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Hochwasserschutz
Wie gut ist die Chemieindustrie gegen Naturgefahren gewappnet?

Der katastrophale Starkregen Mitte Juli hat Lücken im Hochwasserschutz aufgezeigt. Das wirft nicht nur an Ahr und Erft Fragen auf. Im dicht besiedelten Gebiet entlang des Rheins bei Köln gibt es einige Chemieanlagen. Anwohner fragen sich: Wie gut sind sie gegen Naturgefahren geschützt?

Von Dagmar Röhrlich | 26.11.2021
Shell-Raffinerie am Rhein bei Köln-Godorf
In besiedeltem Gebiet und ganz nah am Rhein: eins der Chemiewerke im Kölner Umland (picture alliance / imageBROKER / Creativ Studio Heinemann)
„Ja, wenn ich ein Gefühl sage, ist es mulmig.“ - Der Kölner Süden. Wer hier lebt, kennt die Schornsteine, die Tanks, die Raffinerielandschaften der chemischen Industrie – und ein ganz besonderes Schauspiel, wenn wieder einmal die Flammen der Hochfackeln 20, 30 Meter hoch in den Himmel schlagen. Dann wird Gas abgebrannt.
„Wir hoffen, es ist keine Störung, sondern eine geplante Reparatur, die wir dann an der Shell oder den anderen Chemie-Industrien sehen.“ Veit Otto wohnt im Kölner Süden. Nicht weit vom Rhein und den Anlagen entfernt. Er ist einer von mehr als 60 Millionen Menschen, die im Einzugsgebiet dieses europäischen „Chemieflusses“ leben. Von Basel in der Schweiz bis zum niederländischen Rhein-Maas-Delta stehen sie, die Betriebe von Roche und Novartis, Clariant, BASF, Bayer, Evonik, Shell, Akzo und und und – die Liste ist lang.

"Lokale, kleinere Kontaminationen" 2018

Und immer wieder hat es Unglücke gegeben. Das bislang verheerendste am 25. November 1986, als sich der Rhein nach einem Feuer bei Sandoz von Basel bis weit stromabwärts tiefrot färbte und über 400 Fluss-Kilometer hinweg Fische und Pflanzen starben. Doch jetzt erzählt Veit Otto von dem, was hier passiert ist, im Rheinland, in seiner Nachbarschaft: von einem unterirdischen Kerosinsee, von Explosionen und Bränden und den anderen Störfällen der vergangenen Jahre.
Vater Rhein brachte den Tod - das Sandoz-Unglück 1986
„Die aktuellen Gefährdungen waren über die Austräge bei dem Starkregen – war eine kurze Meldung in der Presse, aber dann nichts.“ Am 16. Juli, direkt nach dem Starkregen, der Flüsse wie die Ahr oder die Erft zu reißenden Strömen anschwellen ließ, zitierte die" Frankfurter Allgemeine Zeitung" einen Pressesprecher von Shell Deutschland: „Wir können nicht ausschließen, dass geringe Mengen Kohlenwasserstoff in den Rhein gelangt sind. Die Behörden sind informiert worden.“
Nein, ganz problemlos ließ sich der Jahrhundertregen nicht bewältigen, bestätigt Frank Beyer, der die Abteilung Umweltschutz in den „Shell Energy and Chemicals Parks“ in Godorf und Wesseling leitet. Beide Orte im Süden von Köln. Er holt zunächst weiter aus und erinnert an frühere Starkregen-Ereignisse wie das im Sommer 2018:
„Damals waren wir, ganz ehrlich gesagt, nicht wirklich darauf vorbereitet, und das hat also da auch zu Überflutungen von einzelnen Anlagen geführt. Es sind Baugruben vollgelaufen. Teilweise sind auch Kanäle übergetreten, so dass also auch lokale, kleinere Kontaminationen aufgetreten sind. Und wir haben natürlich aus dem damaligen Ereignis schon einiges gelernt und Maßnahmen umgesetzt.“
So wurde das Frühwarnsystem überarbeitet und diesmal rechtzeitig Platz geschaffen in Rückhaltebecken, ein Rohöltank wurde geleert, um Regenwasser hinein zu pumpen, alle nicht unbedingt notwendigen Brunnen abgestellt. Und derzeit werden weitere Lehren gezogen, erklärt Frank Beyer.
Denn offensichtlich reichen die Rückhaltekapazitäten am Standort noch nicht aus für das, was kommen kann: „Wir haben hier so eine Mentalität ‚Learning from Incidences‘: Also wenn Ereignisse sind, dann werden die immer sowohl intern als auch extern mit den Behörden aufgearbeitet. Man schaut, was kann man verbessern? Und das ist noch im Fluss.“

"Wir dachten, dass wir sehr gut vorbereitet sind"

„Sie wissen, dass der Ingenieur gerne auch ein paar Sicherheiten einbaut.“ - Deshalb sind im Chemiepark Knappsack, einem weiteren Unternehmen zwischen Köln und Bonn, die Kläranlagen auf Starkregenereignisse ausgelegt, wie sie statistisch alle zehn Jahre vorkommen. Behördlich gefordert seien hingegen nur fünf Jahre, erklärt Clemens Mittelviefhaus, Geschäftsleiter der Yncoris, dem Betreiber dieses wenige Kilometer vom Rhein entfernten Chemieparks. Außerdem habe man wenige Monate vor dem Sommerhochwasser auf dem Gelände zusätzliche Wehre errichtet für mehr Staukapazitäten.
Schließlich wurde eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um die Wassermassen eines Starkregens besser lenken zu können - auch das weit über das behördlich Verlangte hinaus. „Also insofern dachten wir, dass wir sehr gut vorbereitet sind.“
Der Chemiepark Knapsack in Hürth
Der Chemiepark Knapsack in Hürth (picture alliance / Rainer Hackenberg)
Ein Regen, so stark, dass er statistisch nur alle 150 Jahre auftritt, war für die zentrale Kläranlage dann doch etwas zu viel. Sie lief über und überschwemmte eine öffentliche Straße. Eine Pressemitteilung des Standortbetreibers Yncoris sollte beruhigen: Das Regenwasser habe die aus der Kläranlage ausgeschwemmten Abwässer verdünnt, so dass sie unbedenklich waren, hieß es.
„Da sind wir tatsächlich in der Nachbereitung der Ereignisse, sind da auch im Kontakt mit den Behörden, mit denen wir dann diskutieren, was hier gegebenenfalls eigentlich auch noch zu tun ist. Aber für alles kann man sich sicherlich nicht vorbereiten. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nirgendwo im Leben.“

Die Vorteile an einem großen Fluss

Alles in allem sind die Chemiebetriebe im Kölner Süden noch einigermaßen glimpflich durch den Jahrhundertregen gekommen. Sturzfluten wie an der Ahr gab es nicht, die seien am Rhein auch nicht zu erwarten, erklärt Marlene Willkomm. Sie ist stellvertretende Leiterin der Hochwasserschutzzentrale bei den Stadtentwässerungsbetrieben Köln:

„Wir haben ja den Vorteil an einem großen Fluss, wir haben Zeit. Während halt diese Starkregenereignisse, es kann überall kommen, und die kleinen Bäche, die schwellen halt sehr schnell an und sind auch sehr schnell wieder auf ihrem normalen Level.“
Für Rheinhochwasser sei entscheidend, was an den Nebenflüssen in seinem großen Einzugsgebiet passiere: „Das Wetter in Köln interessiert mich nicht. Wir gucken halt, was passiert in der Schweiz, am Oberrhein und halt Moseleinzugsgebiet, natürlich auch ein bisschen Main, Neckar, Lahn, also die größeren Zuflüsse.“

Hochwassergefahr am Rhein wächst

Dabei hat sich wie an anderen deutschen Flüssen auch am Rhein die Hochwassergefahr in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verstärkt: durch Flussbegradigung, kanalisierte Nebenflüsse oder den Verlust der einst weiten Überschwemmungsgebiete. Dieser Verlust ist durch neue Rückhalteräume, in die sich das Wasser notfalls ausbreiten kann, längst nicht wettgemacht worden. Allein für den Oberrhein hat sich das Risiko eines dramatischen Hochwassers von einmal alle 200 Jahre auf einmal alle 50 Jahren erhöht – die Effekte des Klimawandels sind in dieser Berechnung noch nicht einmal enthalten.
Doch selbst wenn die Hochwasserwellen vom Oberrhein heute schneller in Köln ankommen als früher, es bleibe Zeit zu reagieren, beruhigt Marlene Willkomm: „Bevor ein Hochwasser in Köln ist, sehe ich ja, dass in Karlsruhe der Rhein schon steigt. Das Wasser braucht dann zwei Tage, bis es zu uns kommt. Von Trier braucht es 38 Stunden. Also ich habe den ja immer im Blick, und dann weiß ich, es geht los. Dann fangen wir an, die Leute zu informieren, und alle haben sogenannte Hochwasser-Kochbücher. Also es ist ja alles geplant, und planmäßig werden dann die Maßnahmen durchgeführt.“
Das Kanalnetz muss dann abgesperrt werden, damit das Rheinwasser nicht hineindrückt, Trafos müssen geschützt, mobile Wände aufgebaut werden. Dann laufen auch die Vorbereitungen in den Chemieparks an. Zwar liegt nur ein Teil auf Kölner Gebiet, aber man sei im Austausch mit der Nachbarkommune Wesseling, kenne die Anlagen: „Wir haben uns also auch den Hochwasserschutz vor Ort angeguckt und auch erklären lassen. Also, die sind wirklich sehr gut geschützt. Die Evonik, die haben da auch wirklich einen 200-jährlichen Hochwasserschutz.“
Also einen Schutz gegen ein Hochwasser, das statistisch gesehen alle 200 Jahre vorkommt.
Überblick: Wie kann die Industrie ihren CO2-Ausstoß verringern?

Zusammenarbeit zwischen Firmen und Behörden

„Wir haben fest installierte Schutzwände in allen Bereichen, wo kein Durchgangsverkehr zugelassen werden muss. Das unterscheidet sich. Einmal sind das gerammte Spundwände...“, sagt Arndt Selbach, er leitet den Evonik-Standort in Wesseling.
„Es sind aber auch teilweise Betonwände, die dann von Doppel-T-Trägern in der Vertikalen gehalten werden. Das heißt, man baut diese T-Träger ein und schiebt von oben die Betonelemente ein. Die sind fest installiert. In den Bereichen, wo wir Durchgangsverkehr zulassen müssen, aufgrund von Lkw-Anlieferung, Eisenbahn-Zuführung oder so was, da haben wir mobile Schutzwände, die dann auf dem Werksgelände gelagert werden und dann auch installiert werden können.“
Das habe man 2019 geübt – und sechs Stunden gebraucht, um die Anlage von allen Seiten zu schützen, ergänzt seine Kollegin Stefanie Sohnemann, die das Behördenmanagement am Standort leitet und sich um Umweltschutzfragen kümmert: „Bei uns gibt es fünf Stufen. Und ab bestimmten Höhen ergreife ich entsprechende Maßnahmen. Das heißt, es werden Informationen weitergegeben an die einzelnen Betriebe, die dann einerseits schon sensibilisiert werden, dass entsprechend der Pegel steigt. Der Kölner Pegel ist bei uns der entscheidende Pegel, an dem wir uns orientieren.“
Der Krisenstab, der im Ernstfall einberufen wird, arbeitet mit der Bezirksregierung Köln zusammen, der Überwachungsbehörde. „Die wissen, welche Schritte wir initiieren und die kontaktieren wir dann auch. Und wenn ein Hochwasser sich anbahnt, kann es auch gut sein, das hat es auch in der Vergangenheit schon gegeben, dass die Behörde auf uns zukommt und fragt, ob wir schon Maßnahmen ergreifen. Also, das geht in beide Richtungen, dass sowohl die Bezirksregierung nachfragen kann oder wir aktiv auf die Überwachungsbehörde zugehen.“

Betriebliche Alarm- und Gefahrenabwehrpläne

Die gesetzliche Vorgabe ist: Alle Maßnahmen werden von den Chemieunternehmen in sogenannten „betrieblichen Alarm- und Gefahrenabwehrplänen“ beschrieben. Bei zuvor festgelegten Wasserständen müssen sie aktiviert werden, und das muss mit den Aufsichtsbehörden abgestimmt sein. In Köln ist das die Bezirksregierung.
Auch Shell verfügt über ein so geprüftes und abgestimmtes Konzept. Frank Beyer: „Da steht dann also auch drin, im schlimmsten Falle, wann wir welche Anlagenteile außer Betrieb zu nehmen haben. Da ist natürlich auch eine Art Priorisierung drin. Welche Anlagen sind komplett betroffen, also im schlimmsten Falle.“
Alle Notfallpläne müssten spätestens nach drei Jahren geprüft werden, um sicherzustellen, dass die geplanten und installierten Maßnahmen noch ausreichten, so die schriftliche Antwort der Bezirksregierung Köln auf eine Anfrage:
„Die Gefahrenanalysen identifizieren zunächst die Gefahrenquellen. Das heißt, es wird untersucht, wo es in der Anlage oder dem Betrieb zu Gefahren bei Starkwind, Hochwasser und so weiterkommen kann und wo die Anlage oder der Betrieb bereits gegen diese Gefahren eine Resilienz hat. Für die vulnerablen Stellen der Anlage oder des Betriebes wird dann im weiteren Verfahren festgelegt, wie diesen Gefahren zu begegnen ist. Ein Ergebnis dieses Prozesses ist, dass die Naturgefahren Gegenstand von entsprechenden Notfallplanungen sind. Jede Prüfung und jedes Vorgehen sind zu dokumentieren.“

"Auf dem Papier sieht immer alles sehr gut aus"

Auch regelmäßige Übungen sind vorgeschrieben. Doch wie sich die Pläne und das Zusammenspiel mit den Behörden im Ernstfall bewähren, ist offen - jedenfalls aus Sicht von Anwohnern, die sich im Kölner Stadtteil Rodenkirchen in einer Bürgerinitiative zusammengeschlossen haben:
„Soweit ich weiß, haben bisher keine Ereignisse stattgefunden, wo die Chemie hier im Kölner Süden direkt gefährdet gewesen ist. Wir warten also im Grunde immer noch darauf, dass der Rhein einmal ein Testhochwasser veranstaltet, also sagen wir mal 11 Meter Kölner Pegel oder auch 11,5 Meter Kölner Pegel. Dann haben wir hier in Rodenkirchen zwar schon Land unter. Aber die Chemie müsste noch geschützt sein. Das Problem ist, dass auf dem Papier ja alles immer sehr gut aussieht und dann in der Praxis sich erweist, ob es funktioniert oder nicht.“
Die Shell-Raffinerie verarbeitet jährlich mehr als 15 Millionen Tonnen Rohöl zu Heizöl, Benzin, Diesel oder auch Kerosin. Das Unternehmen LyondellBasell produziert Kunststoffgrieß und -granulate. Evonik Kieselgel, Grundstoffe und Zwischenprodukte für Plexiglas, Acryllacke für Farbstoffe, optische Aufheller oder Pestizide.
„Die Stadt Köln hat ja in ihrem Hochwasserschutzkonzept von 1996 dem Schutz der Umwelt vor der Chemie, so wird dort argumentiert, einen relativ hohen Stellenwert eingeräumt, allerdings gemessen an heutigen Erfordernissen nur sehr beschränkt. Um das überhaupt ein bisschen einschätzen zu können, was das bedeutet, muss man sich auch klar machen, dass am Niederrhein der Schutz im Bereich von Xanten/Kleve etwa bei einem statistisch 500-jährlichen Hochwasser liegt. Und wenn man in die Niederlande reingeht, am niederländischen Rhein, haben wir einen Schutz gegen 1250-jährliches Hochwasser.“

Klimawandel führt zu Neubewertung

Durch den Klimawandel werden auch Starkregen, Tornados und Hochwasser in Westeuropa häufiger und wohl auch stärker, so die Studien der Klimaforscher. Die Frage ist, ob die Schutzziele, die für Naturgefahren in den technischen Leitfäden zur Anlagensicherheit aufgeführt werden, nicht längst überholt sind.
Deshalb antwortet die Bezirksregierung Köln: „Nach der Flutkatastrophe vom Juli 2021 sind vielfältige Aktivitäten in Bund und Ländern zu verzeichnen, die vermehrt auch die Einflüsse des Klimawandels integrieren in eine Neuausrichtung der gesetzlichen Vorschriften zur Ermittlung des Gefahren- und Risikopotentials für Extremniederschläge und –abflüsse.“
Starkregen könnte explosiven Ausbruch ausgelöst haben
Derzeit sehen die Regelwerke vor, die Deiche wegen des Klimawandels bis 2050 zu erhöhen – im Mittel um bis zu einem Meter. Da lohnt der internationale Vergleich: In den Niederlanden, erklärt Jeroen Aerts von der Freien Universität Amsterdam, steht der Hochwasserschutz regelmäßig auf den Prüfstand, also nicht allein nach Hochwasserereignissen. Dafür ist die Delta-Kommission zuständig:
„Wie hoch wird der Meeresspiegel steigen? Wie viel Prozent Niederschlag bekommen wir zusätzlich? Alle fünf Jahre wird ein neuer Plan erstellt, in dem festgelegt wird, wie wir aufgrund der neuen Daten zur Klimaentwicklung in einem Gebiet die Deiche erhöhen und in einem anderen den Flüssen mehr Raum geben müssen.“
Doch was wäre eigentlich, wenn? Wenn das Wasser doch die Schutzanlagen durchbräche, könnte sich beispielsweise Treibgut in Rohrleitungen verfangen. Werden sie beschädigt und es kommt zu Leckagen, wird etwa Rohöl oder Benzin freigesetzt. Wasser und Umwelt würden verpestet. Doch auch solche Dammbruch-Szenarien stehen in den Notfallplänen: Wenn sie drohen, müssten beispielsweise sensible Bereiche vor Treibgut geschützt werden, so die Bezirksregierung, hier bleibt sie in ihrer Stellungnahme allerdings vorsichtig:
„Wenn die Anlagen geflutet werden, dann steht auf dem Prüfstand, was vorher theoretisch erarbeitet wurde. Man kann die Elemente des Notfallplans zwar üben und beispielsweise eine Hochwasserwand aufbauen, Zeiten ermitteln, die man zum Aufbau braucht und so weiter, aber vieles hängt sicher davon ab, ob es dann auch so kommt wie geplant und auch davon, wie gut im Vorfeld die Vorhersagen sind.“
Allerdings gehe man nicht davon aus, dass es zu einer „Betroffenheit außerhalb der Werke“ komme.

Restrisiko in der Nähe eines "gefährlichen Betriebs"

Dass schwere Folgen verhindert werden, dafür sollen die Seveso-Richtlinien sorgen, deren Einhaltung auch anderswo in Deutschland oft Bezirksregierungen überwachen: Sie wurden nach dem italienischen Ort Seveso benannt, in dem 1976 ein folgenschwerer Chemieunfall hochgiftiges Dioxin freisetzte. In die Richtlinien fließen die Erfahrungen vergangener Unglücke ein, wie der Sandoz-Unfall oder die Explosion einer Feuerwerksfabrik in Enschede. Das Problem:
„Da bin ich doch schon eher ein Freund von dem Gesetz, dass ein gewisser Herr Murphy mal in die Welt gesetzt hat, nämlich dass das, was schiefgehen kann, auch schief geht. Auf der anderen Seite setzen wir dem entgegen ein unglaublich komplexes Regelwerk an Vorschriften und Bestimmungen, die bei der Errichtung z.B. eines Chemiewerks eingehalten werden müssen, in der falschen Hoffnung, dass diese Vorschriften in ihrer Summe uns sichern werden. Niemand denkt ernsthaft daran, dass diese Vorschriften ja auf keinen Fall geeignet sind, zukünftige Unglücke vorauszusehen. Und deshalb muss man sich darüber im Klaren sein: Wer in die Nähe eines gefährlichen Betriebes zieht, muss damit rechnen, dass etwas Unerwartetes geschieht.“
Das sei ihr durchaus bewusst, erklärt Claudia Hein, die anderthalb Kilometer von dem Chemiepark entfernt lebt. Aber: „Wir - genauso wie die anderen Anwohner - verdrängen in erster Linie den Gedanken an das, was Worst-Case passieren könnte.“

"Null Vertrauen, dass sie das im Griff haben"

Dass es null Risiko nicht gibt, das macht Vertrauen in die Kompetenz der Anlagenbetreiber umso wichtiger, überall in Deutschland. Doch im Kölner Süden gibt es da ein Problem zwischen chemischer Industrie und Anwohnern: „Wenn jetzt wirklich mal etwas Schlimmes passieren würde, ein starkes Hochwasser, was ja auch zu erwarten ist, in Zukunft mehr als bisher, also null Vertrauen darin, dass sie das im Griff haben. Das glaube ich nicht, weil: Sie haben ja jetzt den Bestand noch nicht mal im Griff. So wirkt das auf mich.“
Über Jahre hinweg fehlte Offenheit. Thomas Kahlix zählt eine Reihe von Ereignissen, Unfällen, Pannen auf, die in der Vergangenheit zu Irritationen und Ärger bei den Anwohnern geführt haben. Und er versucht, konstruktiv in die Zukunft zu blicken: „Wir können ja nicht so tun, als sei die chemische Industrie unser Feind, sie ist ja Teil unserer Gesellschaft. Wir profitieren alle widerspruchslos davon, indem wir die Produkte täglich kaufen oder benutzen, um damit von A nach B zu gelangen. Und dann kann man ja nicht sich auf den Standpunkt stellen, die sollen weg und vielleicht beim Nachbarn produzieren.“
Thomas Kahlix hat bis heute bei Nachbarschaftstreffen mit Vertretern der chemischen Betriebe das Gefühl, es gehe nur um Beruhigung, obwohl das aus seiner Sicht einfach falsch ist: „Dieses Hochwasser, das den Schutz hier übersteigt und das die Chemie gefährdet, das wird kommen. Wir wissen nur nicht, wann.“