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Graphic Novel
Anne Franks Tagebuch in Bildern

Anne Franks Tagebuch gehört zu den wichtigsten historischen Dokumenten des 20. Jahrhunderts. Das jüdische Mädchen beschreibt darin die Zeit, in der sie und ihre Familie sich vor den Nationalsozialisten versteckten - bevor sie ins Konzentrationslager deportiert wurde. Ari Folman und David Polonsky haben das Tagebuch als Graphic Novel gestaltet.

Von Niels Beintker | 06.11.2017
    Das Wolkenmeer ist dunkel. Es wirkt bedrohlich, in der Ferne erahnt man Flammen, vielleicht brennende Städte. Am oberen Bildrand rechts, ein heller Kreis, darüber blauer Himmel. Darunter, im Zentrum, auf einer Wolke stehend, die acht Bewohner aus dem Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht - hilflos, verzweifelt wirkend.
    Anne Frank, wie sie der israelische Zeichner Ari Folman gemalt hat, faltet die Hände, betet. Denn der Ring, der sie, ihre Familie und die anderen Menschen im Versteck von der nahenden Gefahr trenne, werde immer enger, schrieb sie im Tagebuch. Weiter heißt es:
    "Jetzt sind wir schon so dicht von Gefahr und Dunkelheit umgeben, dass wir in der verzweifelten Suche nach Rettung aneinander stoßen."
    Anne Franks Tagebucheintrag vom 16. September 1943 - ein Bericht über Angst, Alpträume und die schwindende Hoffnung - liegt dem symbolischen Bild zugrunde. Es ist ein Schlüsselbild und findet sich fast genau in der Mitte der Adaption der weltberühmten Chronik.
    Ein Text mit starken Bildern
    David Polonsky sagt, in diesem Fall sei es viel zu leicht gewesen, eine entsprechende Illustration zu finden.
    David Polonsky: "Und genau das war das Problem. Der Text enthält doch schon so viele starke Bilder. Und du denkst zuerst: Male das lieber nicht so, du zerstörst den Text. Es ist alles da. Wir haben intensiv darüber diskutiert, ob wir diese Passage draußen lassen. Aber der Text ist zu gut."
    Die Comic-Bearbeitung des Tagebuches ist nicht die erste. Doch keine zuvor wurde vom Anne Frank Fonds Basel initiiert. Ari Folman und David Polonsky haben damit die Rechte zur Nutzung des Originaltextes bekommen. Der Regisseur und der Zeichner, international bekannt geworden mit dem animierten Film "Waltz with Bashir", nehmen Anne Franks Aufzeichnungen als feste Grundlage. Sie flechten immer wieder längere Passagen aus dem Tagebuch ein und erzeugen damit einen vielschichtigen Rhythmus zwischen Bild und Text.
    Ihre Graphic Novel - sie sprechen gerne von einem "Graphic Diary" - beginnt mit Annes 13. Geburtstag und endet am 1. August 1944 - kurz bevor ihr Versteck verraten wird. Folman und Polonsky haben den Text, die vielen Berichte Annes an ihre fiktive Freundin Kitty, klug gekürzt. Sie haben Dialoge erfunden. Ebenso haben sie Szenen gestreckt und andere wiederum verdichtet.
    Ari Folman: "Dann spielen Annes Interessen eine Rolle - vor allem ihre Liebe für das Kino, ihr Wunsch, die Geschichte der Königshäuser kennenzulernen, ebenso ihre Faszination für die griechische Mythologie. Du kannst damit arbeiten und musst die Dinge nur miteinander verknüpfen. Das Material ist da."
    Nervige Erwachsene als Spielzeugfiguren
    Wer ausgehend vom Originaltext den Bilderstrecken von David Polonsky folgt, kann auch dort viele Details aus der Vorlage entdecken. Er versteht es immer wieder, die dichten Beschreibungen in ebenso dichte und atmosphärische Kompositionen zu übertragen. Die prägenden künstlerischen Bezüge des in Kiew geborenen Zeichners liegen weniger beim Comic, sondern etwa bei den Malern der Neuen Sachlichkeit und bei Künstlern wie Otto Dix - das gibt den Bildern eine zusätzlich spannende Dimension. Oft sind ganz eigene Interpretationen entstanden.
    Einmal etwa, als Anne Frank von den recht nervigen Erwachsenen im Hinterhaus berichtet, erscheinen diese wie Spielzeugfiguren aus Blech, im Rücken einen Schlüssel zum Aufziehen. Ein anderes Mal - ebenso schön, aber gleichzeitig auch böse - die Bilder zu den kargen Mahlzeiten im Versteck: dort die allzeit feine Frau van Daan mit Spinatmaske, da das Gesicht Adolf Hitlers aus Hackfleisch, dann schließlich die Welt in Atemnot, weil es nur noch Bohnen zu essen gibt:
    "Und jetzt haben wir BBA - Braune-Bohnen-April. Bohnen in meinem Körper, in meinem Verstand, in meiner Seele […]. Man stelle sich vor, die ganze Welt ernährt sich von Bohnen."
    Quelle der Erinnerung
    Ari Folman: "David und ich haben das Tagebuch wie ein Theaterstück empfunden: Da sind Menschen, da ist ihr Seelenleben, da ihre Beziehungen zueinander, ihre Charaktereigenschaften und die Art und Weise, wie sie mit dem schrecklichen Druck in dieser Situation umgehen. Das sind die groben Umrisse."
    Nach Ansicht des Historikers Saul Friedländer sind die persönlichen Dokumente der Holocaust-Opfer die wichtigsten Quellen für die Erinnerung. Wer sie liest, so Friedländer, könne die Texte wie auch die Stimmen der Verfolgten nicht mehr vergessen.
    Faksimile des Tagebuchs der Anne Frank, herausgegeben vom Anne-Frank-Museum in Amsterdam
    Faksimile des Tagebuchs der Anne Frank, herausgegeben vom Anne-Frank-Museum in Amsterdam (picture-alliance / dpa / Ade Johnson)
    Ari Folman und David Polonsky ist es gelungen, die Atmosphäre eines prekären Lebens im Versteck vom Original-Text zu übertragen - das emotionale Auf und Ab, die Ängste, die Hoffnungen, Träume und Sehnsüchte.
    Ebenso zeigen sie Anne Frank in den vielen Facetten, von denen sie selbst berichtet hat - und das immer wieder auf einfühlsame, keineswegs plakative oder reißerische Weise. Nichts wird dabei ausgeklammert, auch nicht die Sexualität, von der Anne unbefangen an ihre Freundin Kitty schrieb. Ein Mensch, nicht nur eine Figur, wird in der Graphic Novel greifbar:
    "Ich bin oft niedergeschlagen gewesen, aber nie verzweifelt. Ich betrachte dieses Verstecken als ein gefährliches Abenteuer, das romantisch und interessant ist. Ich beschreibe jede Entbehrung in meinem Tagebuch wie eine Unterhaltung."
    Adaption und Original
    David Polonsky: "Es geht doch darum, ein Buch zu machen, auf das man neugierig wird. Daneben ist aber noch etwas anderes wichtig: Das Tagebuch zeigt ja, dass Anne Frank nicht verrückt wurde. Sie war so phantasievoll, voller Entdeckungsdrang. Das habe ich als Einladung verstanden, mit dieser Welt zu spielen."
    Die Bearbeitung eines klassischen Textes - egal ob etwa als Film oder als Graphic Novel - ersetzt nicht die Auseinandersetzung mit dem Original. Man lese am besten Anne Franks Tagebuch in der kommentierten Ausgabe parallel zur Graphic Novel von Ari Folman und David Polonsky - und man wird, auch als Erwachsener, diesen großen und auch literarisch bewegenden Text neu entdecken.
    Das Tagebuch der Anne Frank als Graphic Novel – konzipiert, erstellt und gezeichnet von Ari Folman und David Polonsky. Die deutsche Ausgabe ist im S. Fischer-Verlag erschienen. Sie beruht auf der Übersetzung von Mirjam Pressler, die Dialoge wurden von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann übertragen. 160 Seiten kosten 20,00 Euro.
    Das Tagebuch der Anne Frank als Graphic Novel – konzipiert, erstellt und gezeichnet von Ari Folman und David Polonsky.
    S.Fischer Verlag, 160 Seiten, 20,00 Euro