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Gewalt in der Schule

Schulhofraufereien sind schon lange kein harmloses Kräftemessen mehr. Es wird zu Waffen gegriffen, Mitschüler werden bedroht und ausgeraubt oder erpresst. Kinder- und Jugendpsychiater diskutierten vergangene Woche über die Auswirkungen des Problems.

Von Peter Leusch | 10.03.2011
    Fünf bis zehn Prozent aller schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen in Deutschland bleiben regelmäßig dem Unterricht fern, schätzt der Ulmer Psychologe Martin Knollmann. Überproportional vertreten seien dabei Jungen über 13 und Trennungskinder.

    "Oft ist es so, dass sich die eigentliche Schulvermeidung ankündigt durch Stören des Unterrichts oder durch unsozialen Rückzug bis dahin, dass einzelne Stunden erst mal geschwänzt werden, dann einzelne Tage, bis hin zur völligen Verweigerung des Schulbesuchs. Das ist oft wie eine Lawine, wo ab einem bestimmten Punkt die Belastung an vielen Ecken und Enden, zum Beispiel die Konflikte in der Familie oder die Konflikte mit Lehrern, aber auch mit Mitschülern, so genannte Mobbing-Situationen so groß und stark werden, dass der Jugendliche für sich die Reißleine zieht und sagt, da kann ich nicht mehr hin."

    Martin Knollmann, der in einer Spezialambulanz für Kinder und Jugendliche mit schulvermeidendem Verhalten an der Universitätsklinik in Essen tätig ist, schildert einen Teufelskreis: Ist die selbstverständliche Teilnahme am Unterricht erst einmal unterbrochen, baut sich eine Schwelle auf, die den Wiedereinstieg umso schwieriger macht. Denn, so fragt sich der Betreffende, was werden die Lehrer, die Mitschüler sagen, wenn ich wieder auftauche.

    Schulvermeidung ist eines der Phänomene im Spannungsfeld Schule, mit dem sich die diesjährige Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Essen beschäftigte. Und es gibt eine Reihe weiterer Auffälligkeiten im Klassenzimmer, erläutert der Jugendpsychiater und Organisator der Tagung Johannes Hebebrand:

    "Wir haben festzuhalten, dass es insbesondere in der Grundschule schon sehr häufig um die Probleme Unaufmerksamkeit und motorische Unruhe geht, und von daher die Verdachtsdiagnose ADHS, also Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, im Vordergrund steht."

    Johannes Hebebrand betont, dass es sich zunächst um Verhaltensauffälligkeiten, um Leistungsschwäche oder abweichendes Sozialverhalten handelt, dass man aber schauen müsste, ob darin eine psychische Erkrankung zum Ausdruck kommt, die sich im Lebensfeld Schule noch verschlimmert.

    "Im jugendlichen Alter sind es insbesondere affektive Störungen, Depressionen, die hier von großer Bedeutung sind, also wenn hier ein Jugendlicher sich beispielsweise sozial zurückzieht oder sehr gereizt wirkt in der Schule, dann kann eine Depression dahinter stecken. Es gibt ferner Essstörungen, wo die Magersucht als eine der häufigsten Ursachen für eine stationäre Behandlung anzusehen ist im Jugendalter; das wird häufig zwar in der Schule gesehen, aber man ist nicht sicher, wie man damit umgehen soll: Soll man es ansprechen, soll man es nicht ansprechen?"

    Viele Lehrer sind verunsichert: Ist es nicht besser, den einzelnen Schüler in Ruhe zu lassen, damit er sein Problem allein löst und daran reift. Sollte man nicht darauf vertrauen, dass die Schüler einer Klasse ihre Konflikte untereinander regeln statt sich vorschnell einzumischen?

    Vieles beginnt in einer Grauzone, das gilt auch für das Bullying, wie der wissenschaftliche Standardbegriff für Mobbing in der Schule lautet. Stärke und Schwäche in Konflikten zu zeigen, gehört zum Spektrum normalen Verhaltens hinzu. Aber Bullying greift den anderen nicht nur verbal und körperlich an, es zielt vielmehr systematisch darauf ab, ihn zu demütigen, sein Selbstwertgefühl zu zerstören und ihn sozial zu isolieren. Deshalb kann Bullying das Opfer psychisch krank machen.

    "Beim Bullying, können wir es sehr häufig sehen: Es sind oft Schüler mit einer Störung des Sozialverhaltens, wie wir das bezeichnen, zum Teil auch mit einer fehlenden oder geringeren Empathie, die dann diese positive Verstärkung durch ihr Verhalten bekommen, immer weiter machen, andererseits ist das Opfer dann auch klassisch dafür prädestiniert, eine depressive Entwicklung zu nehmen. Es zieht sich immer mehr raus, es hat Angst, es erhält keine Unterstützung, "gelernte Hilflosigkeit" im Letzten, und entwickelt dann selber psychische Symptome zum Beispiel eine Depression mit dementsprechendem Leistungsknick und -abfall."

    Michael Kölch ist leitender Oberarzt der Uni-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ulm. Er sieht die Herausforderung der Zukunft in der Erforschung neuer Präventionskonzepte und entsprechender Programme für den Schulalltag. Zwar würden schon verschiedene Programme eingesetzt, die aber - insbesondere im Problemfeld Depression - die Betroffenen nicht erreichen. Und beim Bullying wiederum erweist sich bei kritischer Prüfung manches Konzept als geradezu kontraproduktiv:

    "Bei den Störungen des Sozialverhaltens hat man lange gedacht, man könnte mit denen auch Gruppentherapien machen. Man hat Ergebnisse, dass Gruppentherapien manchmal schädlich sind, weil sie sich voneinander noch die schlechten Verhaltensweisen abgucken, also derjenige, der noch nicht so viele schlechte kennt, lernt noch richtig schlechte dazu. Also insofern muss man auch gucken, wo ist die Wirk-Evidenz von Prävention, aber auch später von Behandlungsprogrammen."

    Beim Rollenspiel, so zeigt die Forschung zum Bullying, kann der Schuss auch nach hinten losgehen. Dass der aggressive Schüler eben nicht wie geplant die Perspektive des Opfers verstehen lernt und erstes Mitgefühl entwickelt, sondern stattdessen sich bei Mitspielern noch weitere raffinierte Techniken des Psychoterrors abschaut und zu eigen macht.
    Doch vor aller Diskussion über mehr oder weniger effektive Präventions- und Interventionsprogramme, die von außen kommen, so Michael Kölch, hat die Schule ihre eigenen Möglichkeiten:

    "Wie gestalte ich ein Schulklima? Das ist etwas extrem Wichtiges. Gibt es Beratungslehrer, gibt es aber auch ein Klima des Hinguckens, des Unterstützens - da kann man mit relativ kleinen Interventionen ein Schulklima verbessern beziehungsweise auch Kompetenzen der Schüler und Mitschüler stärken."