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Holocaust
Violinen jüdischer Besitzer als lebendiges Mahnmal

Denkmäler müssen nicht aus Stein sein. Der jüdischer Geigenbauer Amnon Weinstein aus Tel Aviv präsentiert Geigen, deren Besitzer im Holocaust umgekommen sind - junge Musiker spielen sie, nach vielen Stationen auch erstmalig in Deutschland.

Von Christian Wagner | 27.01.2015
    Geigenbauer Amnon Weinstein mit einer von ihm restaurierten Violine bei der Ausstellung "Violins of Hope" in Monaco.
    Geigenbauer Amnon Weinstein mit einer von ihm restaurierten Violine bei der Ausstellung "Violins of Hope" in Monaco. (picture alliance / dpa / Cyril Dodergny)
    Amnon Weinstein hat nicht viel geschlafen. Sein Gesicht ist grau, das kann sein dichter Bart nicht verdecken. Nur seine Augen sind hellwach und vergnügt wie immer. Morgens um sechs ist das Flugzeug in Israel gestartet. Das Ziel: Frankfurt/Main, Deutschland.
    Amnon Weinstein ist Geigenbauer. Insgesamt acht Geigen hat er eingepackt in zwei große schwarze Kästen. Einen hat er getragen, einen seine Frau Assi, die ihn begleitet. Und ausnahmsweise haben diese übergroßen Geigenkästen einen Platz im Handgepäckfach über den beiden bekommen. Alles hat wie geplant geklappt, trotzdem ist Amnon mulmig wie vor einer Schulprüfung.
    Zu mehr als 22 Konzerten auf der ganzen Welt hat er seine Geigen schon mitgebracht. Aber Deutschland, sagt Amnon im Flugzeug, das ist etwas ganz etwas anderes:
    "Meine Geigen nach Deutschland zu bringen, ist das Schwierigste überhaupt. Wir waren schon in London, Paris und Rom, mehrmals in den USA. Das ist mir nicht schwer gefallen, auch weil es dort immer eine große jüdische Gemeinde gab. Aber in Deutschland weiß ich nicht, wer da im Publikum sitzen wird. Werden das vor allem Deutsche sein oder Juden? Ich habe keine Ahnung."
    Alte Geigen, deren Geschichte mit dem Holocaust verbunden ist
    Amnon Weinstein restauriert Geigen, alte Geigen aus Europa, deren Geschichte mit dem Holocaust verbunden ist, mit dem Mord an Millionen europäischer Juden. Seine Werkstatt in Tel Aviv liegt ganz in der Nähe vom Rabin-Platz im Stadtzentrum. Hier repariert der Geigenbauer Instrumente und er fertigt neue. Seine Kunden sind Weltklasse-Geiger genauso wie Anfänger im Grundschulalter. So war es schon bei Amnons Vater Moshe. Der hatte damit begonnen, deutsche Geigen bei sich aufzunehmen.
    "Erst 1945, nach Kriegsende, erfuhren die Menschen in Israel vom Ausmaß der Judenvernichtung in Europa. Ab diesem Zeitpunkt haben die Leute alles Deutsche gemieden, von Autos bis zu Geigen. Sie haben die Geigen zerstört oder aber sie haben sie zu meinem Vater gebracht und gesagt: Wenn du sie nicht kaufst, dann schlage ich sie klein. Das hat mein Vater nicht ertragen, also hat er jedes angebotene Instrument gekauft - mit der sicheren Aussicht, dass er die Geigen in den nächsten 50 Jahren nicht wird verkaufen können."
    Amnon Weinstein hat eine grüne Arbeitsschürze umgebunden und holt sich die Lampe näher ran. Dann öffnet er mit einem scharfen Messer die Decke einer Geige. Monatelang wird er das das Instrument überarbeiten, kaputte oder zu schwache Teile ersetzen.
    Nebendran, auf dem Tisch, liegt eine andere Geige, die schon fertig restauriert ist. Sie trägt gleich fünf eingearbeitete Davidsterne. Das Instrument war in der Familie des Besitzers sicher auch ein Schmuckobjekt, das an der Wand hing, wenn die Geige nicht gespielt wurde. Amnon Weinstein weiß, dass die Geige von Klezmer-Musikern bei Festen und Hochzeiten gespielt wurde, während der Nazi-Verfolgung auch in einem Getto in Moldawien.
    Bei seiner Suche nach Geigen, die eine Geschichte aus dem Holocaust erzählen können, ist Amnon Weinstein auf viele Instrumente gestoßen, die keinen eindeutigen Hinweis auf ihren jüdischen Besitzer tragen, also keinen Davidsstern. Doch auch deren Geschichte kann der Geigenbauer oft erzählen. Manches weiß er vom Besitzer oder dessen Nachkommen. Soweit möglich sammelt er auch Dokumente oder alte Fotografien, auf denen die Geigen mit ihren Besitzern gut zu erkennen sind.
    Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte
    Die Judenvernichtung, die Geschichten der traumatisierten Überlebenden, die zu seinen Eltern nach Tel Aviv kamen, das alles hat den 75-Jährigen nie losgelassen:
    "In meiner Kindheit hatte ich keinen Großvater und keine Großmutter, keine Verwandtschaft, niemanden. Immer, wenn ich meine Mutter gefragt habe: Wo sind sie alle? Ich will einen Großvater haben, oder so etwas, dann hat sie immer ein Buch über Vilnius hervorgeholt und hat mir den Wald von Ponar gezeigt, in dem sie die Juden umgebracht haben. Und dann hat sie gesagt: Hier ist deine Familie. Und dann hat sie geweint. In Ponar haben sie etwa 80.000 Menschen umgebracht."
    Ponar oder Ponary ist heute ein Vorort der litauischen Hauptstadt Vilnius. Das Buch, das seine Mutter ihm gezeigt hat, beschreibt das Massaker dort. Und das Leben im jüdischen Getto von Vilnius. Dem waren seine Eltern durch die Emigration ins damalige Palästina entkommen. Amnon Weinstein wurde schon in Tel Aviv geboren. Mit seinen Geigen bewältigt er auch einen Teil seiner eigenen Familiengeschichte, in der so viel Schweigen herrschte.
    Die Geigen der Ermordeten und Überlebenden stehen aber nicht nur bei ihm im Schrank - sie werden auch immer wieder gespielt. Zum Beispiel von Elina Gurevic. Die Israelin ist eine gefragte Solistin, war schon Konzertmeisterin des Israel Chamber Orchestra. Den Geigenbauer Weinstein kennt sie seit ihrer frühen Kindheit. Sie ist tief berührt von dem, was er tut.
    "Es ist eine unglaubliche Erfahrung. Ein solches Instrument in Händen zu halten und es in einer wunderschönen Synagoge zu spielen, vor großem Publikum. Und das letzte Mal, dass die Geige gespielt wurde, das war in einem Konzentrationslager oder in einem Getto, auf jeden Fall unter furchtbaren Bedingungen. Dieser Hintergrund macht diese Konzerte so besonders."
    Elina Gurevic hat den Geigenbauer auch auf seiner ersten Konzertreise nach Deutschland zur Erinnerung an die Reichspogromnacht begleitet. Nach fünf Stunden Flug und zwei Stunden Autofahrt kommen Amnon Weinstein und seine Geigen auf Schloss Engers an. Dort, in der Nähe von Koblenz am Rhein, proben seit drei Tagen Max Simon und Lukas Stepp, beide Mitte 20 und Studenten an der Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin.
    Frankfurt/Main: Musikstudenten spielen die Geigen
    Hier im breiten Gang vor den Proberäumen treffen sie den Geigenbauer aus Tel Aviv zum ersten Mal. Der alte Holzboden knarzt und quietscht unter jedem Schritt. Andere Studenten proben nebenan. Amnon Weinstein legt seine Geigenkästen auf einen großen Tisch, öffnet sie und nimmt eine nach der anderen in die Hand, erzählt den jungen Musikern deren Geschichten.
    "Ihr müsst ausprobieren, welche Geige euch am ehesten liegt. Also, das hier ist eine der Geigen mit einer besonders tragischen Geschichte. Vielleicht habt ihr ja von dem Konzentrationslager Drancy in Frankreich gehört? Nein, noch nie? In Drancy waren 67.000 Juden interniert. Einer von ihnen hatte diese Geige, wir kennen seinen Namen nicht. Aber alle Gefangenen in Drancy wurden mit dem Zug nach Auschwitz deportiert. Bei einem Stopp hat der Geigenbesitzer aus dem Waggon gerufen: Bitte, fangen Sie die Geige auf. Wo ich hingehe, brauche ich sie nicht mehr. Aber die Geige soll überleben. Dann hat er das Instrument in seinem Kasten aus dem Zug geworfen. Die Geige ging dabei kaputt. Aber sie wurde aufbewahrt, kam nach Jahrzehnten zu mir nach Israel. Und heute kann man sie sogar wieder für Konzerte verwenden."
    Geiger Max: "Ja, es ist natürlich bewegend. Man spielt, und man denkt daran, dass da jemand mal so sehr gelitten hat und vielleicht auch seine letzten Minuten mit dem Instrument verbracht hat. Das ist nichts, was man so einfach vergisst. Man denkt einfach darüber nach. Und es ist etwas Besonderes, auf jeden Fall."
    Der Holocaust, die Judenvernichtung, sei für ihn weit weg, sagt Max Simon. Unbedarft geht er an das Thema heran. Und trotzdem hat er gerne zugesagt für dieses Projekt im Rahmen seines Stipendien-Programms.
    "Die Hände eines jungen Musikers, das ist der wichtigste Teil an der ganzen Geschichte. Die junge Generation liegt mir am Herzen. Wir Alten sind fertig; wir wissen über alles Bescheid, und wir gehen bald. Wenn einer wie Max eine solche Geige in die Hand nimmt und auf ihr spielt, gerne auf ihr spielt - besser geht's doch nicht. Das ist das Ziel meiner Arbeit."
    Weinstein ist Handwerker, er hat in den 60er-Jahren bei den weltberühmten Geigenbauern von Cremona in Italien und in Paris gelernt. Die Geschichten seiner außergewöhnlichen Geigensammlung erzählt er erst, seit ein junger Praktikant aus Dresden in seiner Werkstatt gearbeitet hat. Der angehende Bogenmacher aus Deutschland habe nichts vom Holocaust gewusst, nichts. Und auf dessen Bitte ist Amnon Weinstein dann zum ersten Mal nach Dresden gereist, hat bei einem Treffen von Bogenmachern von seinen Geigen erzählt.
    "Durch Musik ist es einfacher, den Holocaust zu verstehen. Denn für Musik ist man viel empfänglicher als für Worte. Wenn ich vor Publikum einen Vortrag über den Holocaust halte, dann ist der Saal nach einer halben Stunde schon wieder leer. Aber wenn du die Musik hörst und etwas über den Zusammenhang mit der Judenverfolgung weißt, dann erreicht dich das alles viel eher. Die Möglichkeit, zu verstehen, ist eher da."
    Amnon Weinstein hat all das schon oft erklärt in den vergangenen sechs Jahren, seit einige seiner Geigen zum ersten Mal in Jerusalem gespielt wurden. Jetzt, unmittelbar vor dem ersten Konzert in einer kleinen, restaurierten Synagoge in Ahrweiler, fürchtet er, die Botschaft könnte hier unverstanden bleiben, es könnte doch falsch gewesen sein nach Deutschland zu kommen.
    "Die Deutschen nehmen das hin, sie setzen sich damit auseinander. Auch mit der Kristallnacht, in der sie versucht haben, die ganze jüdische Religion mit ihrer Kultur zu verbrennen. Und heute kommen wir hierher und sagen: Wir haben überlebt!"
    Nicht-Vergessen als Lebensthema
    Amnon Weinstein trägt all das nicht allein. Assi, seine Frau hat ihm immer wieder Vorträge geschrieben, sie ist Journalistin. Sie hat Amnon auf vielen seiner Reisen begleitet. Die Geschichte der Judenvernichtung in Europa, das Nicht-Vergessen ist auch ihr Lebensthema. Aber ihr Mann, findet sie, gehe zu weit.
    "Ich glaube, er ist besessen. Und ich glaube, es hat überhandgenommen. Denn er zahlt einen hohen Preis für sein Engagement. Es spielt emotional eine große Rolle und auch für unsere wirtschaftlichen Verhältnisse. Amnon richtet lieber seine Geigen her, als für unser Einkommen zu sorgen. In dieses Projekt stecken wir immer nur Geld, wir verdienen nichts damit. Einmal, als er eine Geige für 10.000 Dollar kaufen wollte, habe ich gesagt: Hör mal, wo soll das Geld dafür herkommen?"
    Die Geige hat Amnon dann tatsächlich gekauft, sagt Assi. Das erste Konzert, die Synagoge in Ahrweiler. Draußen ist es schon dunkel, als die acht Musiker ankommen und ihre Instrumente auspacken, sie stimmen und die Stücke anspielen. Die Synagoge hat einen recht kleinen, rechteckigen Innenraum. Pastellfarbene Ornamente an den Wänden, über dem Eingang hinten eine Empore, vorne die Nische für die Torah-Rolle. Eine jüdische Gemeinde gibt es hier nicht, aber sollte eine entstehen, sie könnte die Synagoge gleich wieder nutzen.
    Die ersten Zuhörer nehmen Platz. Es sind - wie so oft - nur die Älteren, die zum Klassik-Konzert kommen, nicht die Jungen. Das muss nicht so sein, meint Amnon Weinstein: In Rom etwa hatten die Veranstalter sich für ein ähnliches Konzert um ein besonders junges Publikum bemüht, und das mit Erfolg.
    Auf einem Konzert-Flügel vorne stellt er jetzt die Geigen auf, die nicht gespielt werden, bald drängen sich die Besucher neugierig und betrachten die verzierten Instrumente, Amnon Weinstein beantwortet erste Fragen. Er erzählt, dass er eigentlich nie in die Synagoge geht, der Glaube ist ihm nicht wichtig. Und jetzt steht er hier, mit seinen Geigen in einer wiederaufgebauten Synagoge in Deutschland, 76 Jahre nach dem Ereignis, das meist als Pogromnacht bezeichnet wird, weil Kristallnacht als zu beschönigend galt.
    "Ich habe Kindheitserinnerungen daran, dass immer neue Einwanderer aus Deutschland zu meinem Vater nach Tel Aviv kamen. Sie haben Hebräisch miteinander gesprochen oder Jiddisch und Deutsch. Egal in welcher Sprache, sie haben es immer Kristallnacht genannt. Das Geräusch der zersplitternden Glasscheiben hätten sie immer noch im Ohr, haben die Leute gesagt. Dabei ist das Geräusch bei uns doch mit Freude verbunden, wenn bei der Hochzeit ein Glas zerbrochen wird. Aber diese Glassplitter waren furchtbar."
    Das Konzert beginnt, auf dem Spielplan ein Duo des tschechischen Komponisten Gideon Klein. Der Student Lukas Stepp spielt die Violine:
    "Also das Stück ist halt zum einen, glaube ich, sehr geprägt durch diese traurige Stimmung, durch das harte Leben in der Verfolgung, in der die Juden damals gelebt haben. Also, ich glaube, es wurde '41 geschrieben. Und zum anderen ist es aber auch geprägt von Erinnerungen von Gideon Klein selbst aus seiner Kindheit. Und man kann auch jüdische Volkslieder heraushören."
    Jüdische Musik auf Instrumenten verfolgter Juden
    Es bricht ab, im zweiten Satz, unvollendet. Gideon Klein hatte es im Alter von 26 Jahren geschrieben, er konnte es nicht vollenden, weil er deportiert wurde. Eine halbe Ewigkeit verharrt das Publikum in Stille, lässt den Bruch auf sich wirken, erst dann beginnt es zu klatschen.
    Jüdische Musik auf Instrumenten verfolgter Juden, gespielt in einer Synagoge in Deutschland. Das alles könnte zu schwer und zu gewaltig wirken. Aber Amnon Weinstein, der Geigenbauer aus Tel Aviv, sieht sich bestätigt.
    "Ich muss sagen, ich dachte, es würde alles sehr viel schwieriger sein. Aber jetzt bin ich beruhigt. Wenn ich sehe, wie alles abläuft und wie sie spielen, dann habe ich die richtige Entscheidung getroffen, es kommt an. Ich bin erleichtert. Und eines ist bemerkenswert: Oft ist es so, dass die Leute meine Geigen anfassen wollen. Hier hat niemand auch nur eine der Geigen angefasst."
    Erinnern und Gedenken, die Erfahrung des Holocausts an die junge Generation weitergeben, dafür gibt es in Deutschland Denkmäler, Mahnwachen und Gedenkstätten an den Orten der Vernichtungslager. Elina Gurevic und die jungen Musiker spielen auf Amnon Weinsteins "Geigen der Hoffnung" gegen das Vergessen an:
    "Das ist ein künstlerischer Weg, ein individueller, warmherziger und nicht anklagender Weg zu einem lebendigen, sprechenden Denkmal. Ein Denkmal für diejenigen, die nicht mehr sprechen konnten. Getragen von jungen Musikern, talentiert und aufgeschlossen. Sie sind bereit, hier ein Instrument zu spielen, mit dem sie gar nicht vertraut sind. Für mich ist es eine Ehre, hier dabei zu sein."
    Amnon Weinstein: "Alle diese Geigen sind ein Denkmal für sechs Millionen Menschen, die heute nicht mehr sprechen können. Diese Geigen sprechen für sie. Die Stimme der Geigen ist die Stimme der Menschen, die wir nicht mehr sehen konnten."
    Das Konzert endet mit Mendelssohns Oktett, an dem die Musiker bei den Proben so lange gefeilt haben. Sie nehmen die Lebensfreude aus der Musik auf, sie schauen sich während des Spielens immer wieder an, die Stimmung überträgt sich auf das Publikum.
    Denkmäler müssen nicht aus Stein sein. Und sie können, sie dürfen sogar begeistern. Amnon Weinstein, der Handwerker, macht Erinnerung mit seinen Geigen begreifbar. Und die Musik macht die Erinnerung für ein Publikum erlebbar.