Mittwoch, 17. April 2024

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Hilde Mattheis (SPD)
"Geht wirklich darum, diese Partei vor dem Abgrund zu retten"

Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles (SPD) gehe es nun nicht um Personen und deren Auftreten, sondern um die Partei, Inhalte und um eine Profilierung, sagte die SPD-Politikerin Hilde Mattheis im Dlf. Die Lage der Partei sei "hochdramatisch". Sie müsse daran arbeiten, sich ihrer Sache wieder sicher zu sein.

Hilde Mattheis im Gespräch mit Martin Zagatta | 03.06.2019
Hilde Mattheis steht an einem Rednerpult und gestikuliert.
"Die Wahlen, die wir ja hinter uns haben, haben es bestätigt: Wir konnten uns nicht profilieren", sagte die SPD-Politikerin Hilde Mattheis im Dlf (dpa/Christoph Schmidt)
Martin Zagatta: Mitgehört hat die SPD-Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis. Sie ist die Vorsitzende des Forums Demokratische Linke 21, eine Vertreterin des linken Parteiflügels, der ja vehement dagegen war, die Große Koalition mit der Union überhaupt noch fortzusetzen. – Hallo, Frau Mattheis!
Hilde Mattheis: Hallo! – Guten Tag.
Zagatta: Frau Mattheis, fühlen Sie sich heute bestätigt? War das, war die Fortsetzung der Großen Koalition das Verhängnis von Andrea Nahles? Oder ist die an sich selbst gescheitert?
Mattheis: Ich finde, da hilft es jetzt nicht, irgendwie rechthaberisch aufzutreten. Aber man darf schon sagen, dass die Argumente, die wir vor mehr als einem Jahr angeführt haben, offensichtlich zutreffen. Denn klar ist: In der Großen Koalition, die das dritte Mal quasi hintereinander geschlossen wurde, kann man das eigene Profil nicht schärfen. Und einer Partei wie die SPD, die in den letzten Jahren wirklich so maßgeblich an Zustimmung verloren hat, ist es fast unmöglich, Erneuerung und Kompromissbereitschaft zu gleicher Zeit irgendwie umzusetzen.
Zagatta: Da bezahlt Andrea Nahles jetzt für einen großen Fehler, den sie gemacht hat?
Mattheis: Ich glaube, das kann man nicht an einer Person festmachen, sondern wir hatten ja eine Mitgliederabstimmung und da haben ja 64 Prozent der Mitglieder gesagt, lasst uns wieder in eine Große Koalition gehen. Wie diese Abstimmung oder wie diese Zustimmung zustande kam, will ich jetzt hier gar nicht thematisieren, aber als Demokratin muss man sich schon an solchen Mehrheiten im Prinzip orientieren. Das war vor mehr als einem Jahr und es hat sich einfach gezeigt, dass es schwierig ist und die Wahlen, die wir ja hinter uns haben, haben es bestätigt: Wir konnten uns nicht profilieren.
Zagatta: Jetzt steht Andrea Nahles aber wegen ihres Führungsstils, wegen ihrer Auftritte selbst in der Kritik. Der "Focus" schreibt heute zum Beispiel, Nahles sei an ihrer eigenen Intrige gescheitert. Sehen Sie da auch einen Grund?
Mattheis: Jetzt sucht man natürlich nach allen möglichen Gründen. Ich finde, man muss doch einfach als SPD-Genossin feststellen dürfen, es geht um die Partei, es geht nur zweit- oder sogar drittrangig um Personen, es geht um Inhalte, es geht um eine Profilierung eben durch Inhalte, und Personen folgen dann Inhalten, und in dem Zusammenhang würde ich jetzt einfach gar nicht irgendwie über Personen und ihr Auftreten diskutieren, sondern jetzt geht es wirklich darum, diese Partei vor dem Abgrund zu retten. Das sehe ich schon so hochdramatisch.
"Hätte mir gewünscht, das hätte man irgendwie anders organisieren können"
Zagatta: Die SPD steht am Abgrund. Das ist ja ganz besonders deutlich geworden durch diese Europawahlen. Die Konsequenz dann, eine Personaldiskussion trotzdem, trotz Ihrer Appelle. Hätte denn Nahles – das hatte sie ja vorgehabt, morgen in der Fraktion sich zur Abstimmung zu stellen -, war denn klar, dass sie da keine Mehrheit mehr bekommen hätte? Sehen Sie das auch so?
Mattheis: Mir war das nicht klar. – Nein, mir war das nicht klar. Das muss ich ganz eindeutig sagen. Mir war das nicht klar und das ist schon auch – wie soll ich sagen – ein Ärgernis, ist zu schwach ausgedrückt, aber es ist schon sehr schwierig, dass in einer Partei, einer Fraktion, wenn man so nah am Abgrund steht, dann im Prinzip Personaldebatten einen retten sollen. Das hat es noch nie getan. Das hat es noch gar nie getan. Von daher hätte ich mir wirklich gewünscht, nicht diese, von hinten hervorkommenden Angriffe, sondern das mit offenem Visier zu machen. Das wäre schon eine besondere Qualität gewesen und ich hätte mir gewünscht, das hätte man irgendwie anders organisieren können. Das tut unserer Fraktion und tut auch der Partei nicht gut. Da bestätigt man im Prinzip das, was die Leute in der Öffentlichkeit diskutieren, Parteien geht es nur um Pöstchen, Posten und um nichts anderes. Ich finde das ein bisschen schwierig.
Zagatta: Wieso verschleißt denn die SPD so viele Vorsitzende?
Mattheis: Ich glaube, wir müssen uns unserer Sache wieder sicher sein. Das ist mein Punkt, den ich immer wieder auch anbringe. Wir müssen uns unserer Sache sicher sein und die Bevölkerung muss sicher sein, wenn ein politisches Problem auftritt, wie die SPD da reagiert und wie sie sich positioniert. Das war in den letzten Jahren nicht der Fall oder überwiegend nicht der Fall, diese Klarheit in der Positionierung, und ich glaube, das ist der Punkt, an dem wir arbeiten müssen.
Zagatta: Klarheit in der Positionierung. Gehen Sie jetzt raus aus der GroKo oder nicht?
Mattheis: Wenn es an mir liegen würde, aber ich habe Gott sei Dank wie jeder Demokrat, jede Demokratin eine Stimme, auch in der Bundestagsfraktion. Damit will ich sagen, dass ich natürlich für meine Argumente werben möchte, aber die Abstimmung ist eine Mehrheitsabstimmung, auch in der Partei. Ich glaube, man muss jetzt wieder mit Argumenten gegen die Große Koalition für den Bundesparteitag werben, dass da die Delegierten in Ruhe, mit Gelassenheit, aber mit ganz klaren Positionierungen und Argumenten gegen den Fortbestand einer Großen Koalition konfrontiert werden und dann entscheiden können. Ich glaube, wir müssen als Verantwortliche, die wir alle sind für diese Partei, jetzt diesen Bundesparteitag gut vorbereiten.
Zagatta: Kann sich die SPD Neuwahlen, die das zwangsläufig ja dann zur Folge hätte, überhaupt leisten in dieser Situation?
Mattheis: Da darf ich einfach noch mal kurz dazwischenrufen.
"Eine Minderheitsregierung ist auch ein Stilmittel"
Zagatta: Machen Sie das.
Mattheis: Warum unbedingt Neuwahlen? Warum Neuwahlen? Wir haben schon vor über einem Jahr argumentiert. Ja, es gibt noch alle möglichen Instrumente dazwischen. Außerdem sind da noch weitere Parteien im Parlament, die womöglich auch gefragt werden sollten, wo ihre Verantwortung in der Situation liegt. Und außerdem haben wir auch vor einem Jahr immer gesagt, eine Minderheitsregierung ist auch ein Stilmittel, wo in diesen Zeiten wieder sehr viel stärker auch gegen Politikverdrossenheit argumentiert werden kann. Das heißt, warum sollte sich eine Kanzlerin Merkel für ihre Punkte, für ihre politischen Ziele nicht im Parlament eine Mehrheit suchen. Da, glaube ich, könnte man sehr wohl gelebte Demokratie wieder ganz klar zeigen. Und in dieser Zeit, wo es darum geht, dass politische Parteien wieder an Glaubwürdigkeit gestärkt werden, und wo der Parlamentarismus gestärkt werden muss, halte ich das für eine Möglichkeit, die nicht abwegig ist.
Zagatta: Nachdem die Grünen ein solches Bündnis aber ausschließen, ist das etwas unwahrscheinlich. Frau Mattheis, verstehe ich Sie richtig?
Mattheis: Ja! Ich habe ein sehr gutes Argument für eine Minderheitsregierung. Das war mein Argument.
Zagatta: Verstehe ich Sie dann richtig? Sie wollen raus aus der Regierung, aber Sie scheuen Neuwahlen?
Mattheis: Das habe ich nicht gesagt.
Zagatta: Aber so habe ich es verstanden!
Mattheis: Ich glaube, in dieser Situation muss es der SPD darum gehen, im Prinzip sich selber zu stärken. Das wird längere Zeit dauern. Und ich glaube, wir haben beide nicht die Glaskugel. Niemand hat sie. Kommen wir aus einer Großen Koalition gestärkt bei weiteren Wahlen? Das, glaube ich, hat man bei den letzten Wahlen gesehen. Oder kommen wir als Oppositionspartei, wenn wir jetzt rausgehen, dann gestärkt aus Neuwahlen heraus? Auch da gibt es keinen Beleg, sondern nur Vermutungen, und da halte ich das Argument für zielsicherer, dass es darum gehen muss, dass die SPD sich jetzt wieder in sich selber, für sich selber konsolidiert, um für diese Gesellschaft den politischen Dienst wieder bringen zu können, den wir eigentlich bringen wollen.
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