Samstag, 20. April 2024

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Gendern und Barrierefreiheit
Liebe Leser Unterstrich innen

Sternchen, Binnen-I, Doppelpunkt: Gendern ist schon lange ein Streitthema. Die Idee, Geschlechtervielfalt auch in Sprache abzubilden, halten ihre Kritiker vor allem für ein Ruinieren eben dieser Sprache. Auch für blinde und sehbehinderte Menschen ist das Gendern ein Problem - allerdings weniger ein ideologisches.

Von Peter Weissenburger | 03.03.2021
Ein Papier hinter einem Fenster, auf dem steht: "Paketbot*Innen Bitte Klingeln!"
Das Gendern in der Sprache setzt sich immer mehr durch (IMAGO / Stefan Zeitz)
Robbie Sandberg ist Jugendreferent beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband. Er nutzt zum Lesen im Netz unter anderem die Sprachausgabe, auch bekannt als "Screenreader". "Wenn ich mit einem Screenreader zum Beispiel im Web etwas recherchiere, dann muss ich mir natürlich alles Mögliche vorlesen lassen. Also ich kann nicht wie eine sehende Person ‚querlesen‘ – sondern ich muss mir quasi jeden Link vorlesen lassen."
Bis man da ankommt, wo man hinwill, sagt Robbie Sandberg, höre man jede Menge Information, die man nicht brauche. Da komme es erschwerend hinzu, wenn Gender-Zeichen mit vorgelesen würden. "Wenn eine sehende Person einen Text liest, in dem zum Beispiel ein Unterstrich vorkommt, dann denkt die sich ja nicht das Wort in den Text hinein, den sie liest, sondern sie sieht das Zeichen und deutet es entsprechend. Und das können Blinde so nicht, weil die Sprachausgabe das Zeichen eben ausspricht, damit man weiß, dass es da ist."

"Sehr, sehr schnell nervig"

Immer mehr Webseiten und Apps benutzen die Schreibweisen mit dem Sternchen, dem Unterstrich oder dem Doppelpunkt, auch einige Zeitungen gendern. Für blinde und sehbehinderte Menschen, die sich Texte von einer automatischen Sprachausgabe vorlesen lassen, kann das unpraktisch sein. Robbie Sandberg: "Dann sagt die zum Beispiel sowas wie: ‚Hörer Unterstrich innen‘. Und jetzt kann man natürlich sagen: Das sind ja nur drei Silben, was soll die Aufregung! Aber es läppert sich halt sehr schnell – und wenn Sie einen gegenderten Text lesen, wo das oft vorkommt, dann wird das sehr, sehr schnell nervig und stört einfach ungemein den Lesefluss."
Gendern im Journalismus
Über geschlechtergerechte Sprache wird seit Jahrzehnten diskutiert. Inzwischen ist es in vielen Redaktionen normal, nicht nur auf die männliche Formulierung zurückzugreifen. Trotzdem bleibt das generische Maskulinum überrepräsentiert.
In der Apple-Sprachausgabe VoiceOver klingt das zum Beispiel so: "Liebe Kolleg Unterstrich innen, Referendar Unterstrich innen und Hospitant Unterstrich innen!" VoiceOver ist eine häufig genutzte Software, daneben gibt es Talkback von Android, JAWS für Desktop-Computer sowie die Gratis-Software NVDA. Hinzu kommen Sprachausgabe-Funktionen, die in Programme oder Betriebssysteme integriert sind. Bei manchen Anwendungen kann man Zeichen abschalten. Etwa den Unterstrich. Dann würde die Sprachausgabe sagen: "Liebe Kolleg innen, Referendar innen und Hospitant innen!"

Es geht um Nischenprodukte

"Nur dann wird mir halt der Unterstrich auch nicht angesagt, wenn ich ihn wissen will. Wenn er also zum Beispiel in Emailadressen vorkommt, würde ich ihn dann auch nicht hören. Also eigentlich ist das auch keine Lösung." Das Problem, sagt Robbie Sandberg, sei bei allen Gender-Zeichen dasselbe. Auch beim Doppelpunkt, von dem oft behauptet wird, er sei die beste Lösung. Stimmt leider nicht. Einige Nutzerinnen und Nutzer beklagen sogar, dass ihnen der Doppelpunkt als besonders lange Pause vorgelesen wird. Aber könnten die Softwares nicht unterscheiden lernen: zwischen Sonderzeichen und Gender-Zeichen? "Ja, aber soweit, also, das sehe ich in nächster Zukunft eigentlich nicht."
Sprachausgaben sind leider ein Nischenprodukt. Zudem ist das Gendern in jeder Sprache unterschiedlich, Französisch gendert anders als Deutsch – und im englischen Sprachraum, wo die meisten Softwares entwickelt werden, stellt sich die Frage gar nicht. Immerhin, Microsoft Deutschland sagt auf Anfrage: Man stehe im engen Austausch mit den Abteilungen in den USA, die die Sprachausgabe beim Betriebssystem Windows 10 entwickelten, um eine genderfaire und barrierearme Lösung zu erarbeiten. Man könne dafür aber jetzt noch keinen Zeithorizont nennen.

Verband: Dem Thema nicht verschließen

Da könnte es nun scheinen, als solle man besser zur männlichen Form, zum generischen Maskulinum, zurückkehren. Man wolle sich aber dem Thema Gendern nicht verschließen, sagt Volker Lenk, Sprecher des Blinden- und Sehbehindertenverbands. "Wir haben absolutes Verständnis dafür, dass eine Gruppe von Menschen mitreden möchte, wie über sie gesprochen und in diesem Fall geschrieben wird. Das würden wir ja für uns selbst auch einfordern. Und deswegen können wir uns natürlich auch dem Thema Gendern nicht verschließen."
Barrierefreiheit im Fernsehen
Ein neues Angebot soll Menschen mit Behinderung mehr Barrierefreiheit in Medien ermöglichen. Bei der von den Öffentlich-Rechtlichen geförderten Stelle können Missstände gemeldet werden. Das Beispiel Fernsehen zeigt: Bei dem Thema geht es auch um Geld.
Es besteht hier, wie so oft, die Gefahr, dass Ansprüche gegeneinander ausgespielt werden. Diese Behauptung von zwei Lagern nimmt auch Volker Lenk wahr. "Ich sage jetzt mal pauschal: der ‚Trans-Szene‘ auf der einen Seite und auf der anderen Seite halt der blinden und sehbehinderten Menschen – und dass diese beiden Positionen als unversöhnlich gelten."

Kompromiss als Lösung?

Deshalb hätten der Blinden- und Sehbehindertenverband und der Bundesverband Trans* Kontakt aufgenommen. "Wir gehen jetzt gerade auf die Trans-Szene zu und versuchen einfach, mal miteinander zu sprechen und Lösungen zu finden, die für beide Seiten okay sind."
Und in der Zwischenzeit? Was können Menschen tun, die barrierearme und gender-inklusive Texte schreiben wollen? Robbie Sandberg rät zu einem Kompromiss. "Dass man zum Beispiel versucht, Wörter zu finden, die die Nennung aller Geschlechter unnötig machen. Also sowas wie ‚Team‘ statt ‚Mitarbeiter_innen‘. Da findet man schon einiges. Das klappt natürlich nicht immer. Aber man kann dadurch schon dieses Aufkommen des Genderzeichens ziemlich minimieren."