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Historiker-Tagung
Angst und Demokratie in 70 Jahren Bundesrepublik

Kalter Krieg, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung - auch 1980 gab es Ängste und politische Gegensätze. Kaum jemand aber stellte damals gleich die Bonner Demokratie in Frage. Und wie ist der Zustand der Bundesrepublik 70 Jahre nach ihrer Gründung? Auch darüber diskutierten Historiker bei den Rhöndorfer Gesprächen.

Von Michael Kuhlmann | 21.03.2019
Auf dem Bonner Münsterplatz demonstrieren am 08.11.1980 Bürger hinter einer Absperrung gegen das öffentliche Rekrutengelöbnis. Davor Pressevertreter. | Verwendung weltweit
Besorgte Bürger vor knapp 40 Jahren: Demonstration gegen ein öffentliches Rekrutengelöbnis der Bundeswehr in Bonn im Herbst 1980 (picture alliance / Egon Steiner )
Stabilitäten und Unsicherheiten - vor 20 Jahren hätte man die Bonner Republik wohl noch nicht unter diesem Rubrum betrachtet. Aber heute hat sich der Blick gewandelt. Tagungsleiter Professor Paul Nolte von der FU Berlin.
"Ja, es war zunächst einmal ein unmittelbares Interesse an der Krise der Demokratie: Wo kommt das eigentlich her? Und wie bricht sich das eigentlich mit den Vorstellungen, die gerade auch in der Geschichtswissenschaft für die Bundesrepublik, für die deutsche Geschichte zumal seit 1989/90 wieder gepflegt worden sind: dass wir doch eine so erfolgreiche Demokratie sind; eine so stabile Demokratie?"
Es waren Fachgespräche im adäquaten Ambiente: Hoch über dem Tagungshaus das Hotel Petersberg - vor 70 Jahren Domizil der westlichen Siegermächte. Vor den Glaswänden des Konferenzsaals zog majestätisch der Fluss vorbei, mit dem man das Gemeinwesen lange assoziierte; und das Restaurant des Tagungshauses trug einen symbolischen Namen: Zur Bonner Republik. Die Wissenschaft fragt allerdings nicht mehr: Ist Bonn Weimar? Sondern: Woher rühren die heutigen Probleme? Die Co-Leiterin der Konferenz, Doktor Martina Steber vom Institut für Zeitgeschichte.
"Ich glaub‘, das was im Hintergrund der Frage liegt und ein Stück weit auch im Hintergrund dieser Tagung, ist, dass Demokratie uns in vielerlei Hinsicht zu selbstverständlich geworden ist. Also dass die Demokratie als Gut, das es zu schützen gilt, das es zu pflegen gilt und das es auch zu verteidigen gilt, vielleicht seit der Wiedervereinigung etwas in den Hintergrund gerückt ist. Und jetzt, durch diese Infragestellung der Demokratie, noch mal viel grundsätzlicher danach gefragt wird, was die Demokratie eigentlich ausmacht. Wie Bürgerinnen und Bürger Demokratie wahrnehmen."
Bürgerliches Elitenprojekt
Und wie sich das auf das politische Gefüge auswirkte. Die Brisanz dieser Frage skizzierte schon 1932 ein Vollblut-Politiker: der Sozialdemokrat Carl Severing:
"Demokratie und Parlamentarismus sind das, was die Wähler daraus machen. In Deutschland aber haben die Wähler in den letzten Jahren große Parteien ins Parlament geschickt, die die Demokratie verneinten - die Demokratie sabotierten. Und angesichts dieser Dinge darf man daran erinnern, dass selbst die beste Maschine nicht läuft, wenn Sand ins Räderwerk gestreut wird."
In der Weimarer Republik tat das vor allem die nationale Rechte. Paradoxerweise hatten Demokratie und nationales Denken im 19. Jahrhundert eng zusammengehangen. Doktor Hedwig Richter von der Universität Hamburg hat daraufhin das Wahlverhalten untersucht: Erst in der Nation hätten die Menschen sich im Landesmaßstab als Gruppe empfunden.
"Und dann, innerhalb dieser Nationen ergeben beispielsweise auch Wahlen einen ganz neuen Sinn - das kann man in den Quellen sehr gut sehen - in der ersten Jahrhunderthälfte ist in den meisten Ländern die Wahlbegeisterung sehr niedrig, die Menschen wissen gar nicht, warum sie eigentlich zur Wahl gehen sollen: 'Was soll das?' - und dann, mit '48 beispielsweise in Europa, wird dann ganz klar: Ah, es gibt jetzt diese Nation, und wir sind Deutsche, und es gibt dann zunächst ja diese Hoffnung: Die Völker werden Brüder sein, jetzt gibt’s keinen Krieg mehr!"
Schon beim Hambacher Fest 1832 hat es freilich auch das unfreundliche, das ausgrenzende Nationalbewusstsein gegeben. Dort auf dem Hambacher Schloss trafen sich die bürgerlichen Demokraten. Angehörige eines Standes, dessen Lebenssicht auch die bundesdeutsche Demokratie prägt. Die war lange Zeit ein bürgerliches Elitenprojekt, betonte Paul Nolte.
Angst damals und heute
"In der Tagung wurde auch eingebracht, ob nicht diese Bürgerlichkeit in diesem engeren Sinne auch eine Voraussetzung für Demokratie ist; eine bestimmte Bildung, bestimmte Ideale, Verhaltensideale, die auch dem Bürgertum eigen sind; vielleicht lassen sich auch manche Phänomene des Populismus in mancher Hinsicht auch als Verlust von Bürgerlichkeit beschreiben, obwohl der Populismus nach allem, was wir wissen, nicht ein Phänomen ungebildeter Unterschichten ist."
Man werde also überlegen müssen, welche Rolle die Mittelschicht für das Funktionieren einer Demokratie im 21. Jahrhundert spiele. In der Mittelschicht keimte schließlich oft eine große Gefahr: Angst. Angst vor materiellem Abstieg trieb einst viele Kleinbürger in die Arme der Nazis. So ging es auf der Konferenz auch darum, wie Menschen Unsicherheit überhaupt wahrnahmen – und welche politischen Kräfte das freisetzte.
Professor Eckart Conze, Universität Marburg: "Entscheidend ist, glaube ich, auch, und ganz spannend in einer demokratiebezogenen Sicherheitsforschung, zu überlegen: wie geht ein demokratisches System mit Wahrnehmungen von Unsicherheit, mit Ängsten, mit Bedrohungen um? Und das ist unter demokratischen Bedingungen ein offener Prozess. Was eine bestimmte Bevölkerungsgruppe als Bedrohung, als Gefahr wahrnimmt, ist umstritten."
So fürchteten sich im Mittelstand 1980 die einen vor dem Systemgegner im Osten, die anderen vor der Arbeitslosigkeit, wieder andere vor der Umweltzerstörung. Kaum jemand aber stellte aufgrund solcher Gefühle gleich die Bonner Demokratie in Frage. Weniger sicher schien man sich auf der Konferenz da mit Blick auf das heutige Deutschland und die Globalisierungsängste. Der Neoliberalismus, so Tagungsleiterin Martina Steber, habe das demokratische Versprechen durchlöchert, dass alle Menschen zur Gesellschaft dazugehören.
"Demokratie ist organisierte Unsicherheit"
Die Frage, bis zu welchem Grade ökonomischer Liberalismus da überhaupt demokratiekonform ist und wo man die Reißleine ziehen müsste, wurde allerdings nicht behandelt. Wenn Europa aber über die Ökonomie hinaus politisch zusammenwachsen wolle, so Paul Nolte, dann müsse man versuchen, die Idee von einheitlichem Staatsvolk, einheitlichem Staatsgebiet und einheitlicher Staatsgewalt - eine traditionelle geistige Basis der Demokratie - auf Europa zu übertragen. Dass man damit neue Ängste weckt, ist Nolte bewusst.
Aber: "Wir müssen eben auch neue Wege finden, Demokratie zu erklären - und zwar eine Demokratie, die vielfältig und auch widersprüchlich ist; das wurde ja auf dieser Tagung auch immer wieder deutlich, einerseits kann man sagen: Demokratie, das sind schon gewisse Essentials im Verfahren - und auf der anderen Seite ist Demokratie auch, ja, dieser Pudding, den man nicht an die Wand nageln kann."
Demokratie sei nun einmal organisierte Unsicherheit - so wurde in einer Debattenrunde formuliert. Paul Nolte kann diesem Wort einiges abgewinnen; für die politische Bildung freilich sei das eine harte Nuss:
"Das den Menschen zu erklären, die sagen: Ich fühl‘ mich nicht machtvoll genug, wo sind meine Repräsentanten, wo ist meine Stimme? Denen dann zu antworten: Tja, Demokratie ist organisierte Unsicherheit - das ist eben gar nicht so leicht, und da liegt ein großes Kommunikationsproblem, aus den komplizierten Fäden, die man auf einer wissenschaftlichen Tagung zieht, auch in die Öffentlichkeit hinein."
Wichtig: der Reifegrad
Zumal das 29. Rhöndorfer Gespräch noch kaum Antworten lieferte, sondern vor allem Forschungsdesiderate skizzierte. Wer weiterdachte, konnte aber zu dem Schluss kommen, dass der Krise der Demokratie letztlich nur mit rationalen Argumenten beizukommen sein wird: auf der Klaviatur der Gefühle spielt der Populismus besser. Demokratisches Denken zu lernen, sei freilich enorm schwierig, wurde eingeräumt.
Andererseits bringt die deutsche Gesellschaft heute - auch im Osten - eine bessere Vorbildung mit als 1949 – oder gar 1932, als Carl Severing bereits befand:
"Demokratie ist ja nichts weiter als die Technik der Staatsverwaltung, die den erwachten Völkern des 20. Jahrhunderts allein würdig ist. Ob ein Volk zur Demokratie berufen ist, hängt nicht von dem Längengrad ab, den es bewohnt, sondern von dem Reifegrad, den es erreicht hat!"
Konkret wurde der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Professor Wolfgang Huber bei seinem Abendvortrag: Angst sei notwendig - aber die narzisstischste aller Emotionen. Huber setzt hingegen auf den staatsbürgerlichen Gestaltungswillen.
"Denn vor allem aufgrund von Haltungen, geklärten Gefühlen und Erfahrungen können Menschen zu den Voraussetzungen gemeinsamen Lebens beitragen, die der demokratische Staat allein nicht garantieren kann. Nur wenn Menschen aus gelebter Hoffnung und gereifter Interdependenz von den Möglichkeiten der Freiheit einen verantwortlichen Gebrauch machen, hat der freiheitliche säkularisierte Staat eine gute Zukunft. Nötig sind dafür mündige Bürgerinnen und Bürger sowie Gemeinschaften, in denen sie Verantwortung lernen und Zutrauen zu den eigenen Kräften gewinnen können."