgeteilt werden, besitze zu viele Bodenschätze, von denen es abgeben müsse. Wobei die selbst übrigens keineswegs bereit sind, ihrerseits etwas abzugeben. Tja, das müssen wir berücksichtigen. Auch das ist Teil der heutigen Realität."

    Haupt- und Lieblingsgegner der Putin-Mannschaft sind schon seit geraumer Zeit die USA. Die Konflikte mit Washington häufen sich und folgen immer schneller aufeinander. Beschwerden über Polizei-Einsätze gegen Putin kritische Demonstranten oder gegen die Festnahme prominenter Oppositioneller wie Gari Kasparov bürstete Außenminister Sergej Lavrov zu Beginn dieser Woche am Rande der Annapolis-Nahost-Konferenz kühl ab:

    "Wenn man uns aufordert, die Freiheit des Wortes, die Versammlungsfreiheit zu achten, dann ist das wohl eine überflüssige Bitte. Denn das steht alles in unserer Verfassung. Und umgesetzt wird das nach den Normen unserer Gesetze. In diesem Fall durch die jeweilige Stadtverwaltung, die den Ort für das Meeting unter Berücksichtigung der Interessen der übrigen Stadtbevölkerung zuweist. Und dem ist Folge zu leisten. Vorsätzliches Übertreten behördlicher Auflagen ist natürlich eine Provokation!"

    Hinter der Absage des OSZE-Büros für Menschenrechte, offizielle Beobachter zur Duma-Wahl zu schicken, steckt nach Ansicht des Kreml ebenso der lange Arm Washingtons, das - so ein gereizter Putin zu Wochenbeginn wörtlich - "auf diese Weise versucht, die Wahlen zu delegitimieren." Dies werde jedoch nicht gelingen. Die vorangegangenen Behinderungen und Einschränkungen, über die sich die OSZE vorher lange und mehrfach beschwert hatte, betrachten russische Offizielle als gegenstandslos.

    Die harte bis überharte Reaktion des Kreml auf fast jede Form von Widerstand gegen das offiziell erwünschte Bild während der vergangenen Monate hat viele politische Beobachter überrascht - vor allem angesichts der Beliebtheit, die Putin offenbar tatsächlich in weiten Teilen der Bevölkerung zu genießen scheint. Für den Publizisten Leonid Radzichovskij scheint dies nicht zuletzt psychologisch erklärbar zu sein. Nachdem sich Mitte November in der russischen Provinzstadt Tver - hauptsächlich wohl finanziert von Putins "Einiges Russland" - die so genannte "Spontan"-Bewegung "Za Putina" "Für Putin" konstituiert hatte, stellte Radzichovskij fest:

    "30 Millionen Unterschriften nachzumachen oder sie dem Volk abzupressen ist unmöglich. Diese Zahl spiegelt eine massenhafte Volksstimmung wider. Was sie eigentlich wollen? - Ich weiß es nicht! Wahrscheinlich wissen sie es nicht einmal selbst. Da wird's welche geben - wie diesen naiven Burschen in Tver - die Angst davor haben, einen Talisman aus der Hand zu geben. Der hatte doch bei seinem Auftritt klar gesagt: ‚Putin ist ein Glücks-Talisman!'"

    Für den augenscheinlichen Erfolg der Putin'schen Politik bei den russischen Wählern hat Chefredakteur Vladislav Fronin von der kremlfreundlichen "Rossijskaja Gazeta" noch eine andere, banal klingende, deshalb aber nicht unbedingt falsche Erklärung:

    "Bevor die Menschen wählen gehen, gucken sie nicht so sehr ins Fernsehen, sondern in ihren Kühlschrank. Wenn der leer ist, zugleich aber der Fernseher wie ein Dampfbügeleisen Propaganda- Schwaden ausstößt: ‚Hier wurde es besser, dort sind die Löhne gestiegen' - dann wird sie das nicht beeindrucken. Die wissen doch, wo es wirklich besser geworden ist, was sich geändert hat."

    Nicht wenige Ökonomen verweisen darauf, dass der Löwenanteil des nun schon Jahre anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs in Russland aus den Energieexporten bzw. den hohen Weltmarktpreisen für Erdgas und Erdöl stammt. Allerdings steigt inzwischen auch die Inflationsrate. Sie soll Schätzungen zufolge zum Jahresende bei 11 Prozent liegen. Preisschübe für Brot und Speiseöl im Herbst führten zu ersten Rentnerprotesten. Das rosa gefärbte Bild einer schier endlosen Erfolgsbilanz begann sich einzutrüben. Die Machtelite zog die Notbremse und ließ vermeintlich publikumswirksam Preise einfrieren. Gouverneur Alexandr Tkatschov aus dem südrussischen Krasnodar etwa, eigentlich noch ein junger Mann, griff vor laufenden Fernsehkameras tief in das Schatzkästlein alt- sowjetischer Funktionärsterminologie und gab sich kämpferisch:

    "Ich bitte unsere Sicherheits-Organe sorgfältig zu ermitteln und all jene Betriebsleiter zur Verantwortung zu ziehen, die sich parasitär verhalten, mit den Preisen spekulieren. Wer sich an dieser Verschwörung einer Korporation, einer Handelsgesellschaft, beteiligt und auf diesem Markt spekuliert hat, der soll sich nach der ganzen Strenge des Gesetzes verantworten."

    "Korporation", "geschlossene Handelsgesellschaft" - Stichworte, die sich die Journalistin Jevgenija Albaz erfreut herauspickt, um sie aber ganz anders anzuwenden:

    "Bei uns an die Macht gekommen ist eine Korporation. Diese Korporation heißt: ‚Komitee für Staatssicherheit" - KGB. Diese Korporation hat alle Schlüsselpositionen besetzt: In den Ministerien, im Kreml, in den Regionen. Die Prinzipien eines korporativen Staates sehen so aus: Gegenseitige persönliche Loyalität, ein Jargon, der untereinander verbindet, ein gemeinsamer biographischer Hintergrund. Solche korporativen Staatsstrukturen sind charakteristisch für Lateinamerika. Dort sind das militärbürokratische, autoritäre Systeme. Dort ist der Träger das Militär - bei uns aber haben die Geheimdienstler diese Nische besetzt."

    Fiele Putin demnächst als nicht wieder wählbarer Moderator weg, geriete ein mühsam austariertes Gebilde ins Wanken. Neue Verteilungskämpfe um Pfründe und Macht will in Moskau heute niemand, gerade die saturierten und mit dem Geheimdienst verbandelten Neo- und Alt-Oligarchen der Putin-Ära nicht.

    Die Ungewissheit aber, ob zum Beispiel die Wahlbeteiligung hoch genug sein wird, wie es überhaupt nach den Wahlen vom 2. Dezember weitergehen wird, wie solide dann die Machtbasis in der Duma aussehen wird, welche Entscheidung Putin selbst trifft oder man ihm nahe legen wird, ob man auf die außer- parlamentarische Pro-Putin-Bürgerbewegung "Za Putina" und eine Art gesteuertes Volksbegehren für Putin wird zurückgreifen müssen, um den Status quo möglichst zu bewahren, das alles hat die oberen Etagen der Macht immer nervöser werden lassen. "Wer - wen?" Die alte Lenin'sche Machtfrage scheint wieder auferstanden zu sein, aber ohne echte, direkte Beteiligung des Souveräns, des russischen Volkes. Die Journalistin Jevgenija Albaz:

    "Die Aufgabe für einen korporativ organisierten Staat heißt: Er muss seine Bürger möglichst komplett aus der Politik heraushalten. Eine Demokratie braucht die politische Mobilisierung ihrer Bevölkerung. In autoritären Staaten aber sollen die Menschen möglichst überhaupt nicht an so etwas denken. Don't worry, be happy! - Schlaf ruhig, teurer Genosse! Denk an nichts! Handeln und Denken überlass ruhig uns! Wir machen das schon!"

    Oder wie die "Freien Radikalen" vorschlagen, die Lust-Spontis vom Moskauer Manege-Platz: Rund um die Uhr und über alle Sender und Lautsprecher diesen bekannten Schlager abspielen:: "Vsjo budet choroscho" - "Alles wird gut" - "Wird schon wirken", grinst Maxim und zwinkert mit dem rechten Auge ...