Freitag, 19. April 2024

Archiv

Gesellschaft im Wandel
Taub und blind gegenüber dem Anderen

Nicht Entfremdung und Verbote machen den Menschen krank, konstatiert der Philosoph Byung-Chul Han, sondern Überkommunikation und Überinformation. Auf der Strecke bleibe dabei der Dialog mit dem Anderen. Er gehe in einer Welt, in der alles nivelliert und kommerzialisiert werde, verloren. Byung-Chul Han hält uns einen Spiegel vor.

Von Joachim Hildebrandt | 08.08.2016
    Ein junger Mann geht mit dem Blick auf sein Smartphone gerichtet.
    Was bewirkt der Konsum von Videos und Filmen ohne jede zeitliche Beschränkung? (picture alliance / dpa / Thalia Engel)
    Der in Südkorea geborene Byung-Chul Han möchte den "Anderen" wieder mehr in unser Bewusstsein rücken; den Anderen als Rätsel, als Schmerz oder Begehren. Verschwunden sei der Andere wegen der gewandelten Wahrnehmung. Grenzen verschwimmen, damit auch Abgrenzungen. Der Philosoph argumentiert mit dem Eindruck des immer Gleichen.
    "Die Wahrnehmung selbst nimmt heute die Form von Binge Watching, Komaglotzen, an. Es bezeichnet den Konsum von Videos und Filmen ohne jede zeitliche Beschränkung. Den Konsumenten werden fortwährend jene Filme und Serien angeboten, die ganz ihrem Geschmack entsprechen, die ihnen also gefallen. Sie werden wie Konsumvieh gemästet mit dem immer neuen Gleichen."
    Das sind harte, wohl auch treffende Worte für ein Verhalten, das, möchte man meinen, nicht nur von Jugendlichen bedenkenlos übernommen wird. Wo die Nähe zum Anderen, zum anderen Menschen fehlt, wird sie suggeriert durch eine immer verfügbare digitale Welt, in der alles, was man sich wünscht, auch verfügbar zu sein scheint. Doch hört man genau in sich hinein, spürt man die fehlende Resonanz und es bleibt ein Verwiesensein auf sich selbst, ein Selbstgespräch, eine Selbstbespiegelung.
    Auch andere Philosophen haben diese Erscheinungen der heutigen Zeit in unserer Gesellschaft benannt. Byung-Chul Han hält uns einen Spiegel vor, mit klaren, prägnanten Worten, mit einer gewissen Schlagkraft, der man sich nicht so einfach entziehen und dann in die "digitale Wohlfühlzone" zurückkehren kann. Der Autor rüttelt auf mit seinen Worten, auch wenn er über die Gewalt des Globalen und den Terrorismus schreibt.
    "Mit dem Terrorismus ist etwas geschehen, was über die unmittelbare Intention der Akteure hinaus auf systemische Verwerfungen hindeutet. Es ist nicht das Religiöse an sich, das die Menschen zum Terrorismus treibt. Es ist vielmehr der Widerstand des Singulären gegen die Gewalt des Globalen. Es ist der Terror des Globalen selbst, der den Terrorismus hervorbringt. Die Gewalt des Globalen fegt alle Singularitäten hinweg, die sich dem allgemeinen Tausch nicht unterwerfen."
    Mit Solidarität und Gemeinsinn
    Damit meint Byung-Chul Han, dass in einer globalisierten Welt alles austauschbar ist, damit in einem Kreislauf von Informationen, Waren und Kapital die höchste Produktivität erreicht wird. Was sich in den Kreislauf der Marktwirtschaft nicht freiwillig einfügt, wird in seinem Wert für die Konsumgesellschaft herabgestuft.
    "Angesichts der Gewalt des Globalen gilt es, das Universelle vor der Vereinnahmung durch das Globale zu schützen. Notwendig ist daher die Erfindung einer universellen Ordnung, die sich auch für das Singuläre öffnet. Der Neoliberalismus ist alles andere als der Endpunkt der Aufklärung. Er ist nicht vernunftgeleitet. Gerade sein Irrsinn bringt destruktive Spannungen hervor, die sich entladen in Form von Terrorismus und Nationalismus."
    Dagegen hilft sicherlich eine Haltung der Solidarität und des Gemeinsinns. Darauf geht Han nur kurz ein. Er meint, momentan herrsche global eine "unsichere, angstgesteuerte Masse" vor, die sich leicht von nationalistischen und völkischen Gedanken vereinnahmen lasse. Hans Warnungen sind berechtigt. Doch die heute - zumindest in weiten Teilen Europas - bestehende Gesellschaft hält gerade deshalb zusammen, weil es eine Solidarität und einen Gemeinsinn in breiten Bevölkerungsschichten bereits gibt. Sicherlich übertreibt Byung-Chul Han mit seinen Befürchtungen und er verallgemeinert sie auch.
    Han zeigt auch Möglichkeiten des Auswegs aus diesem Dilemma auf. In der Begegnung mit dem Anderen hebt er vor allem "Blick" und "Stimme" hervor, durch die der ganz Andere für uns erlebbar wird.
    Die Stimme des Anderen prallt ab am wuchernden Ego
    Han bezieht sich auf eine digitale Kommunikation, in der Blick und Stimme, ein personales Gegenüber, völlig fehlen und keine Kommunikation mit dem Nachbarn mehr besteht. Und was meint Han zu der Stimme, die von draußen kommt, von der Straße, vom Markt, vom Telefon oder wo auch immer her?
    "Heute sind wir keine 'schwachen Kinder' mehr. Die kindliche Schwachheit als Empfänglichkeit für den Anderen entspricht nicht der Verfasstheit der narzisstischen Gesellschaft. Das erstarkende Ego, das von neoliberalen Produktionsverhältnissen gefördert und ausgebeutet wird, ist immer mehr vom Anderen abgeschnitten. Die Stimme des Anderen prallt ganz am wuchernden Ego ab. Das macht uns ganz taub-blind gegenüber dem Anderen."
    Kein schöner Ausblick, den uns Han hier bietet. Er erinnert uns daran, wie wichtig der Dialog mit den Menschen ist. Die Angst vor dem Anderen, dem Fremden, sei auch die Angst, am Anderen zu scheitern, im Kontakt mit dem Anderen zu versagen. Byung-Chul Hans kluge und intelligente Gedanken sind eine Herausforderung, sich mit den Themen Globalisierung, Terrorismus und Nationalismus erneut zu befassen. Wenngleich Han auch zuspitzt und übertreibt mit der Formulierung einer "angstgesteuerten Masse", lohnt es sich, seine anregenden Interpretationen zu diesen Themen zu lesen. Han reiht sich ein in die Riege jener Denker und Aufklärer, die die Welt heute längst nicht mehr so hoffnungslos sehen, wie es in Hans neuem Buch manchmal hervorscheinen mag. Die Negativität, von der Han spricht, ist ja das Andere, das uns bereichern kann, zu einer Erkenntnis uns selbst betreffend führt und zugleich ein neues Zusammenleben in der Gesellschaft hervorbringt.
    Byung-Chul Han: "Die Austreibung des Anderen". Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute, S. Fischer Verlag, 111 Seiten, 22 Euro