Der 2. September 2004 war einer jener klassischen Spätsommertage in Weimar, an denen der Himmel so unwirklich hell glänzt, dass die Stadt an der Ilm beinahe selbst wie ein Stück Literatur wirkt. Gegen acht Uhr abends war Michael Knoche, Direktor der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek, nach Hause geradelt.
"Ich hab am 2. September um 20 Uhr 26 einen Anruf eines Mitarbeiters bekommen mit dem Satz 'Die Bibliothek brennt. Ich weiß nicht, ob Sie kommen wollen.' Der Satz ist mir natürlich ins Gedächtnis eingebrannt, weil er so kurios war. Ich hab mich dann gleich aufgemacht und hab schon kurz nachdem ich die Straßenbiegung passiert hatte, gesehen, dass Rauch aus den Dachgauben stieg."
Aus dem 16. Jahrhundert stammt der Kern des Hauses, das in seiner leicht asymmetrischen Gestalt die Würde eines freundlichen alten Philosophen ausstrahlt, der manchen Niedergang und Neuanfang erlebt hat. Ende 1797 schrieb Goethe an Schiller:
"Vielleicht habe ich bei Bibliothekssachen künftig einigen Einfluß... Bei der jetzigen Einrichtung gewinnt niemand nichts, manches Geld wird unnütz ausgegeben, manches Gute stockt."
Und Schiller erwidert:
"Ihre Idee ... wird gewiß jeder Vernünftige ... ausgeführt wünschen. Fände man nur alsdann auch ein Subject welches fähig wäre, dem Ganzen vorzustehen und den Plan ... zu verfolgen."
Das Subjekt war bald gefunden. Goethe selbst kümmerte sich im Regierungsauftrag: eine neue Ankaufspolitik, eine neue Benutzerordnung, Umbauten. Und so wurde die Bibliothek mehr und mehr ein Spiegel des schönen deutschen Geistes, mit dem ganz in Weiß und Gold gehaltenen Rokokosaal und seinen Galerien, den Porträtbüsten und dem Deckenbild "Genius des Ruhms", auf dem ein geflügelter Jüngling in den blauen Himmel aufsteigt.
"Moment der Ohnmacht"
Michael Knoche:
"Ich hab ja schon einige Jahre nicht mehr ruhig geschlafen bei dem Gedanken, wie marode eigentlich der Zustand der Bibliothek war ..."
"Ich hab ja schon einige Jahre nicht mehr ruhig geschlafen bei dem Gedanken, wie marode eigentlich der Zustand der Bibliothek war ..."
Eine heimtückisch hinter Wandverkleidungen vor sich hin schmorende Kabelverbindung sorgte dafür, dass sich die schlimmen Vorahnungen bestätigten.
"Der Moment, wo wir vor dem Haus standen, es war ungefähr 21.50 Uhr, und nichts mehr machen konnten, weil das Haus lichterloh brannte und man sehen konnte, wie hinter den Scheiben Regale zur Seite sanken und Opfer der Flammen wurden, das war eigentlich der Moment der Ohnmacht und auch der emotional bewegendste Moment..."
Bis dahin hatten Mitarbeiter der Bibliothek, Feuerwehrleute und herbeigeeilte Weimarer Bürger bergeweise Bücher, Bilder und Büsten auf die Straße geschleppt. Nun aber sperrte die Feuerwehr den Zugang zum Haus.
"Erst in dieser Sekunde ist mir eingefallen, dass da noch unsere sehr wertvolle Bibelsammlung steht mit einer Lutherbibel aus dem Jahre 1534, der ersten Gesamtausgabe. Und wir sind dann über die Schläuche, die im ganzen Haus lagen, in den Rokokosaal hineingestolpert und von oben floss natürlich Unmengen Löschwasser auf uns nieder, und zwar heißes Löschwasser, und dann haben wir uns an das Regal vorgetastet und die Bücher gegriffen und sind schleunigst wieder aus dem Saal hinaus."
Längst nicht aller Schaden ausgeglichen
Rund 50.000 Bücher verbrannten, etwa 60.000 konnten, wenn auch beschädigt, gerettet werden. Nur die Decke, nicht die Mauern aus dem Jahre 1595 stürzten ein, und auch die Menschenkette, die sich in der Brandnacht gebildet hatte, war haltbar. Nie ist die Wirksamkeit des Geistes greifbarer als im Augenblick seiner Verwundung. Am Tag nach dem Brand lag eine Trauer über der Stadt, als wäre Goethe ein zweites Mal gestorben.
"Am anderen Morgen, als dann die Sonne wieder aufging, sah man auch in den blauen Himmel vom Saal aus. Das war ein schöner und schrecklicher Anblick zugleich."
Die Nachricht von der Katastrophe löste eine ungeahnte Hilfsbereitschaft aus. Von überall wurde Geld gespendet, Bücher wurden gestiftet, neue Verfahren zur Restaurierung entwickelt, sogar ein Patent konnte angemeldet werden. Im Jahre 2007 eröffnete der Bundespräsident das wunderschön restaurierte Bibliotheksgebäude. Bis heute ist aber längst nicht aller Schaden ausgeglichen.
"Die Lehren aus dem Brand von Weimar sehe ich darin, dass man viel zu lange die schriftliche Überlieferung vernachlässigt hat und es ist ein Menetekel, das uns zeigt: Kümmert Euch um das kulturelle Erbe in Deutschland."