Donnerstag, 28. März 2024

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Hetzjagd auf Flüchtlinge
"Aberhunderte Attacken auf Flüchtlinge machen fassungslos"

Flüchtlinge fliehen, weil der Rechtsstaat in ihrer Heimat zerbrochen ist. Die Rechtsstaatlichkeit sei in Deutschland aber auch gefährdet, wenn die Aufklärungsquote nach Anschlägen gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte gegen null tendiere, sagte der Journalist Uwe-Karsten Heye im DLF.

Uwe-Karsten Heye im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 12.01.2016
    Uwe-Karsten Heye, aufgenommen bei einer Buchvorstellung am 22.5.2013 in Berlin
    Uwe-Karsten Heye (picture-alliance / dpa / Kay Nietfeld)
    "Es macht mich fassungslos, dass bei den Aberhunderten Attacken die Polizei nicht in der Lage ist, Täter zu überführen", sagte Heye, der Vorstandsvorsitzender des Vereins "Gesicht zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland" ist. Zuletzt gab es Berichte, wonach hunderte Haftbefehle gegen Rechtsextremisten nicht ausgeführt worden seien, da diese nicht auffindbar sind. Heye fragt: "Was ist los hier?"
    Immer mehr staatliches Handeln sei privatisiert worden. Das gelte auch für die Frage der Sicherheit. "Wir stehen vor der Tatsache, dass wir eine steigende Anzahl an Sicherheitsfirmen haben, die in Flüchtlingsunterkünften für Sicherheit sorgen sollen - aber da sind oft Rechtsextreme darunter, die das Gegenteil bewirken."
    Ein Abrutschen der Gesellschaft nach Rechts sei nicht überall zu beobachten. Er berichtet von einer Demonstration in Potsdam, bei der nur hundert Menschen dem Aufruf von dem Berliner Pegia-Ableger Bärgida gefolgt seien, zugleich aber einige Tausend Gegendemonstranten anwesende gewesen seien. "Auch das ist die Wirklichkeit."
    Mit Blick auf die Übergriffe von Köln sagte Heye, dass es klar sei, dass bei einer Million Menschen, die in wenigen Monaten kommen, einige andere Vorstellungen hätten, wie man sich benimmt. "Da müssen wir hingucken, nichts tabuisieren und klar machen, wo Grenzen sind, und diese Grenzen muss man ziehen und die kann und sollte der Staat ziehen."

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Seit den massenhaften Übergriffen in der Silvesternacht in Köln wird vor allem über eines diskutiert: Wie viele Ausländer waren unter den Tätern? Befanden sich darunter auch Flüchtlinge und Asylbewerber? Müssen straffällig gewordene Ausländer schneller abgeschoben werden? Keine Frage: Das Staatsversagen, das da in Köln in der Tat beobachtet werden musste, es dominiert die politische Debatte wie keine andere. Kippt jetzt die Stimmung? Das ist jetzt die große Frage. Darüber wollen wir reden mit Uwe-Karsten Heye. Er ist Vorsitzender des Vereins "Gesicht zeigen" Guten Morgen, Herr Heye.
    Uwe-Karsten Heye: Ich grüße Sie!
    Heckmann: Herr Heye, in Köln endete am Sonntag die Demonstration von Pegida NRW, die auch von der NPD unterstützt wurde, im Chaos und musste aufgelöst werden. Offen war mehrfach der Hitlergruß gezeigt worden. In Köln machten Rechtsextreme, Angehörige der Hooligan-, der Rocker- und der Türsteher-Szene Jagd auf Ausländer. Drei Personen wurden verletzt. In Leipzig gab es jetzt auch in der Nacht Krawalle von Hunderten von Hooligans. Der Zentralrat der Muslime stellt wegen massenhafter Drohanrufe die Telefone ab. Haben jetzt Ausländerfeinde und Rassisten freie Fahrt in Deutschland?
    Heye: Nein! Oder es sollte jedenfalls nicht so sein. Dass es punktuell und in der einen oder anderen Stadt auch zu polizeilichem Versagen gekommen ist, das ist wirklich ein Fakt, und man muss wirklich darüber nachdenken, wie und auf welche Weise solche Vorkommnisse demnächst nicht wieder passieren können. Aber ich war gestern auch auf einer Demonstration, natürlich, und zwar in Potsdam, in Potsdam, wo es gerade mal 100 Menschen gegeben hat, die sich als Bergida, also Berlingida und Potsdamgida zusammengefunden hatten und gegen einige Tausend Gegendemonstranten standen. Auch das ist die Wirklichkeit. Also ich glaube, es wäre gut, wenn wir mal sprachlich etwas abrüsten würden - das ist das eine - und zum anderen die überraschende Feststellung machen können oder sollen, dass auch Flüchtlinge Menschen sind, die mit guten und mit weniger guten Eigenschaften ausgestattet sind.
    "Aufklärungsquote tendiert gegen null"
    Heckmann: Und darüber wird zu wenig gesprochen?
    Heye: Ich glaube, ja! Ich glaube, dass bei manchen so das Gefühl aufkommt, das sind alles nur gute Menschen, die hier herkommen, und wir helfen denen und ist das nicht wunderbar. Dass darunter bei einer Million Flüchtlingen, die in wenigen Monaten zu uns gekommen sind, auch solche sind, die eine andere Vorstellung davon haben, wie sie sich hier bewegen können, das ist doch nicht wirklich überraschend. Also ich glaube, hingucken, genau hingucken, nichts tabuisieren und klar machen, wo Grenzen sind, und diese Grenzen muss man ziehen und die kann und sollte der Staat ziehen. Jetzt ist es so, dass wir aus den schreckerregenden Kriegsgebieten des Nahen Ostens Flüchtlinge hierher bekommen, weil dort staatliche Aufsicht und Rechtsstaatlichkeit zerbrochen ist. Da schießt jeder auf jeden und wir sind dabei, in eine ähnliche Situation oder Verfassung zu geraten, nicht so schlimm, weil es hier keinen Bürgerkrieg gibt, Gott sei Dank, aber ich muss ehrlich sagen, es macht mich schon ein bisschen fassungslos, dass wir bei aberhunderten Attacken gegen Flüchtlingsunterkünfte, Brandattacken gegen Flüchtlingsunterkünfte, Anschlägen auch gegen Helfer mittlerweile, dass die Polizei nicht in der Lage ist, Täter zu überführen, und dass wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass auf der Szene, die da den Angriff auf die Flüchtlinge als Gegner empfindet, dass die Aufklärungsquote gegen null tendiert. Was ist los mit unserer Polizei? Was ist los mit dem Gewaltmonopol in diesem Lande?
    Politische Überbietungswettbewerb muss aufhören
    Heckmann: Herr Heye, viele sagen ja jetzt, die Ereignisse in der Silvesternacht in Köln, die kämen einem Staatsversagen gleich, und es spricht ja auch einiges dafür. Wenn Sie sich jetzt diese vielen Angriffe und Anschläge auf Asylbewerberheime anschauen - auf ein Heim in Hessen, da wurden ja sogar Schüsse abgegeben, ein Flüchtling wurde zum Glück nur verletzt -, ist das nicht auch eine Form des Staatsversagens?
    Heye: Ja! Ich halte es sogar für gefährlicher, als wenn testosterongeschwängerte junge Männer zu Übergriffen neigen, was man verhindern muss selbstverständlich. Aber das ist sozusagen eine Seite der Medaille, die sich ergibt aus der Tatsache, dass wir, wie heute zu hören ist, aus den Hungergebieten Syriens weitere Hunderttausende von Menschen erwarten müssen, die auf der Flucht sind vor den Schrecklichkeiten ihres Bürgerkrieges, dem sie entweichen wollen, oder mit ihren Kindern in Sicherheit zu geraten. Wir werden also weiterhin Flüchtlinge aufnehmen müssen, und das in einem Europa, das sich beständig weigert, das zu tun. Es wird also schon darauf ankommen, ob die Politik ihren Überbietungswettbewerb, welche Gesetze möglicherweise noch verschärft werden müssen, endlich aufhört, sich zurücksetzt, miteinander redet darüber, wie und auf welche Weise wir in diesem Lande die Debatte führen müssen, die wir nicht führen, wenn es darum geht, nach rechts zu sehen und unserer eigenen Täter habhaft zu werden. Die "Süddeutsche Zeitung" berichtet, dass einige hundert Haftbefehle gegen Rechtsextremisten nicht ausgeführt worden sind, die sich irgendwo verkrümelt haben und nicht mehr auffindbar sind. Was ist los hier?
    Immer mehr staatliches Handeln wurde privatisiert
    Heckmann: Sind die Sicherheitsbehörden in diesem Punkt zu lasch?
    Heye: Ich glaube, dass wir hier eine Quittung haben, die sich aus den letzten zwei Jahrzehnten ergeben hat, als immer mehr staatliches Handeln privatisiert worden ist. Jetzt wird Rekommunalisierung gefordert, und das gilt eben nicht nur für Energie, Wasser und Ähnliches, sondern es gilt auch für die Frage, wie und auf welche Weise Sicherheit produziert werden kann und sollte. Wir stehen vor der Tatsache, dass wir eine steigende Anzahl von sogenannten Sicherheitsfirmen haben, die in den Flüchtlingsunterkünften für Sicherheit zu sorgen haben, und es stellt sich heraus, da sind oft Rechtsextremisten darunter, die genau das Gegenteil von dem tun, was sie eigentlich tun sollten. Das heißt, wir sind dabei, müssten sehr intensiv darüber nachdenken, wo gibt es Defizite, die die Rolle des Staates und seine sozusagen Dienstleistungspflicht gegenüber den Bürgern, wo das nicht mehr durchzuhalten ist oder nicht mehr einzuhalten ist, und da müssen wir Verstärkung herholen. Das ist wohl wahr.
    "Staatliche Verbesserungen erlebe ich nur bedingt"
    Heckmann: Herr Heye, wir haben über die Aktivitäten der Rechtsradikalen gesprochen. Das ist das eine. Das andere ist: Wie reagiert die Mitte der Gesellschaft? Da wächst ja die Verunsicherung Zusehens ganz offenbar. Ich selbst habe eine junge Familie bei der Demonstration der Pegida NRW in Köln gesehen. Unter den Rechtsextremen stand diese junge Familie dort, eine junge Frau, ein junger Mann mit zwei kleinen Kindern, ganz normale Leute ganz offenbar, und die haben gesagt mit Blick auf die Übergriffe in Köln Silvester, wir machen uns Sorgen um unsere Kinder. Können Sie solche Leute verstehen? Können Sie diese Leute verstehen, dass sie Angst haben vor Ausländern und auch Angst davor, dass der Staat sie nicht schützt?
    Heye: Ja, mit Vorbehalten. Beides verstehe ich natürlich. Das eine ist so wichtig wie das andere. Natürlich kann man Sorgen haben vor der Frage, wie kriegen wir das denn hin, eine Million Menschen von jetzt auf gleich in eine Situation zu bringen, wo sie sich hier A aufgenommen fühlen und gleichzeitig wissen, wo sie gelandet sind, aus völlig anderen auch kulturellen Strukturen kommen. Wie gehen wir damit um? Wir lernen also jeden Tag neu, was das bedeutet und welche Fragestellungen dahinter sind. Wenn ich dann höre, dass die Unions-Parteien fordern, dass eine Integrationsverpflichtung stattfinden soll, dass jemand unterschreiben soll, ich lerne Deutsch, ich lerne das Grundgesetz, ich lerne alles, was notwendig ist, um in diesem Land anzukommen, dann frage ich, und wo gibt es die Angebote dafür. Können wir uns vorstellen, welche langen Schlangen sich vor den Volkshochschulen bilden werden, weil es zu wenig Angebote im Sprachunterricht gibt? Bei "Gesicht zeigen", für das ich stehe, haben wir jeden Dienstag Sprachunterricht. Wir haben mittlerweile einige hundert Deutschstunden für Flüchtlinge gemacht. Das tun viele andere und das sind alles private Initiativen. Staatliche Verbesserungen in dieser Richtung erlebe ich nur bedingt. Es gibt Gott sei Dank größere Anstrengungen, Kitas und Beschulung von Flüchtlingskindern sicherzustellen, alles aber in einem Tempo, dass man sich fragt, wie lange soll denn das dauern. Wie lange brauchen wir denn, um das Naheliegende zu tun und nicht schon wieder neue Gesetze zu fabrizieren, ohne dass wir in der Lage sind, die alten durchzusetzen.
    Heckmann: Uwe-Karsten Heye war das, ehemaliger Regierungssprecher und Vorsitzender des Vereins "Gesicht zeigen". Herr Heye, danke Ihnen für dieses Gespräch und schönen Tag.
    Heye: Ja, gleichfalls.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.