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Gesundheitsdaten
Sachverständiger: Deutschland geht "besonders pingelig" mit Daten um

Bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen sei Deutschland ein Entwicklungsland, sagte Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit, im Dlf. Es müsse bei der Verwendung digitaler Daten eine neue Balance zwischen dem Datenschutz und dem Anrecht der Patienten gefunden werden.

Ferdinand Gerlach im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 27.03.2021
Arzt mit einem Patienten
Mit Blatt und Papier macht ein Arzt Notizen in einem Patientengespräch: Deutschland sei bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen wenig fortschrittlich, kritisiert Ferdinand Gerlach im Dlf (IMAGO / Westend61)
Daten müssen besser zwischen den Ärzten ausgetauscht werden, digital verfügbar sein. Das sind Forderungen rund um die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Für eine bestmögliche Behandelung seien detaillierte Informationen notwendig, sagte Ferdinand Gerlach im Dlf. Er ist Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Universität Frankfurt am Main.
Im Dlf bekräftigt er auch, dass mit einem Einsatz von Hausärzten die Corona-Impfungen schneller gelingen könnten.

Das komplette Interview zum Nachlesen
Jürgen Zurheide: Auf der einen Seite eine große Bereitschaft der Menschen, Daten irgendwohin zu geben und nicht so genau zu wissen, wo. Auf der anderen Seite dürfen die, die sich im System bewegen, nur wenig mit Daten anfangen. Der Befund ist richtig?
Ferdinand Gerlach: Ja, das ist leider die traurige Wahrheit. Wenn wir unsere Analysen anschauen, und wir haben das europaweit, weltweit gemacht, dann sieht man, die Hightech-Nation Deutschland wirkt mit Blick auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens wie ein Entwicklungsland. Wir haben tatsächlich an vielen Stellen noch den Faxstandard, wenn Ärzte miteinander kommunizieren, wir haben eine Zettelwirtschaft, die Daten liegen verstreut im System. Und wahrscheinlich kennen das die Zuhörer, die Patienten selber tragen ja die Informationen zwischen den Ärzten hin und her. Dann ist man unterwegs mit einer Tüte mit Röntgenbildern, mit Arztbriefen, soweit es sie noch gibt. Und wenn Sie dann in die Praxis oder ins Krankenhaus kommen, dann soll der Arzt in diesem Stapel die richtige, wichtige Information finden. Das ist eigentlich peinlich im internationalen Vergleich. Und das sollten wir dringend ändern – im Interesse der Patienten.
Elektronische Gesundheitskarte, Detail von Leonardo-da-Vinci-Logo und Datenchip.
Elektronische Patientenakte: Durchbruch oder Flop?
Es war ein langer Prozess: Seit 1. Januar ist die Elektronische Patientenakte nun Gesetz. Gesetzliche Krankenversicherungen müssen sie verpflichtend einführen. Patienten können entscheiden, ob ihre Daten darin erfasst und gespeichert werden sollen. Bedenken wegen der Datensicherheit gibt es dennoch.
Zurheide: Mal ganz praktisch, wo könnten denn Daten wirklich Fortschritte bringen? Ich habe es angesprochen, wenn wir besser wissen, wo, wann, wie lange Menschen erkranken, wie sie behandelt werden, kann oder könnte man daraus Schlüsse ziehen, das wird international gemacht. Geben Sie ein Beispiel!
Gerlach: Da gibt es ganz viele Beispiele. Nehmen wir mal die Krebserkrankungen. Wir wissen heute, dass Krebs eine sehr komplexe Erkrankung ist. Früher dachte man, beim Brustkrebs gibt es zwei, drei Arten, die man unter dem Mikroskop erkennen kann. Heute wissen wir, wahrscheinlich sind es 60 oder mehr. Das können wir molekular und genetisch unterscheiden. Und das ist wichtig, weil die verschiedenen Tumorarten unterschiedlich auf unterschiedliche Medikamente oder Kombinationen und auf Bestrahlung ansprechen. Das heißt, wenn wir Patienten individuell und bestmöglich behandeln wollen, dann brauchen wir diese Informationen, dann müssen die auch ausgetauscht werden. Ein anderes Beispiel: Ein Patient kommt ins Krankenhaus, ist vielleicht nicht ansprechbar, ist verwirrt, ist sehr krank. Wenn dann die Ärzte nicht wissen, dass er ein blutverdünnendes Medikament nimmt oder dass er eine Allergie hat, dann kann es in der Behandlung zu erheblichen Problemen kommen, das kann auch lebensgefährlich werden. Schlicht, weil wichtige Informationen nicht präsent sind. Das sind zwei Beispiele von vielen, man könnte diese Reihe noch wesentlich fortsetzen.

Deutschland besonders pingelig im internationalen Vergleich

Zurheide: Sie haben gesprochen im Sachverständigenrat jetzt in Ihrem Gutachten, das Sie am Donnerstag präsentiert haben, es braucht Fortschritte durch Datenspende. Sie sagen, das ist der Goldstaub der Forschung. An welche Datenspende denken Sie denn da?
Gerlach: Wir haben das gar nicht Datenspende genannt, sondern wir haben gesagt, wir müssen eine neue Balance finden zwischen Datenschutz auf der einen Seite, der wichtig ist, und dem Anrecht der Patienten, dass die vorhandenen Daten auch bestmöglich für ihre Behandlung genutzt werden. Und da ist, glaube ich, vielen nicht klar, dass wir in Deutschland, ich sage mal, besonders eng und pingelig mit den Daten umgehen, wenn man das international, gerade auch in Europa, vergleicht, wo ja überall die Datenschutzgrundverordnung gilt. Dann machen wir es uns unnötig schwer. Und am Beispiel der elektronischen Patientenakte, die jetzt eingeführt wird, wird das besonders deutlich. Da türmen wir mehrere Hürden aufeinander. Die Nutzung wird dadurch für den Patienten sehr kompliziert. Und wir haben schon in anderen Ländern wie in Frankreich zum Beispiel gesehen, dass das dazu führt, dass diese elektronische Patientenakte, die wir so dringend brauchen, nicht fliegt, dass sie nicht akzeptiert wird, dass sie im Alltag nicht umgesetzt wird. Und da schlagen wir drastische Vereinfachungen vor, Verbesserungen der Abläufe, mehr Klarheit für die Patientinnen und Patienten, aber auch für die Beschäftigten im Gesundheitswesen.
Zurheide: Jetzt haben Sie gerade gesagt, den Datenschutz wollen Sie. Dann kommt natürlich immer der Einwand von außen, na ja, am Ende wollen Sie keinen Datenschutz mehr. Was antworten sie jenen?
Gerlach: Doch wir wollen ihn, aber wir wollen ihn in eine Balance bringen mit anderen Werten. Wir wissen, ich habe ja eben schon ein paar Beispiele genannt, dass Datenteilen bedeutet, dass wir besser heilen können. Und wir müssen also eine Debatte führen in Deutschland über die Balance zwischen dem Schutz der Daten und der technischen Datensicherheit, mit der wir sicherstellen, dass Daten nicht missbraucht werden. Wir sind auch sogar der Meinung, dass es strafrechtliche Sanktionen geben muss, empfindliche strafrechtliche Sanktionen für diejenigen, die die von der Rechts- oder Solidargemeinschaft gezogenen Grenzen überschreiten oder dies nur versuchen. Das heißt, wir brauchen eine neue Orientierung, wie sollen Gesundheitsdaten in unserem Gesundheitssystem genutzt werden? Wir sind der Meinung, dass der Gesetzgeber hierzu sogar ein Gesetz machen sollte, das er prüft, ob ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz, in dem das geregelt wird, uns hier nicht nach vorne bringen kann.

Impfen durch Hausärzte: "Die können das wesentlich einfacher"

Zurheide: Das ist der Vorschlag des Sachverständigenrates. Bis jetzt haben wir mit Ihnen geredet als Vorsitzender dieses Sachverständigenrates. Jetzt mache ich bewusst mal einen Schnitt und sage, Sie sind ja auch Lehrstuhlinhaber für Allgemeinmedizin der Universität in Frankfurt. Und ich will auf das Thema Corona kommen, was ich bis jetzt bewusst nicht angesprochen habe. Demnächst sollen die Hausärzte ja mit impfen. Erst mal die Grundfrage, geht es dann schneller?
Gerlach: Davon sind alle, die wissen, wie Hausärzte impfen, absolut überzeugt. Machen Sie sich bitte klar, dass die im Winter 20 bis 30 Millionen Menschen ganz unaufgeregt und lautlos von Hausärzten geimpft werden, auch viele, viele andere Impfungen werden in Hausarztpraxen durchgeführt. Dafür brauchen die im Schnitt zehn Minuten, sehr effektiv. Und die können das wesentlich einfacher, wohnortnäher und auch auf den individuellen Patienten bezogen, als das in Impfzentren jemals möglich wäre.
ILLUSTRATION - 19.03.2018, Mecklenburg-Vorpommern, Torgelow: In einem Behandlungszimmer einer Praxis hängt ein Stethoskop vor einer _digitalen Patientenakte_. In Vorpommern ist ein bundesweites Modellprojekt zur besseren medizinischen Versorgung von Patienten in ländlichen Regionen angelaufen. 40 Haus- und Fachärzte und zwei Ameos-Kliniken in Ueckermünde und Anklam die medizinischen Daten der Patienten fächerübergreifend schneller und unbürokratischer bereitstellen und auch gegenseitig austauschen können. Foto: Stefan Sauer/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
Datenschutzbedenken bis zum Schluss: Streit über elektronische Patientenakte geht weiter
Schon lange gibt es Bedenken rund um die elektronische Patientenakte (ePA). Doch wenige Wochen vor deren Einführung eskaliert der Streit. Der Grund: Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber warnt die Krankenkassen offiziell vor der ePA-Einführung. Und er könnte noch einen Schritt weiter gehen.
Zurheide: Auf der anderen Seite ist die Frage, welche Bedingungen braucht es dafür, dass es dann auch wirklich schneller geht. Oder sagen Sie auch da, lieber ein paar Bedingungen weg – zum Beispiel bei der Priorisierung –, dann geht es aber schneller, und Sie nehmen das hin in der Güterabwägung. Wie messen Sie das zu?
Gerlach: Auch da würde ich empfehlen, mal in andere Länder zu schauen, die uns voraus sind wie zum Beispiel Großbritannien. Die machen das schon so, da werden über die Hälfte aller Patienten in Hausarztpraxen geimpft. Hausärzte kennen ihre Patienten, die können auch sehr gut einschätzen, wer einen besonderen Bedarf hat. Es gibt immer noch Patienten, die quasi zu Hause vergessen sind, die schwer krank sind, aber nicht in der Lage sind, zu einem Impfzentrum zu fahren. Es gibt manchmal auch junge Patienten, die vom Alter zwar nicht dran wären, die aber schwere Erkrankungen haben. Da würde ich einfach mal den Hausärzten vertrauen, die machen das sehr gut, sind wohnortnah, die können übrigens auch Skeptiker viel einfacher überzeugen. Insofern wäre das Vertrauen jetzt wirklich an der Zeit. Hausärzte werden das, das ist meine Prognose, sehr gut umsetzen, wenn man sie denn lässt.

"Da haben wir wesentlich mehr Vorteile, als Nachteile"

Zurheide: Das heißt Priorisierung, was ich gerade angesprochen habe, selbst wenn man dann abweicht, sagen Sie, dieses Vertrauen hätten Sie, dass das dann passiert – und nicht die Privatpatienten als erstes jetzt die Impfung bekommen?
Gerlach: Das würde ich überhaupt nicht befürchten. Die Hausärzte sind sehr verantwortungsvoll, möglicherweise gibt es an der einen oder anderen Stelle mal aus pragmatischen Gründen eine kleine Abweichung von der Priorisierung. Das wird mir übrigens auch aus den Impfzentren berichtet, das ist möglicherweise gar nicht zu verhindern. Das sollten wir jetzt tolerieren, wenn es kleine Abweichungen gibt, denn im Endeffekt wird es so schneller gehen, es wird flächendeckend gehen. Man muss sich klarmachen, es gibt 70.000 Hausarztpraxen. Wenn die anfangen als kleine Impfzentren sozusagen wohnortnah die Patienten zu impfen. Da haben wir wesentlich mehr Vorteile, als wir vielleicht Nachteile haben, wenn irgendwo mal die Impfreihenfolge nicht exakt eingehalten wurde.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.