Eine sechsspurige Hauptverkehrsstraße in Neu-Delhi. Ungeduldig warten die Verkehrsteilnehmer vor der roten Ampel. Verbeulte Busse, schwarz-gelbe Taxen, knatternde Motorroller, Fahrradfahrer und Privatautos stehen dicht an dicht. In einer Lücke versuchen zwei Kinder mit leidendem Gesichtsausdruck den Fahrer eines teuren Wagens zu einer Geldspende zu bewegen.
Die Ampel springt auf Grün. Jeder versucht, als Erster loszufahren. Allerdings stockt der Verkehr schon kurz hinter der Kreuzung erneut – acht Kühe liegen wiederkäuend in der prallen Sonne mitten auf der Straße. Jetzt bloß nicht mit einem dieser Tiere kollidieren. Dies würde sich ungünstig auf das eigene Karma auswirken und negative Folgen im nächsten Leben haben. Würde man eine Kuh verletzen, bekäme man dafür von orthodoxen Hindus gewiss eine Tracht Prügel.
Man schaut einfach weg, wenn sie qualvoll sterben
Aber ansonsten kümmert sich kaum einer um diese herum streunenden Tiere, man lässt sie einfach gewähren. Viele Kühe sehen elend aus und sind klapperdürr, doch sie sind heilige Tiere. Der Anthropologe Vinesh Srivastha von der Nehru University in Neu-Delhi:
"Viele Inder achten die Kuh weitaus weniger, als streng gläubige Hindus es fordern. Ein Großteil der Inder ist arm und sie haben genug eigene Probleme, sodass sie Grundsätze der hinduistischen Lehren kaum umsetzen können. Man kümmert sich nicht um frei laufende Kühe, vor allem in den Städten. Man schaut einfach weg, wenn sie vor lauter Hunger Plastiktüten mit Essensresten fressen, an denen sie dann oft qualvoll sterben."
Hindu-Nationalisten schlagen Bauern brutal zusammen
Nun fordern Hindu-Nationalisten neue Gesetze zum besseren Schutz der Kuh. Auf Druck von Anhängern der Hindu-Partei BJP wurden von den Behörden bereits mehrere Schlachthöfe im Bundesstaat Uttar Pradesh geschlossen. Dass Hindu-Nationalisten immer wieder gegen Muslime vorgehen, zeigte sich vor kurzem erneut: Streng gläubige Hindus, selbst ernannte Kuhschützer, stoppten einen Lastwagen mit Kühen. Die Eigentümer der Kühe, zwei muslimische Bauern, wurden aus dem Führerhaus gezerrt und so brutal zusammengeschlagen, dass einer von ihnen an seinen Verletzungen starb. Ähnliche Vorkommnisse häufen sich in der letzten Zeit.
Solche gewalttätigen Aktionen verurteilen andere religiöse Gruppierungen, die sich ebenfalls für das Wohl der Kühe einsetzen, zum Beispiel die Hare-Krishna-Bewegung. Sie hat Gnadenhöfe für Kühe eingerichtet, da ihr Gott Krishna als Beschützer der Kühe gilt.
"An Tagen, die dem Gott Krishna gewidmet sind, huldigen seine Anhänger auch den Kühen. Einst soll Krishna als Hirte durchs Land gezogen sein. Er schenkte dabei den Kühen besonders viel Aufmerksamkeit."
Einmal vergnügte sich Krishna mit seiner Geliebten Radha an einem weit entfernten, geheimen Ort. Allmählich wurden die Liebenden müde und durstig und hatten das Verlangen nach Milch. Da erschuf Krishna aus der linken Seite seines Körpers heraus die Kuh Surabhi und das Kalb Manoratha. Sridaman, eine weitere Gespielin Krishnas, molk die Kuh und goss die Milch in einen Tonkrug. Als Krishna daraus zu trinken begann, fiel das Gefäß zu Boden und zerbrach. Der weiße Saft breitete sich viele hundert Kilometer weit über den Boden aus. Daraus entstand ein See, in dem Krishnas Gespielinnen fortan badeten. Die von Gott Krishna erschaffene Kuh Surabhi aber gebar in der Folge zahllose Kälber.
Kein wirtschaftlicher Nutzen durch die Kühe
Auch den Jainas, eine der ältesten Glaubensgemeinschaften Indiens, liegt das Wohl der Kühe am Herzen. Sie setzen sich unter anderem dafür ein, dass Kühe nicht geschlachtet werden. Überhaupt lehnen die Jainas das Töten jeglicher Tiere ab. Der Vorsitzende der Jain-Organisation "Ahimsa Foundation" in Neu Delhi, A. K. Jain:
"Wir tun unser Möglichstes, damit Kühe nicht im Schlachthof enden. Kühe, die keine Milch mehr geben, verkaufen Molkereien und Bauern an Tierhändler, die sie dann zum Schlachten bringen. Wir haben Leute, die diese Kühe auf dem Weg zum Schlachthof abfangen. Die Tiere kommen danach in ein Schutzzentrum und wir füttern und pflegen sie bis zu ihrem natürlichen Ende. In Rajasthan leben in unseren Kuh-Häusern um die zehntausend Rinder und Kühe. Wir lehnen es auch ab, in irgendeiner Form wirtschaftlichen Nutzen aus diesen Tieren zu ziehen. Was für uns zählt, ist, dass wir unsere Religion in die Tat umsetzen."
Die Kuh als heiliges Wesen und zugleich nützlichstes Tier der Welt
Sanjay Bashyam leitet ein Kuhasyl im Bundesstaat Rajasthan. Die Kuh, sagt er, sei eine wandelnde Göttin. Aus diesem Grund berührten die Gläubigen Kühe auch so gern und führten danach die Hände zur Stirn, um die soeben empfangenen Kräfte zu verinnerlichen. Und wenn morgens die Tore eines Tempels geöffnet werden, platziert man gern eine Kuh davor, damit der Blick des Gottes als erstes auf dieses heilige Tier falle.
Sterbenden gibt man den Schweif einer lebenden Kuh in die Hand, da man glaubt, dass sie nur so gefahrlos den Höllenfluss Vaitarani überqueren können. Außerdem, fügt Sanjay Bashyam hinzu, sei die Kuh nicht nur ein heiliges Wesen, sondern auch noch das nützlichste Tier der Welt.
"Die Kuh gibt uns fünf heilige Dinge: ihren Urin, der in der traditionellen Medizin Verwendung findet. Ihren Dung, einer der wichtigsten Brennstoffe im ganzen Land. Und dann bekommen wir ihre Milch. Sie versorgt uns auch mit Joghurt und Butter. Und wer seinen Frieden finden möchte, sollte lernen, wie man sich dieser Tiere annimmt."
Die Kuh gilt als Schöpferin allen Lebens
In den Veden, religiösen Texten des Hinduismus, wird die Kuh als verehrungswürdiges Geschöpf beschrieben, das nicht getötet werden darf. Es heißt, dass der Kuh verschiedene Gottheiten innewohnen. Gelobt wird ihre unendliche göttliche Kraft. Die Kuh gilt als die Urmutter, als Schöpferin allen Lebens.
//Kühe sind Treppen zum Himmel.
Selbst von den Planeten werden sie verehrt.
Sie erfüllen uns alle Wünsche.
Nichts Größeres gibt es als eine Kuh.//
Selbst von den Planeten werden sie verehrt.
Sie erfüllen uns alle Wünsche.
Nichts Größeres gibt es als eine Kuh.//
Aber nicht überall in Indien genießt die Kuh Respekt und Verehrung. Es gibt auch Hindus, die ihr Fleisch essen. Vor allem im südindischen Bundesstaat Kerala steht Rindfleisch oft auf den Speisekarten. Außerdem essen es in ganz Indien die sogenannten Unberührbaren, die kastenlosen Dalits. Der Anthropologe Vinesh Srivastha sagt, mancher Umgang mit den Kühen mache ihn traurig:
"Oft passiert es, dass Kühe irgendwo zusammenbrechen und sterben. Es kann vorkommen, dass man sie dann einfach den Geiern und wilden Hunden überlässt. Oder ihnen sogar die Haut abzieht und den Rest des Körpers einfach liegen lässt. Das geschieht diesen wundervollen Tieren, die nach hinduistischer Tradition verbrannt werden sollten."