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Gegen Populismus
Zwei Handlungsanleitungen für wehrhafte Demokraten

Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder erklärt in seinem Band "Über Tyrannei", wie Demokratie und liberale Gesellschaft zu verteidigen sind. Der Soziologe Harald Welzer macht mit "Wir sind die Mehrheit" das Gleiche. Zwei Regelbüchlein, die mobilisieren.

Von Catrin Stövesand | 24.04.2017
    Hunderttausende Menschen demonstrieren in Washington für Frauenrechte, für ein weltoffenes Amerika und gegen US-Präsident Donald Trump. Überall auf der Welt schließen sich Frauen und Männer diesen Protesten an.
    Die erste Lektion aus der Geschichte lautet für Snyder, keinen vorauseilenden Gehorsam zu leisten. (picture alliance / MAXPPP/dpa)
    20 Lehren aus dem 20. Jahrhundert - angewendet auf die heutige Situation in den USA. Das ist das Rezept von Timothy Snyder, um die Demokratie in den Vereinigten Staaten zu schützen.
    Der renommierte Historiker Snyder, der über NS-Diktatur und Stalinismus publiziert hat, konstatiert, die Amerikaner seien heute ebenso arglos wie die Europäer im 20. Jahrhundert. Die hätten damals erlebt, wie die Demokratie dem Faschismus, Nationalismus oder Kommunismus gewichen sei. Daher gelte es, aus eben dieser Geschichte zu lernen: "Es ist [...] gute Tradition, dass wir Amerikaner einen Blick in die Geschichte werfen, wenn unsere politische Ordnung bedroht scheint. Wenn wir heute in Sorge sind, das amerikanische Experiment könnte durch eine Tyrannei gefährdet sein, können wir dem Beispiel der Gründerväter folgen und die Geschichte anderer Demokratien und Republiken betrachten."
    Timothy Snyder warnt vor Populisten, vor denen, die behaupten, "dem Volk eine Stimme zu geben". Damit meint er explizit die aktuelle US-Regierung unter Präsident Donald Trump. Was er durch diese Protagonisten aufziehen sieht, nennt er Tyrannei.
    Warnung vor vorauseilendem Gehorsam
    Skepsis und Widerstand sind in dem schmalen Bändchen "Über Tyrannei" entsprechend seine Hauptanliegen. Die erste Lektion aus der Geschichte lautet für Snyder, keinen vorauseilenden Gehorsam zu leisten. Er skizziert Erfahrungen aus Nazi-Deutschland und fügt das Milgram-Experiment über blinden Gehorsam und Bereitschaft zu Folter an, um zu veranschaulichen, welche Folgen schnelle und bereitwillige Anpassung haben kann.
    Snyder ruft dazu auf, Institutionen zu verteidigen, an die man glaubt - Gesetze, eine Gewerkschaft oder eine Zeitung. Ebenso gelte es, Parteienvielfalt zu unterstützen, überhaupt wählen zu gehen. Stets unterfüttert der Historiker seine Appelle mit kurzen Rückblenden auf das 20. Jahrhundert.
    Eine Holzhammermethode, zugegeben, aber rasch zu lesen und nachzuvollziehen. Das breite US-Publikum könnte Snyder mit diesem Buch erreichen. Aber sind seine Warnungen auch übertragbar auf ein deutsches Publikum?
    Der Wert der Wahrheit
    In Deutschland nutzen Populisten ähnliche, aber auch subtilere Methoden als die hier genannten. Es gibt einige Bücher etwa über die Neue Rechte, die diese Mechanismen verdeutlichen. Diese erfordern natürlich einen wissbegierigen Leser. Jemand, der schlicht wissen will, wie er seinen Impuls nach Widerstand und Meinungsäußerung in Sachen Populismus und Nationalismus umsetzen kann, der wird bei Snyder rasch und sicher fündig.
    Etwa die Appelle, sich öffentlich zu engagieren, reflektiert mit Sprache umzugehen sowie den Wert von Wahrheit und Fakten zu schätzen, sind eins zu eins auf Deutschland oder Europa übertragbar: "Wenn nichts wahr ist, dann ist alles Spektakel. Die dickste Geldbörse zahlt für die blendendsten Lichter. [...] Nach der Wahrheit ist vor dem Faschismus."
    Einiges in Timothy Snyders Thesen wiederholt sich, dennoch sind sie kurz und prägnant, bisweilen drastisch und zumeist überzeugend.
    "Die Geschichte ermöglicht es uns, Muster zu erkennen und Urteile zu fällen. Sie skizziert für uns die Strukturen, innerhalb derer wir nach Freiheit streben können."
    Harald Welzer kritisiert Horst Seehofer
    Auch das Buch "Wir sind die Mehrheit" von Harald Welzer ist eine konkrete Handlungsanleitung für Menschen, denen Angstdebatten, Abschottung und rückwärtsgerichtete Politikmuster widerstreben. Und es beginnt mit einer Klatsche gegen Horst Seehofer. Der bayerische Ministerpräsident bilde - Zitat – "den personifizierten Tiefpunkt der politischen Kultur der heutigen Bundesrepublik Deutschland." Gemeint ist Seehofers Äußerung nach dem Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt, man müsse die gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken.
    Der Sozialpsychologe und Soziologe Welzer findet eindeutige Worte für die Methode, aus solchen Tragödien politisches Kapital zu schlagen. Sie sei unmoralisch und disqualifiziere für "jede Tätigkeit, in der man Verantwortung für andere tragen muss".
    13 Regeln für Demokratiefreunde
    Welzer hat eine Mission, nämlich die offene Gesellschaft zu bewahren. Zusammen mit anderen hat er eine Initiative gegründet, die Veranstaltungen organisiert. Der Zulauf bei diesen Diskussionsabenden zeigte: Viele Menschen wollen sich engagieren, sich nicht vereinnahmen lassen, wissen aber nicht, wie.
    13 Regeln hat Welzer also nun aufgestellt. Manchmal sind das Feststellungen oder Thesen, manchmal Appelle. So folgert er aus Seehofers Verhalten die Regel: "Der rechte Rand ist für eine stabile Demokratie kein Problem. Ein Problem ist es, wenn die Themen des rechten Rands in die Mitte der Gesellschaft wandern."
    Angriffe auf die offene Gesellschaft erfolgten durch islamistisch motivierte Terroristen sowie durch Populisten und Nationalisten. Der Kampf gegen den islamistischen Terror werde ein langfristiger sein. Zivilgesellschaftlich sei es daher sinnvoll und notwendig, sich den Nationalisten, den Freiheitsfeinden entgegen zu stellen. Und an dieser Stelle verweist Welzer wie Snyder auf die Geschichte.
    "Das 20. Jahrhundert hat uns mit dem Nationalsozialismus, dem Sowjetsystem und einigen anderen mörderischen staatlichen Experimenten darüber belehrt, wie gewalttätig nichtdemokratische Gesellschaften sind oder jederzeit sein können. Und ein Blick in die Türkei, aber auch nach Polen oder nach Ungarn zeigt uns darüber hinaus in Echtzeit, was es bedeutet, wenn man unter autoritären Regimen versucht, eine eigene Meinung zu äußern."
    Demokratien sind auf Entwicklung angelegt
    Mit viel, manchmal zu viel Pathos hebt Harald Welzer die Vorzüge der Demokratie und der offenen Gesellschaft hervor, die eben nicht perfekt sind oder sein wollen, sondern sich stetig weiterentwickeln. Regierungen seien abwählbar, Einstellungen und Ansichten wandelbar, so dass sich notwendige Veränderungen vollziehen könnten. Welzers Regel Nummer Eins lautet also: "Es ist einfacher, für die Demokratie zu kämpfen, solange es sie noch gibt."
    Anders als der Historiker Snyder leitet Welzer seine Thesen zumeist aus dem Hier und Jetzt her, er kritisiert neoliberale Strukturen und Versäumnisse der etablierten Politik. Aber er warnt ebenso wie Snyder vor denjenigen, die die Demokratie für ihre Absichten preisgeben wollen.
    "...liberal, friedlich und egalitär eingestellte Gruppen glauben, dass ihre Gegner so ähnlich ticken wie sie selbst. Das aber erweist sich regelmäßig als Irrtum. Wer Demokratie zerstören will, handelt eben nicht als Demokrat. Er benutzt die - in seinen Augen ohnehin schwachen - Demokraten für seine Zwecke."
    Welzer ist kein naiver Gutmensch, er formuliert wohltuend entschlossen und eindeutig.
    Ein wenig anstrengend kann seine Attitüde sein, wenn man aber über solche, wenigen Stellen hinwegliest, möchte man sich am Ende des Buches gern der Initiative "Offene Gesellschaft" anschließen für die Welzer formuliert: "...liebe Zeitreisende nach Gestern, liebe Menschenfeinde und Starkerregte, dies ist unser Land, nicht Eures."
    Zwei verschiedene Ansätze also, die die Demokratiefreunde Timothy Snyder und Harald Welzer mit ihren Regelbüchlein verfolgen, und unterschiedliche Schwierigkeiten, die sie auf beiden Seiten des Atlantiks angehen - das notwendige Ergebnis, die wehrhafte Demokratie ist Konsens. Wo Welzer enthusiastisch mobilisiert, überzeugt Snyder mit bestechend präziser Sprache und Argumentation.
    Timothy Snyder: "Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand",
    C.H.Beck, 127 Seiten, 10 Euro
    Welzer, Harald: "Wir sind die Mehrheit. Für eine Offene Gesellschaft",
    S.Fischer, 126 Seiten, 8 Euro