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"Geschichte der Türkei"
Im Spannungsverhältnis zwischen Zuversicht und Zorn

Dem Historiker Maurus Reinkowski ist es mit seinem Buch gelungen, die Geschichte der Türkei in ihrer politischen Logik darzustellen. Originell ist dabei sein Vorgehen, die Wurzeln des türkischen Selbstverständnisses und der Zerrissenheit des Landes aus der Vorgeschichte im Osmanischen Reich zu erklären.

Von Susanne Güsten | 01.11.2021
Maurus Reinkowski: "Geschichte der Türkei"
Maurus Reinkowski analysiert die politische Geschichte der Türkei von Atatürk bis Erdogan (Foto: IMAGO / Kyodo News, Buchcover: C.H.Beck Verlag)
Maurus Reinkowski arbeitet in der politischen Geschichte der Republik drei Spannungsbögen heraus: den Gegensatz zwischen kemalistisch-säkularem und religiös-konservativem Lager zum einen, und zweitens den Gegensatz zwischen städtischen Eliten und der verstädterten Landbevölkerung – so weit, so bekannt. Drittens aber, und das ist so originell wie treffend, arbeitet Reinkowski das "Spannungsverhältnis zwischen Zuversicht und Zorn" heraus, wie er es nennt, das für den politischen Gefühlshaushalt der Republik Türkei charakteristisch sei.
"Was nämlich für die Republik Türkei des zwanzigsten und des einundzwanzigsten Jahrhunderts gilt, ist das für die Türkei so bezeichnende Spannungsverhältnis von Zuversicht und Zorn. In der Geschichte der Republik Türkei fällt das Nebeneinander beziehungsweise der rasche Wechsel von Helden- und Opferrolle, von Virilität und Fragilität auf. Türkinnen und Türken fällt es offensichtlich schwer, zu einer gleichmütigen Haltung gegenüber ihrem eigenen Land und ihrer eigenen Geschichte zu kommen."

Widersprüche der türkischen Befindlichkeit

Reinkowski beginnt seine Darstellung der Türkischen Republik im untergehenden Osmanischen Reich, denn die Vorgeschichte hält er für wesentlich, um dieses zerrissene Land zu verstehen. Vor allem im letzten Jahrzehnt des Wandels vom Vielvölkerreich der Osmanen hin zum türkischen Nationalstaat seien auch die Wurzeln des türkischen Selbstverständnisses zu finden:
"In jener hochkomprimierten Phase von Gewalt und Krieg, die vom Beginn des Ersten Balkankriegs im Herbst 1912 bis zum Ende des Unabhängigkeitskriegs im Sommer 1922 dauerte, sind Heroismus und Leidensgeschichte anscheinend untrennbar ineinander verwoben. Hier findet die Zuversicht ihren Anker, nämlich in jenen Jahren gegen jede Erwartung und gegen eine Vielzahl von Feinden die Grundlagen einer modernen Türkei geschaffen zu haben. Aus den Ereignissen dieser Zeit nährt sich aber auch der Zorn: die verheerende Niederlage im Ersten Balkankrieg und der Verlust der gesamten europäischen Besitzungen; die Verbitterung darüber, dass Europa im Falle der Türkei immer mit zweierlei Maß gemessen habe und bis heute messe."
Die Widersprüche der türkischen Befindlichkeit, die in jenem Jahrzehnt wurzeln, prägen die Türkei bis heute, das illustriert Reinkowski immer wieder – etwa beim Völkermord an den Armeniern, den er klipp und klar als "bürokratisch geplanten und überwachten Massenmord" charakterisiert: "Die Anerkennung des Genozids an den Armeniern fällt bis heute vielen Türkinnen und Türken nicht nur deswegen so schwer, weil damit ein Eingeständnis von Schuld verbunden wäre. Intuitiv wird befürchtet, dass eine nüchterne Beschreibung der Geschehnisse die große Erzählung über die Entstehung des türkischen Nationalstaates in Frage stellen könnte."
Dabei müsse dies nicht so sein, fügt Reinkowski hinzu: Eine ehrliche Sicht auf den Kataklysmus bedeute nicht, die Existenzberechtigung der Republik in Frage zu stellen. Die unablässige Abwehrhaltung der Türkei zeige aber, wieviel Zerbrechlichkeit im Heldenhaften der Republikgründung stecke.

Politische Logik dominiert die Darstellung

Reinkowski ist ein profunder Kenner der türkischen Geschichte, doch seine Darstellung versandet nicht in Details. Ereignisse und Entwicklungen werden nicht aufgezählt oder bloß nacherzählt, sondern in ihrer politischen Logik dargestellt. So kann er den ideologischen Wandel der PKK über 40 Jahre in einem Absatz zusammenfassen und dabei noch mit ihren jeweiligen militärischen Geschicken in Korrelation setzen. Bei solcher Prägnanz kommt unweigerlich auch einmal etwas zu kurz – der Zusammenbruch des Friedensprozesses mit den Kurden im Jahr 2015 etwa hätte es vertragen können, etwas gründlicher seziert zu werden. Doch Reinkowski setzt klare Schwerpunkte, und das Kurdenthema ist in seiner Darstellung der Republik zwar wichtig, aber nicht zentral.
Umso ausführlicher setzt er sich mit den Motiven des Nationalismus und Islamismus auseinander, die heute mehr denn je im Zentrum türkischer Politik stehen. Der Autor schärft die oft vagen Begriffe von Islamismus und Nationalismus und skizziert damit eine präzise Ahnentafel der verästelten Bewegung bis zum heutigen Tag – um dann wieder auf den Punkt zu bringen, worauf deren Erfolg gründet: "Die islamistische Bewegung und in ihrem Gefolge die rechtskonservative Strömung hatten nämlich nach einigen Jahrzehnten der Lähmung den Fehler des Kemalismus in der Konstruktion des türkischen Nationalstaats erkannt: Er hatte die Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam zum Fundament gemacht, zugleich aber den sunnitischen Islam als kulturelles Leitsystem verworfen."

Prognose für das Jubiläumsjahr 2023

Ein kniffliges Kunststück ist es für einen Historiker, diese Geschichte bis zum heutigen Tag zu erzählen, da sie in Echtzeit noch geschieht. Reinkowski gibt nicht vor, alles zu durchschauen – etwa, was in der Putschnacht vom 15. Juli 2016 wirklich geschah. Ein klares Urteil hat er aber zu den Vergeltungsmaßnahmen der Regierung, die er als "staatlichen Konter-Putsch" bezeichnet. Der Historiker hat auch den Mut, eine Prognose für das Jahr 2023 zu wagen, in dem die Türkei nicht nur Jubiläum feiert, sondern auch wählen soll:
"Heute erscheint eine einfache Übergabe der Macht nach verlorenen Parlamentswahlen eher unwahrscheinlich angesichts des historischen Selbstbildes der Elite um die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung: Nach vielen Jahrzehnten der Herrschaft einer westlich orientierten technokratischen Elite sei es ein Zeichen ausgleichender historischer Gerechtigkeit, dass nun die eigentliche Mehrheit der Nation die Regierung führe. Die jetzige Position der regierenden Partei begründet eben ihre Härte und ihren Autoritarismus aus der Geschichte ihrer Zurücksetzungen und Kränkungen. Geschichte wird zu einer scheinbar unerschöpflichen Quelle von Berechtigung, frühere Benachteiligungen aufzuarbeiten und aufzuwiegen."
Ein starkes Buch, das Türkei-Kenner ebenso interessieren wird wie solche, die es werden wollen.
Maurus Reinkowski: "Geschichte der Türkei. Von Atatürk bis zur Gegenwart",
C.H. Beck Verlag, 496 Seiten, 32 Euro.