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"Ich wurde zur kämpferischen Anwältin der Frauen - auch in der Kirche"

Frauen in der CDU ernst zu nehmen, sei einer ihrer vielen Tabubrüche als Politikerin gewesen, sagt Rita Süssmuth. Die frühere Familienministerin redet im Zeitzeugengespräch über die Chance des Scheiterns sowie ihre Konfliktlinien mit Altkanzler Helmut Kohl und Angela Merkels Politik für Frauen.

Rita Süssmuth im Gespräch mit Birgit Wentzien |
    "Der Philosoph Jürgen Habermas soll einmal auf die Frage, was denn von den Umbrüchen der 68er geblieben sei, geantwortet haben: Rita Süssmuth! Tatsächlich bezeichnete sich die Professorin der Erziehungswissenschaften und politische Quereinsteigerin als Frauenrechtlerin und war folglich auch mit der Charakterisierung als katholische Feministin einverstanden. Rita Süssmuth galt vielen in ihrer Partei, der CDU Helmut Kohls, als rotes Tuch - und konnte dennoch viel bewegen. Ein Jahrzehnt lang galt sie als die beliebteste Politikerin in Deutschland. Ihre politische Biografie ist eindrucksvoll:

    1937 in Wuppertal geboren, holte sie Helmut Kohl 1985 als Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit ins Bundeskabinett. Von 1986 bis 1988 wurde sie als Ministerin noch politisch aufgewertet, indem ihr das neu geschaffene Frauenressort zugeschlagen wurde. Von 1988 bis 1998 war Rita Süssmuth Präsidentin des Deutschen Bundestages. Im Jahr 2000 wurde sie als Vorsitzende in die Unabhängige Kommission Zuwanderung berufen, wo sie erneut als couragierte Politikerin von sich reden machte. Für ihr großes Engagement im Kampf gegen Aids wurde Rita Süssmuth mit dem Reminders Day Award ausgezeichnet. Rita Süssmuth ist mit dem Universitätsprofessor Hans Süssmuth verheiratet und hat eine Tochter.
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    Rita Süssmuth: Bin auch nicht der Typ nach dem Motto "Ich kam, ich sah, ich siegte", sondern das musste hart erarbeitet werden.

    "Christliche Prägung und die Chancen des Scheiterns."

    Birgit Wentzien: Gibt es Zufälle in Ihrem Leben, Frau Professor Süssmuth? Überlegen Sie mal!

    Süssmuth: Meine erste Aussage ist: Ich glaube nicht an Zufälle. Trotzdem gibt sie es im Leben und sie erscheinen jemandem im ersten Augenblick und man sagt, was ist das für ein Zufall! Aber hinterher denkt man: War es eigentlich ein Zufall? Oder ist aus dem Zufall eine Langzeitgeschichte entstanden?

    Wentzien: Ich würde mal sagen, es gibt den biografischen Zufall Politik in Ihrem Leben!

    Süssmuth: Ja, allerdings ... Politik, politisches Interesse war schon vor dem Zufallsmoment!

    Wentzien: Aber wenn man sich anschaut: Sie studieren Romanistik und Germanistik in Münster, Tübingen und Paris, Sie machen das erste Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien, Sie sind Dozentin an der Pädagogischen Hochschule, Professorin in Bochum. Also, immer auf diesem Terrain zugange, und irgendwann klopft dann dieser Zufall Politik an die Tür und Sie werden Mitglied der CDU, Anfang der 80er-Jahre.

    Süssmuth: Ja, 1981.

    Wentzien: Wer hat da diesen Zufall, sagen wir mal, befördert?

    Süssmuth: Das waren Frauen. Denn ich bin ja in keinem Ortsverein zunächst angekommen, sondern mein Weg in die aktive Politik führte über Einladungen zu Vorträgen zu Frauenfragen, die ich eigentlich insbesondere seit der ersten Dozentur in mein Programm genommen hatte. Das war nicht in der Studienzeit. Und die sagten mir dann - das waren Frauen der CDU -, Sie sind jetzt schon so häufig bei uns gewesen, Sie könnten eigentlich doch auch Mitglied werden! Ach, dachte ich, du hast zwar immer gesagt, Wissenschaft und Parteipolitik, das verträgt sich nicht, erlebte aber inzwischen bei meinen Kollegen, dass sich offenbar Wissenschaft und SPD-Parteipolitik durchaus vertrug. Und habe dann schließlich gesagt, ich will meine geistige Unabhängigkeit behalten, aber ich trete bei. Das war eigentlich der Zufall, ein Solidaritätsakt. Jetzt werden Sie sagen, ja, und warum gerade CDU? Da muss ich Ihnen sagen, das hatte - wie man so neudeutsch sagt - mit meiner Sozialisation zu tun. Ich war in einer christlichen Familie aufgewachsen und da gehörte eigentlich ein bestimmtes Verständnis auch von öffentlichem Leben mit christlichem Geist dazu. Das kam sehr stark von meinen Eltern. Mein Vater war bei Guardini Assistent gewesen ...

    Wentzien: Romano Guardini.

    Süssmuth: Romano Guardini, "Bildung und Begegnung", später "Frankfurter Hefte", Walter Dirks. Das gehörte in meine Familie. Sodass das einerseits diese christliche Tradition war, damals noch bei mir sehr unemanzipatorisch, und zum anderen war es christliche Soziallehre. Das heißt nicht, dass ich nicht zu bestimmten Positionen auch der Sozialdemokraten Nähe verspürte, aber ich glaube, es war damals - und dann kamen die 70er-Jahre hinzu - diese beiden Elemente: Aufgewachsen in einer Familie, in der das eine große Rolle spielte, und die christliche Soziallehre, diese beiden Faktoren haben das damals entschieden. Und ich war sehr bestimmt ... Das war die Zeit, als Biedenkopf über die kleinen Einheiten schrieb: Wer ist eigentlich beschützt und umsorgt, das sind die großen Einheiten; die kleinen Einheiten haben es schwer, die nicht Organisierten, wer nicht in einer Gewerkschaft ist, wer nicht in einem großen Betrieb ist. Und das hat mich schon damals sehr beeinflusst in der Frage, wo gehe ich hin.

    Wentzien: Aber gerade was die Emanzipation anbelangt, hätte es ja durchaus auch ein anderer politischer Verein sein können. Denn emanzipatorisch - was ja nachher bei Ihnen dazukam als wichtiges inhaltliches Element - war ja die CDU damals nicht unbedingt.

    Süssmuth: Nein, aber da konnte ich am meisten bewirken! Das war mir damals wohl klar. Nehmen Sie ... Die Frauenpolitik war in der SPD, ich sage jetzt nicht besser oder schlechter, aber sie waren weiter. Und viel gelernt habe ich bei den Grünen, gerade wenn es um Frauenfragen ging. Sodass ich gedacht habe, bei der CDU ist noch viel zu bewirken!

    Wentzien: Auf der Strecke haben Sie mal Samuel Beckett zitiert mit seinem Wort: Scheitern, weitermachen, noch mal scheitern, besser scheitern, weitermachen. Das heißt, dieses Lebensmotto war zu dem Zeitpunkt auch ein erfolgreiches, weil, da war viel weiterzumachen und zu öffnen und zu erreichen?

    Süssmuth: Das ist aber umso stärker entstanden, als ich auch selbst scheiterte. Also, das ist nicht mein Lebensmotto vom 16., 18. Lebensjahr an gewesen, sondern es ist entstanden in der Hauptzeit meines Scheiterns und eines, auch meines Davongejagt-werden-sollens. Denn ab 1991 war es so, dass ich nicht den Eindruck hatte, ich habe nur Glück gehabt. Bin auch nicht der Typ nach dem Motto "Ich kam, ich sah, ich siegte", sondern das musste hart erarbeitet werden. Und ich muss sagen, ich habe im Scheitern viel gelernt. Deswegen ist auch meine Botschaft an junge Menschen, überhaupt an Menschen: Denkt nicht, wenn ihr scheitert, das ist Versagen für immer, sondern im Scheitern wächst auch ein Neuanfang! In dem Augenblick, wo Sie nicht ans Ziel gekommen sind, gilt es zu fragen, wie komme ich denn morgen ans Ziel, mit welchen neuen Mitteln? Sehen Sie, wir haben auch in der Politik, nehmen Sie die Gesetzgebung, Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe, 25 Jahre gebraucht. Unglaublich! Sogar unverantwortlich! Aber dass wir es wieder aufgenommen haben, auch interfraktionell, obwohl es schon so lange gescheitert war, hat sich gelohnt. Und wir haben es auch nicht als Parlamentarierinnen geschafft, wir brauchten einen geistlichen Würdenträger, der unseren Hauptopponenten, unseren Kritikern und Gegnern klarmachte, es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet Christen Vergewaltigung außerhalb der Ehe strafen und in der Ehe sie für nicht strafbar halten!

    "Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen"-Gespräch. Heute mit Rita Süssmuth, ehemalige Bundestagspräsidentin."

    Süssmuth: Denn für mich ist es viel weniger eine Krise des Glaubens als eine Krise der Kirche.

    " Rita Süssmuth, die katholische Feministin im Umgang mit Religion, Kirche und Tabus."

    Wentzien: Wenn ich Sie jetzt als - im Werdegang - katholische Feministin bezeichnen würde, würden Sie nicken oder würden Sie den Kopf schütteln oder was würden Sie mir entgegnen?

    Süssmuth: Ich würde nicken. Wobei, das Schwierige für die CDU war ... Als sie merkten, die bezeichnet sich selbst als Feministin, die Rita Süssmuth, da wurde es gefährlich! Sie wollten zwar ein neues Frauenbild, aber ja nicht die Fortsetzung von Feministinnen! Und deswegen möchte ich noch mal definieren: Ja, ich wurde zur kämpferischen Anwältin der Frauen, und das auch in der Kirche.

    Wentzien: Apropos Kirche, in diesen Tagen: Wie wichtig ist diese Kraft, die Sie daraus ziehen und generieren, Ihr katholischer Glaube für Sie?

    Süssmuth: Glaube ist für mich eine wichtige Kraft, ganz wichtige. Deswegen glaube ich auch nicht an Zufälle.

    Wentzien: Über die Maßen hinaus, wenn Sie die Entwicklung der katholischen Kirche jetzt anschauen: Wir haben bewegte Tage in Rom, wir haben dort einen Menschen, der, ja, in Betrachtung des Amtes, das er hatte, selber sich zurückgenommen hat und darauf verzichtet hat, wir haben eine Krise von Kirchen und von Religion, so wie wir auch viel Herausforderung von Politik durch Religion erleben. Wird dieser Schritt des Papstes, der sich in diesen Tagen ja verabschiedet, der Kirche Kraft zuführen an einer Ecke, wo sie gar nicht mehr damit gerechnet hat?

    Süssmuth: Also, ich habe nicht mit diesem Schritt des Amtsverzichts gerechnet. Nach 700 Jahren ein aufsehenerregender Schritt, der auch konservative Christen völlig durcheinanderbringt. Das ist eigentlich der frühere Ratzinger, der ja durchaus ein sehr Fragender und auch Suchender war. Wenn Sie mich jetzt fragen, will er damit etwas bewegen nach vorn: Die Frage kann ich noch nicht beantworten. Denn wir wissen nicht, wer der nächste Papst wird. Wenn Sie noch mal daran erinnern oder ich daran erinnere, dass Johannes XXIII., mein Lieblingspapst, eigentlich keine Aussichten hatte auf wirkliche Durchsetzung des zweiten Vatikanischen Konzils, was ja auch nicht den Frauen gewidmet war, aber wo er doch auch in seiner Hauptschrift die Frauen als die Zukunft bezeichnet hat. Und zum inneren Kern der Kirche gehörig, dann weiß ich nicht jetzt, ob die Kurienkardinäle das Sagen haben oder welcher gute Geist sich durchsetzen wird. Denn für mich ist es viel weniger eine Krise des Glaubens als eine Krise der Kirche. Und es ist ja nicht die erste Krise. Ich bin davon überzeugt: Da viele Menschen - mehr Menschen, als wir bisher angenommen haben in unserer säkularisierten westlichen Welt - doch fragen, gibt es da was Transzendentes, etwas, was über uns ist, was in unserem Leben eine Rolle spielt, ist die Suche nach dem Gott oder dem Göttlichen, nach Transzendenz überhaupt nicht verschwunden. Aber ich glaube, sie ist weit weniger an die Institution Kirche gebunden. Zufügen muss ich aber: Sie brauchen - das erfahren wir als Menschen, anthropologisch gesprochen -, keiner kann es allein. Und eigentlich ist Kirche ja Communio, Gemeinschaft. Und diese Gemeinschaft muss sich von unten neu aufbauen.

    Wentzien: Wenn sie Widerspruch zulässt! Wenn Sie gestatten, ich als Protestantin darf Sie das fragen: Die katholische Kirche ist ja nun eine Kirche, die, sagen wir mal, Widerspruch beobachtet, in einem widersprüchlichen, demokratischen, immer sich streitenden, ständig scheiternden System lebt, aber intern betrachtet vollkommen widerspruchslos ist.

    Süssmuth: Ich muss Ihnen sagen, das ist ungefähr wie keine Demokratie, kein Widerspruch. Und das kann nicht sein. Deswegen ist es ganz wichtig, wie Hans Küng gesagt hat: Was wir nicht brauchen können, sind weitere Dogmen!

    Wentzien: Wo wird sich da was bewegen? Oder erwarten wir schon wieder nach diesem Denkerpapst, Benedikt XVI., einen Lenker und zu viel vielleicht?

    Süssmuth: Ein pragmatisch ... Ja, ich persönlich denke, dass sich viel bereits bewegt unter Christen und auch Nichtchristen und die Frage ist, ob wir das bemerken, ob wir die Menschen dabei mitnehmen und Aussage und Gegenaussage zulassen. Wie gehen wir mit Kritik um? Wie gehen wir mit Fragen um? Und deswegen ist meine Hoffnung, dass nach diesem Schritt Benedikt XVI. doch auch zugelassen wird, dass Kirche sich erneuern kann. Von unten, habe ich eben gesagt, aber auch von oben. Und dazu gehört ein anderer Umgang auch mit der evangelischen Kirche.

    Wentzien: Wie wäre es denn mit dem Zufall katholische Kirche, Frau Süssmuth? Sie sind ja jetzt 76, Sie könnten sich doch jetzt diese Institution vornehmen! CDU haben Sie schon renoviert!

    Süssmuth: Also, auf diese etwas spöttische Frage sage ich: Keiner sollte sich übernehmen! Aber meinen Teil möchte ich schon dazu beitragen. Das habe ich auch früher, ich war Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Ich habe zu Alleinerziehenden, zu nicht ehelichen Partnerschaften damals in den 1970er-Jahren Stellung genommen und bin auf sehr viel Widerspruch gestoßen bei den Kirchenoberen, nicht bei den Betroffenen. Und ich denke, dieser Einsatz muss weitergehen. Mein Thema sind heute die Ausgegrenzten, die Verlierer. Und da bin ich mitten, denke ich, in unserem "Neuen Testament", in Teilen auch im "Alten", und da möchte ich weiterwirken. Es gibt Berufenere als mich, diesen Platz zu nehmen, aber die Themen, die ich gerade genannt habe, gehören mitten hinein in das Leben Jesu und das, was er uns als Menschen an Angeboten in Freiheit und Liebe gemacht hat.

    Wentzien: Wen würden Sie mit diesem Appell ansprechen wollen in der katholischen Kirche, und vor allen Dingen, von wem würden Sie erwarten, dass er das nicht nur hört, sondern auch versteht, was Sie gerade gesagt haben?

    Süssmuth: Also, es gibt sehr viele Priester, die genau so denken. Ich habe sehr viel Unterstützung in ganz kritischen Phasen gehabt. Ich nenne sie: Bei Aids, wo die einen sagten, das sind die Sündigen, die Schmuddelkinder, trennt euch von ihnen, schickt sie weg, grenzt sie aus, schickt sie auf eine Insel, damit sie uns nicht "vergiften" können! Und da kann ich nur sagen, wie im Gleichnis: Es war kein Jude, der als Erster zu Hilfe sprang, als Jesus am Boden lag, sondern ein Samariter. Kümmert euch um den Menschen, kümmert euch um den Nächsten. Und ich möchte Ihnen auch sagen, dass die christlichen Dienste, Diakonie in der evangelischen, die Caritas in der katholischen, die arbeiten ja enger zusammen, da kann man ja nichts verbieten. Auch wenn man möchte, kann man nicht. Und da erleben Menschen, uns wird dort geholfen! Das erleben auch Flüchtlinge. Ich habe auch einen ganz wesentlichen Teil im Asylrecht, dass diejenigen, die im Krieg vergewaltigt worden sind, als Asylberechtigte anerkannt werden, nicht mit uns Parlamentariern durchgesetzt, sondern mit den beiden Kirchen.

    Wentzien: Die außerparlamentarische Opposition haben wir jetzt gerade betrachtet, und wir haben uns, Frau Süssmuth, darauf verständigt, dass Sie eine katholische Feministin sind und nicht großartig bei diesem Titel widersprechen.

    Süssmuth: Aber ich habe in auch nicht täglich auf den Lippen!

    Wentzien: Das ist in Ordnung, das mache ich jetzt einfach mal für Sie, bitte.

    Süssmuth: Ja.

    Wentzien: Und ich würde jetzt behaupten - Sie dürfen aber bitte, und Sie müssen widersprechen -, dass Sie der CDU so etwas wie Feminismus beigebracht haben. Einverstanden?

    Süssmuth: Ja.

    Wentzien: Und jetzt kommen wir auf die Tabus, wir haben sie vorhin schon kurz angesprochen, alle Tabus im Überblick, und Sie ergänzen bitte, die Sie versucht haben zu stemmen - ich würde nicht sagen: zu brechen. Die Frauenquote, die Strafe für Vergewaltigung in der Ehe, Milde für Drogensüchtige, Kampf gegen Ausgrenzung und Meldepflicht bei Aids, dann die Aufklärung und Beratung beim Abtreibungsparagrafen 218, und als Sie in die Zuwanderungskommission berufen wurden, an die Spitze derselben, und zwar von Gerhard Schröder, seines Zeichens SPD und damals Chef der SPD/Grünen-Bundesregierung, war die Schelte derer, die sagten, wie kann sie nur, mindestens so groß wie die Schelte derer, die sagten, was macht sie denn da nur? Und inzwischen berufen sich weiterhin Kommissionen auf die Ergebnisse Ihrer Kommission aus dem Jahr 2001.

    Wenn Sie diese ganze Breite der Tabus mal anschauen, wo war es für Sie schon so, dass es auch an die eigene Substanz ging, und zwar aufgrund der Kritik in der Sache und aufgrund der Kritik an Ihrer Person?

    Süssmuth: Vielleicht füge ich dem, was Sie aufgezählt haben, ein ganz wichtiges Tabu hinzu, was gar nicht bewusst war: dass in meiner Partei Frauen endlich ernst genommen wurden! Und dass ernst nehmen heißt, dass ihnen nicht weniger Kompetenzen zugesprochen wurden als den Männern. Zum Beispiel ihre Urteils- und Entscheidungsfähigkeit, die am meisten bestritten worden ist - über Jahrzehnte und Jahrhunderte sowieso -, aber wo ich es erlebt habe, in der ganz schwierigen Frage des Schutzes ungeborenen Lebens. Das ist mir so nahe gegangen, dass die Aussage - die letzte Entscheidung muss bei der Frau liegen - war dann froh, als Kardinal - damals noch nicht Kardinal - Lehmann, Bischof Lehmann sagte, wir können das Kind nicht retten gegen die Mutter, beisprang. Und muss Ihnen sagen: Als dann das Urteil kam, diese Mörderin, auch von einem Bischof, damals von Fulda, da war es bei mir so weit, dass ich dachte: Kannst du dich gar nicht verständlich machen oder wollen die anderen sich nicht verändern?

    Man muss ja immer aufpassen, dass man nicht arrogant wird und sagt, ich habe recht, der andere hat unrecht. Das habe ich bei Sokrates gelernt, frage immer, ob der andere nicht auch recht haben kann. Aber das ist mir dermaßen nahe gegangen, die Mörderin Süssmuth. Jetzt hätte ich ja sagen können, du spinnst! Aber das hat tiefes Nachdenken ausgelöst. Natürlich war es auch bei der Übernahme der Migrationskommission so, dass man überlegt, verrate ich jetzt die Partei? Das war argumentativ leichter, da konnte ich wirklich sagen, das ist eine Frage, die das Land in höchstem Maße angeht, nicht weniger als die Frauen. Und da zählt das Zusammenrücken aller Demokraten, um hier Lösungen zu finden, die besser sind als die bisherigen. Also, ich muss sagen: Da ist sehr viel Schmach auch über mich ergangen. Ich sollte aus der Partei austreten, ich werde nicht aus der Kirche austreten und auch nicht aus der Partei, denn solange wie man drin ist, kann man mehr bewirken, als wenn man draußen ist. Und kann nur sagen:

    Ich habe es nie bereut, dass ich diese Kommission übernommen habe! Da gab es auch lange Zeiten, ja, Jahre, wo ich dachte, wir sind gescheitert. Das Gesetz, ein neues Gesetz wanderte nicht glatt durch den Bundesrat, ging trotz Unterschrift des damaligen Bundespräsidenten Rau, der sich auch für Migranten sehr engagierte, zum Bundesverfassungsgericht, es kam zurück als nicht verfahrensordentlich, und es schien so, als würden wir kein Migrationsgesetz bekommen! In allerletzter Minute hat es dann einen Kompromiss gegeben und da muss ich wirklich sagen: Was dazu geführt hat, dass 2005 dann Angela Merkel sagte, so können wir nicht weitermachen, kann ich nicht genau beantworten. Aber wir haben die Richtung gewechselt. Wir haben heute noch viel zu bearbeiten, aber es gibt, hat eine neue Richtung eingeschlagen. Und ich werde alles daransetzen, mit allen, die mitmachen, wir werden ein friedliches und gelingendes Zusammenleben erkämpfen!

    " Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen"-Gespräch. Heute mit der ehemaligen Bundespräsidentin Rita Süssmuth."

    Süssmuth: Das Problem in der CDU war, ja, es sollte was geändert werden, aber mit Blick auf die Partei so, dass die Partei nicht Anstoß nahm!

    " Rita Süssmuth. Der erfolgreiche Zwang zur Veränderung. Beziehungen zu Helmut Kohl und Angela Merkel."

    Wentzien: Wenn Sie sagen, dass eine wichtige Kraft für Sie auch war, der Kampf oder die Eroberung, von den Männern ernst genommen zu werden als Frau, wenn Sie 1981 in die Partei eingetreten sind: Ab wann, würden Sie sagen, haben Sie auf der anderen Seite, nämlich bei den Männern, gespürt, dass Sie jetzt als Frau ernst genommen werden? Oder seit wann?

    Süssmuth: Nicht allgemein bei den Männern. Aber ich muss sagen: Die Entdeckung war die Vorbereitung auf den Essener Frauenparteitag. Ich war ja nie in Parteigremien gewesen und wurde eingeladen, da mitzumachen. Und da habe ich einen Heiner Geißler erlebt, den ich vorher oft nicht verstanden habe in seinen wadenbeißerischen Äußerungen - nachdenklich, tief empfindsam für das, was in Frauen vorgeht, warum wir was ändern müssen, das ist er ja bis heute, und zwar nicht nur für die Frauen in Deutschland, sondern weltweit -, und kam abends nach Hause und sagte zu meinem Mann: Ich habe einen völlig anderen Heiner Geißler erlebt, der die Frauen ernst nimmt und begriffen hat, dass was geändert werden muss!

    Das Problem in der CDU war, ja, es sollte was geändert werden, aber mit Blick auf die Partei so, dass die Partei nicht Anstoß nahm! Und wenn Sie das verhindern wollen, dann können Sie wenig verändern. Sie müssen dann auch Dinge aussprechen - da sind wir noch mal bei den Tabus - und verändern wollen, die nicht einfach sind. Weil das mit Macht, neuer Machtverteilung verbunden ist.

    Wentzien: Unter dieser Überschrift betrachtet: Helmut Kohl, war er jetzt ein Förderer von Rita Süssmuth oder ein Forderer, Herausforderer? Ganz zum Schluss und von heute aus betrachtet! Zwischendurch hat er Sie - sehr bewusst, denke ich - auch an die Spitze von vielen Institutionen gesetzt, weil Sie ihm nutzten!

    Süssmuth: Die Frage kann ich nicht genau beantworten. Ich habe ihn immer als beides erlebt. Als jemand, der durchaus wusste, wo Lücken waren, wo etwas nachzuholen war. Also, er hat mit seinen Generalsekretären dann, Biedenkopf, Geißler, verglichen, sich geöffnet für das, was in der CDU dazugelernt werden musste. Ich bin ja erst mit in diese Riege gekommen, da war schon viel auf den Weg gebracht. Das ist ja in Rheinland-Pfalz entwickelt worden. Also, wenn man ihm das abspricht, wird man ihm wirklich nicht gerecht.

    Wentzien: Er war der junge, reformerische Helmut Kohl, ...

    Süssmuth: Ja.

    Wentzien: ... der aus Rheinland-Pfalz nach Bonn kam und viel vor hatte.

    Süssmuth: Ja.

    Wentzien: Und daraus wurde ein Machtmensch, von dem Sie, Frau Süssmuth - ich habe noch mal nachgeguckt! - in Ihrem Buch etwas später geschrieben haben, Zitat: 'Kohl setzte auf Machtkonzentration, hielt nichts von geteilter Macht und Kohl verlangte unbedingte, zuverlässige und loyale Unterstützung.'

    Süssmuth: Ja.

    Wentzien: Das haben Sie doch nicht immer so analysierend und kühl betrachtend gesehen, irgendwann haben Sie doch auch mal einen dicken Hals gehabt über diesen Machtmenschen, der Sie an einer Stelle hatte, nämlich als Frauenministerin, und woanders hingesetzt meinte zu müssen?

    Süssmuth: Ja, da machen Sie es sich zu einfach.

    Wentzien: Gut, helfen Sie mir!

    Süssmuth: Ich habe an dem Satz, den Sie eben zitiert haben, auch heute nichts abzuändern. Denn die Auseinandersetzungen, die ich mit Helmut Kohl hatte, waren manchmal gar nicht inhaltliche, sondern verfahrensmäßige. Wenn ich die Oder-Neiße-Grenze anerkannte, dann gab es einen Riesenknall in der Vorstellung, die macht da was, was meiner Partei schadet und einen Machtverlust bedeutet, die Vertriebenen machen nicht mit!

    Wentzien: Aber er hat doch nachher dann die Anerkennung selber artikuliert.

    Süssmuth: Drei Wochen später! Also, ich habe das zum Weihnachtsinterview gemacht, 1989, und er hat am 19. Januar - entschuldigen Sie, solche Dinge prägen sich ein -, hörte er: Vater Bush im Offenen Park in Washington sagen: 'This border is a definite one' - diese Grenze ist eine endgültige. Und daraufhin fuhr er zu Mitterrand und musste dasselbe noch mal bestätigen. Aber jetzt kann man lange fragen, wollte er das selbst machen und da durfte niemand sein, der das vor ihm sagte? Das weiß ich nicht, kann auch sein.

    Aber ich glaube, er sah in mir immer die unerfahrene Politikerin, die vom Kopf her sagte, was richtig ist. Denn wir hatten in der Frage, wie weit muss die Rechte in der Partei bedient werden, unsere Unterschiede. Mir war wichtig, mit der Rechten zu streiten, aber wir eher Linken - auch was Falsches, also, wir waren nicht die Linken, aber andersdenkend -, die kriegten es aufs Haupt!

    Wentzien: Irgendwann gipfelte das in Bremen, auf dem Parteitag, in einer Revolte, die dann aber keine war ...

    Süssmuth: Ja.

    Wentzien: Lothar Späth, Heiner Geißler, Rita Süssmuth sind aufgestanden, Helmut Kohl ...

    Süssmuth: Die Gruppe war noch größer, aber …

    Wentzien: Die Gruppe war größer, genau. Sie haben versucht, Widerspruch zu artikulieren, das wurde aber von dem Machtmenschen an der Spitze der Partei, der inzwischen für diese drei Buchstaben stand - also, Kohl war CDU und die CDU war damals Kohl -, kassiert.

    20 Jahre später kam Angela Merkel, schrieb einen Brief in der "FAZ" und beendete, was Sie damals begonnen haben. Ist Angela Merkel so betrachtet Ihre Erbin?

    Süssmuth: Das würde sie wahrscheinlich weit von sich weisen, aber ich denke, das, was wir - und ich sage bewusst wir, keiner kann es allein - vorbereitet haben, musste erst mal vorbereitet werden, damit sich so etwas wie Fraueneinfluss, und ich nenne das auch Frauenmacht, einbringen konnte. Das ist ihr ebenfalls sehr verübelt worden und hier waren die Umstände andere als bei uns, denn es ging um Spenden. Bei uns ging es damals darum, das muss ich hier nur mal sagen:

    Die CDU hatte miserable Umfragewerte Ostern 1989, und es ging um die Frage, mit welchen Möglichkeiten können wir die Wahl - wir hatten noch keine deutsche Offenheit und Einheit -, können wir die Wahl vielleicht doch noch gewinnen: Ist in der Personalfrage eine Aufteilung zwischen Kanzler und Parteivorsitzendem möglich? Das war für Helmut Kohl unmöglich, heute wird es ja viel gemacht, aber Sie haben es eben zitiert, unmöglich. Und umgekehrt muss man sagen: Wenn so was geplant ist, muss man schnell mit dem Bundeskanzler sprechen und auch jemanden haben, den man vorschlagen kann. Da lag, heute gesprochen, Dilettantismus, das war nicht professionell so, dass jemand anders schon Wasserträger war. Das ist immer schlecht.

    Wentzien: Wenn ...

    Süssmuth: Dennoch muss ich sagen: So was muss möglich sein, dass eine Gruppe überlegt, wie kommen wir da raus? Der Kontakt mit ihm hätte früher aufgenommen werden müssen, aber da kann man auch sagen, es wäre so oder so gescheitert, aus dem Rückblick. Nur, mir ist noch mal wichtig zu sagen: Das ist legitim. Es geht nicht um Illoyalität, im Grunde genommen konnten wir ja durchaus noch einmal bekräftigen. Es ging darum, auch mit ihm die Wahl noch mal zu gewinnen. Aber dazu mussten neue Akzente gesetzt werden.

    Wentzien: Aber Merkel konnte mit dem Glück des richtigen Momentes wirkmächtig in einer schwierigen Zeit etwas vollziehen - darin stimmen Sie zu, Frau Süssmuth -, was Sie damals vorbereitet und versucht haben?

    Süssmuth: Ja.

    Wentzien: Und wenn Sie jetzt die Partei seither betrachten, mit der Parteichefin Merkel an der Spitze: So großartig hat sich an dem Charakteristikum, dass eine Partei einen Parteichef, eine Parteichefin trägt, wenn sie Erfolg hat, wenn sie Macht sichert, ja eigentlich seither nicht geändert. Sondern ausgetauscht wurden an der Spitze die Figuren.

    Ist das ein Gesetz der großen Organisationen, das Merkel da nutzt und nützt oder auch gebraucht, oder steckt da mehr dahinter? Weil die SPD, glaube ich, als Parteikörper damit anders umgeht, was ihre Führung anbelangt.

    Süssmuth: Ja. Trotzdem denke ich, dass sie - mit einer ganz anderen Sozialisation, das dürfen wir nie vergessen, das weiß sie auch - in unser System hineingekommen ist und da erst mal kräftig die alten Strukturen gelernt hat - dass ich Macht brauche - und wahrscheinlich auch wahrscheinlich auch von Kohl gelernt hat.

    Kohl war mit seiner Partei so eng verbunden, er hat viel Zeit damit gebracht, der kannte sich im Norden, Süden, Westen aus, und später auch im Osten, das war seine Machtzentrale. Ergänzen möchte ich allerdings, dass in ihrer Zeit im Sinne der, was haben wir zu modernisieren, eine Menge passiert ist. Ob Sie an die Familienpolitik denken, auch mit ihren Schwachstellen der ungelösten Probleme der Frauen heute, aber das ist eine Modernisierung gewesen, die andere schon 20, 30 Jahre früher vorgenommen hatten. Auch mit Verwerfungen, die wir heute haben, und Verunsicherung der Menschen.

    Sie hat - nehmen Sie das Jahr 2011 - den langjährigen Schulkrieg in einem Stück erst mal beendet, sie ist von der Dreigliedrigkeit zur Ermöglichung der Zweigliedrigkeit nach sächsischem Vorbild gekommen. Das sind alles Dinge, die sich jetzt vollzogen haben, sodass man nicht sagen kann, sie hat die Macht nur für sich genommen, sondern um Veränderungen herbeizuführen. Nehmen Sie selbst den Bereich - das hätte ich in den 1980er-Jahren nicht mal gewagt - als Vorschlag einzubringen -, dass Homosexuelle und Lesben in unserer Partei eine Arbeitsgruppe haben, von CDU-Leuten, uns Frauen und Männern. Das sind Veränderungen, die sehr weitreichend sind und, wenn Sie das Verfassungsurteil sehen: Auf dem Weg liegen, der vor Kurzem noch im Parteitag, etwa in der Gleichbehandlung, steuerlichen Gleichbehandlung der Homosexuellen noch mal wieder abgelehnt worden ist.

    Sie ist Probleme angegangen, die lange Zeit völlig tabuisiert waren. Ich weiß, welche Probleme ich gehabt habe mit meinem Umgang mit Homosexuellen bei der Aidserkrankung! Also, es wurde mit Argusaugen darauf geachtet, wird sie jetzt eine positive Einstellung zu Homosexuellen haben? Aber da muss ich Ihnen sagen: Was ich da damals gelernt habe - es sind Menschen wie du und ich, anders in ihrer Sexualität -, das hat eine lange Geschichte in der CDU gehabt. Sodass die Frage, wie sind die Machtstrukturen, das ist das eine. Wofür sind sie genutzt worden und benutzt worden, ist das andere.

    "Heute im "Zeitzeugen"-Gespräch des Deutschlandfunks: Rita Süssmuth, ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestags."

    Süssmuth: Wir haben heute eine gesetzliche Situation für die Kinderbetreuung, die wir vorher nie gehabt haben.

    " Die Frauenquote und verwandte Themen sowie der Zwang zum Kompromiss in der Politik."

    Wentzien: Also, Angela Merkel und Rita Süssmuth haben im Kampf, oder sagen wir mal in der Auseinandersetzung mit Tabus auch ungeheure Erfolge und Niederlagen, jedenfalls sichtbare Prozesse angestoßen und für sich selber dann auch daraus Kraft ziehen können?

    Süssmuth: Sehen Sie, Angela Merkel hat in der 218-Frage konservativer gestimmt, als ich, sie war nicht für die letzte Entscheidung der Frau. Sie war damals auch nicht für die Quote, hat aber dann später mal gesagt, ich habe hier selbst gelernt, dass Quoten notwendig sind.

    Wentzien: Das war der 20. Geburtstag, wenn man so will, des Bundesfrauenministeriums. Sie waren geladen, wir haben und hatten damals eine Große Koalition im Land, es war die Kanzlerin da und alle Ministerinnen aus der SPD und aus der CDU/CSU und Sie haben, glaube ich, sie noch mal ganz kräftig, die Kanzlerin, damals gelobt für ihre Arbeit, und daraufhin kam dann die Replik, das, was Sie schon immer wussten, nämlich, dass eine Frauenquote eine Krücke, aber eine notwendige ist, habe sie erst lernen müssen, weil Frauen auch Netzwerke und Unterstützungen und Support brauchen.

    Nur ist es so weit, Frau Süssmuth, dass manche jetzt schon schreiben, aufgrund dieser wirkmächtigen Frau an der Spitze der CDU, aufgrund der Weiterentwicklung der Politik der CDU braucht die CDU jetzt bald eine Männerquote. Das Ende des schwarzen Mannes ist gekommen. Ist es so weit?

    Süssmuth: Nein! Im Gegenteil, ich muss sagen, wir haben immer noch als Frauen daran zu arbeiten, dass die Quote überhaupt eingehalten wird. Und es ist ja an sich lächerlich, dass wir mit diesem Anteil, um diesen Anteil streiten müssen! Das Normale wäre ja, wir setzen uns paritätisch zusammen. Nein, da sind wir noch immer bei der Dominanz der Männer! Deswegen ist es in der Tat so, aber das ist weltweit so: Im Augenblick sind die Frauen wirklich, gehen sie in Führung, zeigen, was sie leisten können und leisten. Und das ist bedrängend.

    Wentzien: Würden Sie sagen - es gibt viele Kritiker, die das beobachten, und zwar unabhängig vom Geschlecht -, die Union, CDU/CSU machten jetzt durch Frauen Politik, aber sie machten keine Politik für Frauen? Das ist ein zentraler Vorwurf auch an die Adresse der Kanzlerin beispielsweise.

    Süssmuth: Das stimmt so nicht. Also, ich beginne mal mit dem, was für Frauen, auch mit ihren Ministerinnen, durchgesetzt worden ist: Als ich selbst für eine frühkindliche Entwicklungsförderung, familienergänzend eingetreten bin, war das sozialistische Erziehung! Selbst Tagesmütter waren damals umstritten, heute sind sie hoch anerkannt. Und insofern ist das, was wir mit der Jugendhilfe damals auf den Weg gebracht haben und dann, als ich Ministerin war, hatten wir noch kein Anrecht auf einen Kindergartenplatz, das haben uns Gott sei Dank die Frauen aus Ostdeutschland ermöglicht und mit durchsetzen geholfen.

    Muss man sagen: Wir haben heute eine gesetzliche Situation für die Kinderbetreuung, die wir vorher nie gehabt haben. Das ist in der Zeit Angela Merkels passiert. Das Zweite ist, dass die Frauen natürlich selbst ganz entscheidend durch Bildung und Ausbildung sich einen Platz in der Gesellschaft, im Berufsbereich erobert haben. Es ist unbestritten, dass sie auch für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Menge vorangebracht hat. Was ich nicht verstanden habe, ist - da muss der Widerstand offenbar vom Koalitionspartner und der Wirtschaft zu groß gewesen sein, warum sie die Quote in Führungspositionen abgelehnt hat. Also, sie selbst hat ja den Weg in die Quote genommen.

    Wentzien: Haben Sie sie mal gefragt?

    Süssmuth: Sie hat gesagt, ich habe es jetzt nicht durchsetzen können.

    Wentzien: Die Widerstände waren zu groß.

    Süssmuth: Ja. Oder der Bruch. Für mich ist das Betreuungsgeld ein Bruch. Ich sehe die ungelösten Probleme in der Frauenfrage, insbesondere was die soziale Sicherung betrifft, die Alterssicherung. Das ist die Hauptfrage, die Altersarmut. Aber wir müssen auch sehen, was sie bewirkt hat in diesem Bereich. Und da ist das Betreuungsgeld die falsche Maßnahme!

    Wentzien: Auch das haben Sie Angela Merkel gesagt, eine Maßnahme, wo Sie sich einig waren mit der früheren Bundesfamilienministerin Renate Schmidt von der SPD ...

    Süssmuth: Aber auch mit Ursula Lehr ...

    Wentzien: ... genau, eine Maßnahme, die alles, was bislang passiert ist, konterkariert. Ist das der Preis von Politik, den man zahlen muss auf der Strecke möglicherweise?

    Süssmuth: So wird sie es interpretieren. Ich muss Ihnen aber sagen: Diesmal ist ihr etwas passiert. Das Betreuungsgeld ist ja von der Mehrheit der Bevölkerung, aber auch Frauen und Männern, abgelehnt worden. Und wir sagen immer, wir verlieren in den Städten. In den Städten ging es um Betreuung, die zum Teil fehlt. Wir haben ja viele Städte, auch Berlin hat ja noch nicht die Betreuungsplätze, die gebraucht werden ab 01. August 2013.

    Ich persönlich möchte hierzu noch einmal sagen: Ja, sie hat loyal zum Koalitionsbeschluss gestanden, aber einen Politik, die Probleme lösen will ... Also, ich hätte gehofft, dass man sagt, ja, der Koalitionsbeschluss ist der, den wir gefasst haben, aber wir haben gelernt, dieser Weg ist nicht der richtige, wir suchen nach einem besseren! Und deswegen ist es nicht zwangsläufig. In der Politik, ja, gibt es die Kompromisse, die ich als faule Kompromisse bezeichne, die kommen immer wieder vor. Aber es ist nicht zwingend, dass wir laufend solche Kompromisse eingehen müssen!

    Wentzien: Ich danke der katholischen Feministin, der Frau, der auch unter anderem die Aufgabe zuteilwurde, der CDU Feminismus beizubringen. Und ich möchte enden mit einem Mann - wir haben viel über Frauen gesprochen -, liebe Frau Süssmuth, nämlich mit Peter Glotz, dem SPD-Politiker: Der hat einmal gesagt, Sie hätten eine schwer bekämpfbare, stille Ernsthaftigkeit und Sie seien manchmal ätzend konsequent! Ich danke für die laute Konsequenz in diesem Gespräch!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.