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Gaito Gasdanows "Schwarze Schwäne"
Am falschen Ort zur falschen Zeit geht das Leben weiter

Mit 16 kämpfte Gaito Gasdanow für die Weiße Armee im russischen Bürgerkrieg, floh nach Paris, schlug sich als Taxifahrer durch, schrieb Romane und Erzählungen. Er gilt heute als Klassiker der Moderne. Nun liegen Gasdanows Erzählungen der 1930er- und 1940er-Jahre endlich auf Deutsch vor.

Von Volkmar Mühleis |
Cover von Gaito Gasdanows "Schwarze Schwäne", im Hintergrund Les Avenues du Bois de Boulogne, Paris um 1935
Gaito Gasdanow erzählt vom Exil vieler Russen im Paris der 1930er- und 1940er Jahre (Foto: imago / Arkivi; Buchcover: Carl Hanser Verlag)
Am falschen Ort zur falschen Zeit geht das Leben weiter. Nur wie? Das ist die Grundfrage von Gaito Gasdanows Erzählungen in dem Band "Schwarze Schwäne", ausgewählt und übersetzt von Rosemarie Tietze. Neun Geschichten sind hier versammelt, zwischen 1928 und 1960 in russischen Literaturzeitschriften erschienen. Nur eine davon ist bereits auf Deutsch veröffentlicht worden, 1948; für die erste deutsche Buchpublikation der Erzählungen Gasdanows hat die Übersetzerin sie neu übertragen.
Wie kommt es zu dieser Grundfrage: Am falschen Ort zur falschen Zeit geht das Leben weiter – nur wie? Der falsche Ort ist in den meisten Geschichten Paris, das Exil vieler Russen nach der kommunistischen Revolution in ihrem Land.
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Das Leben als Farce

Die falsche Zeit, das sind die Dreißiger- und Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts, die Zeit totalitärer Machtergreifungen, resultierend im Zweiten Weltkrieg. Dass das Leben weitergeht, erscheint unter diesen Vorzeichen als Farce – voller Überraschungen, unerwarteter Begegnungen, menschlicher Zwischentöne. Diese Zwischentöne sind es, die das Wie bestimmen, im Erzählenswerten, Mitteilsamen. Ein Ausschnitt:
"Sie stand auf und ging zur Tür, kehrte dann um, und mit einer heftigen, raschen Bewegung, die typisch für sie war – Alexej Stepanowitsch erkannte sie auch sofort, es rief ihm viele zärtliche und anscheinend vergessene Dinge ins Gedächtnis –, legte sie die Hände auf seine Schultern und setzte sich ihm auf den Schoß; von ihrem schweren Körper taten ihm gleich die Beine weh. Sie sagte nichts, schaute ihm nur gut eine Minute in die Augen; und an dem leicht verschreckten und Mitleid heischenden Blick begriff er mehr, als sie hätte sagen können."

Sachlicher und modernen Ton

Gasdanow zeichnet seine Figuren und Schilderungen in scharfen Schnitten. Die literarischen Mittel spiegeln so eine Welt, die einem nichts erspart. Der Ton ist sachlich und modern. In der ersten Erzählung mag manches noch überzeichnet sein – da ist von den "klebrigen Teppichen des Lasters" die Rede –, doch spätestens ab der dritten Geschichte, "Hawaiigitarren", eröffnet sich eine kompositorische und stilistische Finesse, die bis zum Schluss des Bandes gehalten und gesteigert wird.
"Hawaiigitarren" handelt vom Tod der Schwester des Protagonisten – in der Regel ein Ich-Erzähler – und wie er den Trauerzug durch Paris erlebt, in trostloser Ferne zu Bestattungen im tiefgläubigen Russland. Melancholie wird in den verschiedenen Geschichten mit Witz und Groteske, selbstkritischen Reflexionen und stiller Beschreibung des Schönen gebrochen, gewandelt.
"Pawlow wohnte in einem winzigen Zimmer eines der billigen Hotels in Montparnasse. Die Wände hatte er selbst gestrichen, hatte Regale angebracht, Bücher aufgestellt und sich einen Petroleumkocher gekauft; und wenn er eine gewisse Summe angespart hatte, die es ihm erlaubte, eine Zeitlang nicht zu arbeiten, verbrachte er ganze Monate in diesem Zimmer, von morgens bis abends allein, und ging nur nach draußen, um Brot oder Wurst oder Tee zu kaufen. ,Was tun Sie denn die ganze Zeit?', fragte ich ihn während einer solchen Phase. ,Ich denke', erwiderte er."
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Mann ohne Eigenschaften

Pawlow ist die Hauptfigur der grandiosen Kurzgeschichte "Schwarze Schwäne", nach welcher der gesamte Erzählband benannt ist. Pawlow ist ein seiner selbst bewusster, im menschlichen Verhalten gefangener Einzelgänger, ein intelligenter, spöttischer Mann ohne Eigenschaften, der von der Schönheit des Absurden träumt. In Australien solle es schwarze Schwäne geben, die würde er für sein Leben gern sehen. Doch so weit wird es nicht kommen, er beendet sein Leben nach reiflicher Überlegung am dafür selbst festgelegten Tag.
In Gasdanows Erzählungen verdichten sich Perspektiven und Motive der Moderne, wie sie auf die Art anderswo selten erscheinen: Das existentialistische Grundgefühl, wie Jean-Paul Sartre es in seinem Roman "Der Ekel" 1938 beschrieb, entfaltet sich hier in französischer Szenerie vor russisch-orthodoxem Hintergrund, in der Flucht vor dem Kommunismus, dem Leiden am Faschismus im von den Deutschen besetzten Paris. Inmitten des urbanen Alltags erscheint plötzlich ein orthodoxer Mönch im Kaffeehaustreiben, erwachen Erinnerungen an die Natur Sibiriens, finden sich russische Schwarzhändler zusammen, um eine Seelenmesse nach altem Brauch zu singen

Weltliterarische Anspielungen

Dabei sind die Geschichten durchzogen von weltliterarischen Anspielungen, von Charles Dickens über Honoré de Balzac bis hin zu Fjodor Dostojewski, in ebenso spitz herausfordernder wie subtil eingeflochtener Weise. Und nicht anders wie Walter Serner im Deutschen ließ Gasdanow französische Redewendungen im Original in die Texte einfließen, um zugleich darauf sprachlich reflektieren zu können.
Der nun vorliegende Erzählband "Schwarze Schwäne" gibt eine erste Kostprobe von den über 50 Erzählungen in der russischen Gesamtausgabe der Werke Gaito Gasdanows. Auf dass der Büchertisch mit weiteren Übersetzungen reich gedeckt wird!
Gaito Gasdanow: "Schwarze Schwäne". Erzählungen
Ausgewählt, aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Rosemarie Tietze
Carl Hanser Verlag, München. 272 Seiten, 24 Euro.