„Also ich habe das IPREG ganz anders verstanden, ich habe verstanden für mich, dass die Krankenkasse ein Instrument erhält, mit dem Gesetz zu sagen, es tut uns leid, lieber Betroffener, die Pflege zu Hause ist zu teuer. Wir haben kostengünstigere Heimplätze. Bitte, wir bezahlen nur noch den Heimplatz. Und dann steht man als betroffener Mensch da und hat keine andere Wahl, als ins Heim zu gehen. Also so drastisch sehe ich das.“
„Außerklinische Intensivpflege, das bedeutet, dass jemand einen sehr hohen, behandlungspflegerischen Bedarf hat. Also zum Beispiel geht es oft um Menschen, die beatmet werden, die selber Schleim nicht abhusten können, dann abgesaugt werden müssen. Und wenn das nicht passiert, entsteht eine lebensbedrohliche Situation. Und damit die vermieden wird, gibt es diese Leistung „außerklinische Intensivpflege“.
Intensivpflege zu Hause: durchschnittlich 25.000 Euro pro Person und Monat
„Unsere Aufgabe ist es eben, auch dazu beizutragen, dass eine gute Versorgung stattfindet, aber eben auch nur da, wo sie notwendig ist. Denn die gesetzliche Krankenversicherung hat natürlich auch ihre Grenzen. Und es geht darum, zu gucken, ob die medizinischen Voraussetzungen für die Leistung, die ja auch sehr teuer ist, ob die vorliegen oder nicht vorliegen und zweitens, ob die Versorgung am Leistungsort gut ist oder ob man da gegebenenfalls etwas ändern muss.“
Man muss ihn begleiten. Man ist eigentlich 100 Prozent beansprucht, man möchte dem Kind ein ordentliches Leben ermöglichen. Es ist schon schlimm genug alles. Man hat viele, viele Hürden zu bewältigen und man leidet darunter. Und dann noch das IPREG. Das sind große Ängste bei mir.
„Beim Aufstehen, Anziehen, Körperpflege, Essen zubereiten. Man muss ihn begleiten. Man ist eigentlich 100 Prozent beansprucht, man möchte dem Kind ein ordentliches Leben ermöglichen. Es ist schon schlimm genug alles. Man hat viele, viele Hürden zu bewältigen und man leidet darunter. Und dann noch das IPREG. Das sind große Ängste bei mir.“
Noch lebt der Sohn von Angelika Friebel in der eigenen Wohnung, im zweiten Stock des Elternhauses. Die schweren Jahre seiner Erkrankung stehen der Familie noch bevor. In den kommenden zehn Jahren wird er mehr und mehr auf Intensivpflege und möglicherweise auf künstliche Beatmung angewiesen sein. Dann wird das neue Gesetz auch für ihn gelten. Und die Familie fragt sich: Wie wird der medizinische Dienst die Lebensumstände im zweiten Stock des Hauses beurteilen?
„Es kann kommen, dass mein Sohn ins Heim muss. Und das finde ich einfach nicht schön, weil ich weiß, er würde sich da nicht wohlfühlen. Und wir hier in der Familie tun alles, damit er hier alleine selbstbestimmt in seiner eigenen Wohnung leben kann. Wir machen Abstriche für ihn. Wir kämpfen für ihn und es soll so bleiben, dass er glücklich sein kann. Selbstbestimmt.“
Verbände protestieren für mehr Selbstbestimmung
Die Anfänge des IPREG
„Wir haben es erlebt, dass Pflegedienste Pflegefachkräfte abgerechnet haben, in Rechnung gestellt haben – es geht hier teilweise um 20.000, 25.000 Euro im Monat für die Intensivpflege – und Hilfskräfte oder zu wenig Personal eingesetzt haben. Wir haben es erlebt, dass im dritten Stock einer Altbauwohnung, ohne dass irgendjemand davon wusste, fünf Wachkomapatienten, Beatmungspatienten, die gar keine Chance hatten, sich zu wehren, in einer kleinen Wohnung unter sehr schwierigen Umständen gepflegt worden sind und es gar keine Kontrolle, an keiner Stelle gegeben hat.“
Doch ob sich damit Betrug und Manipulation effektiv verhindern lassen? Von Seiten der Krankenkassen gibt es dazu kein einheitliches Meinungsbild. Die AOK im Bund sagt: Man wolle das abwarten und später einschätzen. Auch der Verband der Ersatzkassen vdek ist zurückhaltend, erwartet jedoch mehr Transparenz. Stefan Wilderotter, Leiter des Referats Pflege beim vdek:
„Von den abgeschlossenen Fällen zu Fehlverhalten im Gesundheitswesen ist schon so, dass ein Viertel der Fälle auf den Bereich der Pflegeversicherung und der häuslichen Krankenpflege entfallen. Da haben wir sehr, sehr viele gute dabei, befriedigende und es gibt wenige Ausnahmen, die das System für sich mit krimineller Energie ausnutzen. Und wenn Verdachtsmomente vorliegen, diese Abrechnungsmanipulation, Fehlverhalten im Gesundheitswesen, dann lassen die Regelungen praktisch zu, dass hier die Daten einfacher untereinander abgeglichen werden können.“
Doch es gibt Hürden, die noch nicht genommen wurden. Noch steht die Liste derer nicht, die künftig die besondere Pflegeleistung am Markt erbringen dürfen. Und auch die Ärztinnen und Ärzte, die künftig die außerklinische Intensivpflege verordnen können, haben sich bislang noch nicht für diese Aufgabe akkreditiert. Die Verhandlungen darüber, zu welchem Preis, welche Leistungen künftig abgerechnet werden können, sind im ersten Anlauf gescheitert. Zurzeit wird also noch verhandelt. Stefan Wilderotter rechnet aber damit, dass bis März 2023 klar ist, wer künftig die Intensivpflege anbieten darf und zu welchen Bedingungen:
„Das sehen wir auch als einen wesentlichen Vorteil, dass eben jetzt diese Leistungserbringer der außerklinischen Intensivpflege zukünftig über eine Veröffentlichung nach außen hin bekannt gemacht werden. Es ist eine Transparenz und eine Versorgungssicherheit ist dann schon besser gewährleistet als vorher. Und wenn das eben auch einheitlich und gemeinsam verhandelt wird, werden Kassen auch nicht mehr untereinander ausgespielt, so nach dem Motto: Bei denen bekomme ich aber den Satz und wenn ihr das nicht zahlt, dann steht der Versicherte mit dem Bett auf der Straße.“
Das neue Gesetz soll mehr Patienten von künstlicher Beatmung entwöhnen
„Experten sagen uns, dass bis zu zwei Drittel der beatmeten Patienten in Deutschland eigentlich entwöhnt werden könnten von dieser Beatmung. Zwei Drittel! Sie werden aber nicht entwöhnt wegen organisatorischer, struktureller Probleme in den Abläufen und wegen falscher finanzieller Anreize.“
„Also ich kann mir jetzt beim besten Willen nicht vorstellen, wie diese Zahl validiert worden ist“, sagt dazu Michael Sokoll. Er ist Geschäftsführer des ambulanten Intensivpflegedienstes „Die Vitalisten“ in Gelsenkirchen.
Dann müsste ich ja ins Krankenhaus. Das ist für mich schon mal ein Horror. Weil ich kann nur den Kopf bewegen und im Krankenhaus bin ich komplett hilflos. Dann wird mir das Atemgerät abgemacht und gesagt: So jetzt probiere mal, selber zu atmen. Das ist Stress für den Körper und für die Psyche: Absolute Horrorvorstellung!
„Aus unserer Perspektive würde ich sagen: Bei acht Prozent kann ich mir das vorstellen. Allerdings, wir müssen vorher ins Krankenhaus reinschauen und müssen gucken, was wir als Pflegedienst gar nicht sehen. Was ist denn da passiert? Oder was hätte denn da passieren können, auf dem Weg dahin, dass sie erst gar nicht in die Situation kommen. Vielleicht sind da zwei, drei Schritte passiert. Bei acht Prozent unserer Klienten hätte ich mir das durchaus vorstellen können. Wir haben es auch geschafft, an einigen Stellen, dass wir die Klienten ins Weaning gebracht haben.“
Von künstlicher Beatmung wegzukommen - für viele langjährig beatmete Patienten stellt die sogenannte „Potentialanalyse“ ein Problem dar - bedeute vor allem Stress, so eine Patientin, die seit vielen Jahren beatmet wird.
„Dann müsste ich ja ins Krankenhaus. Das ist für mich schon mal ein Horror. Weil ich kann nur den Kopf bewegen und im Krankenhaus bin ich komplett hilflos. Dann wird mir das Atemgerät abgemacht und gesagt: So jetzt probiere mal, selber zu atmen. Das ist Stress für den Körper und für die Psyche: Absolute Horrorvorstellung!“
Jenseits der Angst vor einem Abstellen des Atemgeräts hat das neue Intensivpflegegesetz bei Betroffenen erhebliche Unruhe ausgelöst. Das bestätigt auch Michael Sokoll, der Pflegeanbieter aus Gelsenkirchen:
„Die Klienten zittern, weil die tatsächlich Angst haben, wie dieses Gesetz dann von den Kostenträgern auch von dem medizinischen Dienst ausgestaltet wird. Dass jemand nach Hause kommt, sich das anguckt und sagt: Sie dürfen oder Sie dürfen nicht, weil sie haben ja möglicherweise keinen zweiten Fluchtweg oder so was. Also das kann kommen, dass sie sagen, die Brandgefahr ist jetzt so hoch, das geht ja gar nicht.“
„Die Versicherten können nach wie vor wählen, an welchem Ort sie versorgt werden. Das heißt, kein Versicherter, kein Mensch mit einem außerklinischen Intensivpflegebedarf muss jetzt Angst haben, dass er zukünftig nicht mehr da versorgt werden kann, wo er möchte. Das heißt: Man muss die Vorgaben pragmatisch und praktikabel gestalten. Und das tun wir.“
Betroffene beruhigt das nicht.
„Aber: Krankenkassen stürmen schon voraus und verschicken Briefe, dass ab dem 1.1.23 nur noch zum Beispiel diese ausgebildeten Pflegekräfte sein müssen. Also ich hab auch einen Brief gekriegt, dass die Potentialerhebung gemacht werden muss und, und, und... Was macht man damit?“
Das berichtet Maria-Cristina Hallwachs in einem Telefoninterview. Telefonieren, nachhaken, hartnäckig sein, das kann die 48-Jährige. Computer und Telefon bedient sie selbstständig mit einem Mundstab. Ihr Vater – ein Zahnarzt – hat ihn aus einer Stricknadel mit Halteschiene für sie gebaut. Trotz der hohen Querschnittlähmung kann sie auf diese Weise kommunizieren und arbeiten. Ein elektrischer Impuls auf den Zwerchfellnerv löst bei ihr regelmäßig den Atemreflex aus. Seit 30 Jahren lebt sie so in einer eigenen Wohnung.
„Ich hatte direkt nach meinem Abitur einen Badeunfall. Bin mit dem Kopfsprung in ein Nichtschwimmerbecken gesprungen und hab bei dem klassischen Badeunfall den Nacken gebrochen. Hatte das Glück, dass mein Vater mich sofort aus dem Wasser gezogen hat und sofort bemerkt hat, dass da was nicht stimmte und mich beatmet hat.“
Rund um die Uhr sind seitdem Intensivpflegekräfte an ihrer Seite. Das neue Gesetz werde sie unmittelbar betreffen und nicht alles sei schlecht an den neuen Regeln zur außerklinischen Intensivpflege, sagt Maria-Cristina Hallwachs. Dass künftig Bedingungen gestellt werden an die Spezialisierung der Pflegekräfte, die das Atemgerät überwachen, den Luftröhrenschnitt pflegen und sich in ihrem Fall außerdem mit Querschnittlähmung auskennen müssen, das ist für sie stimmig.
„Ja! Und das finde ich natürlich prinzipiell toll. Das Problem daran ist nur, dass man ja jetzt schon keine Pflegekräfte mehr bekommt. Also in der Außenklinik noch schwieriger als im Krankenhaus. Und was bringt mir das, wenn ich die tollste ausgebildete Pflegekraft bezahlt bekomme, wenn ich diese nicht finde.“
Das Fehlen von Fachkräften heizt die Sorgen an
„Da sind viele darunter, die sagen: Ich möchte arbeiten gehen. Wir haben ein Mädchen, die steht jetzt vor dem Abitur. Da ist jemand dabei, der promoviert gerade in Mathematik an der Universität, also diese Vorstellung in der Gesellschaft da draußen ist eine völlig falsche. Da gibt es natürlich Menschen im Wachkoma, aber es gibt eben auch die sehr aktiven Leute, die durchaus auch berufsfähig sind und ich muss dazu aber eben ein Beatmungsgerät haben, aber ansonsten kann ich ein Schwerstbehinderten Leben führen, aber doch auch ein gutes Leben.“
Auch Maria-Cristina Hallwachs bestimmt vieles selbst in ihrem Leben. Sie ist als Coach tätig, ständige Vertreterin der Menschen mit Beatmung in der Gesellschaft für außerklinische Beatmung digab, und sie berät außerdem bei der Fördergemeinschaft Querschnittgelähmter andere Betroffene. Es könne jeden treffen, sagt sie:
„Ganz in der Anfangszeit habe ich immer gedacht: Mensch, wenn’s nur jemand gäbe, der in der gleichen Situation ist wie ich, und mir mal erzählen würde, wie das gehen könnte. Und das war der Schlüsselmoment für mich zu sagen, okay, dann mache ich das jetzt. Ich geh auch ganz oft einfach in Krankenhäuser zu Menschen, die einen Unfall hatten und jetzt in der Akutphase sind. Einfach um zu zeigen, guck mal, man kann so leben. Es geht weiter.“
Das Kostenargument aber steht im Raum und das gesetzliche Angebot, vom eigenen Zuhause in ein spezialisiertes Heim zu wechseln. Vielleicht könnte das gehen: Wenn das WG-Leben zu einem passt. Wenn es die spezialisierten Einrichtungen in der benötigten Zahl gäbe. Vielleicht ginge es auch, wenn es nicht das Recht auf Selbstbestimmung nach der UN-Konvention für die Menschen mit Behinderung gäbe. Michael Sokoll vom Vitalisten-Pflegedienst in Gelsenkirchen:
„Die Klienten, die wir versorgen, haben ein hohes Interesse daran, möglichst in ihrer eigenen Häuslichkeit auch in ihrem bisherigen sozialen System einfach weiterzuleben. Viele von denen sind eigentlich gar nicht mehr mobil, so dass der überwiegende Alltag tatsächlich in den eigenen vier Wänden gestaltet wird. Aber dieser absolute Wunsch, trotz dieser Einschränkung - wir sprechen davon „im Leben ist etwas kaputtgegangen“ - trotzdem so viel wie möglich heile zu halten, der zieht einen überwiegenden Teil der selbst entscheidenden Klienten doch in die eigene Häuslichkeit. Da möchten sie gerne bleiben, so lange, wie es geht.“
Es sind Menschen, die sich auf das verlassen, was im Koalitionsvertrag der jetzigen Regierung steht: Dass die Umsetzung des Intensivpflegegesetzes IPREG in den nächsten zwei Jahren überprüft werden soll, und dass nachgebessert wird, wenn sich die Befürchtungen bestätigen und das Kostenargument tatsächlich zu Lasten der Selbstbestimmung geht.