Freitag, 19. April 2024

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"In diesen Säcken schlummern noch sehr viele wichtige Unterlagen"

Die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, ist sicher, dass in den mehr als 16.000 Säcken mit zerrissenen Stasi-Unterlagen noch viele wichtige Informationen stecken. Die manuelle Rekonstruktion der Akten habe bislang viel zutage gefördert. Diese Arbeit müsse erst einmal weitergehen, auch wenn am heutigen Tag die maschinelle Rekonstruktion von Akten aus Schnipseln beginne. Von der automatischen Wiederherstellung seien ohnehin erst in einem Jahr Ergebnisse zu erwarten.

Moderation: Klaus Remme | 09.05.2007
    Klaus Remme: Frau Birthler, waren Sie mit dabei, als Bürgerrechtler im Januar 1990 das Werk der Zerstörung sahen?

    Marianne Birthler: Die Zerstörungsmaßnahmen waren ja damals Anlass dafür, dass die Stasi-Dienststellen nach und nach besetzt wurden im Winter, Dezember/Januar 89/90. Das war ja, wenn Sie so wollen, der Auslöser dafür, dass die Akten dann geöffnet wurden und dass es jetzt diese Behörde gibt, dass die Menschen sahen die Stasi beginnt damit, Akten zu vernichten, und dagegen müssen wir etwas tun.

    Remme: Haben Sie eigentlich, wenn man sich das Ausmaß der Zerstörung anschaut, an die Rekonstruktion der Unterlagen jemals geglaubt?

    Birthler: Die Rekonstruktion an sich ist ja nichts Neues. Wir machen das seit zehn Jahren und haben schon große Aktenmengen auf diese Weise in Handarbeit rekonstruiert, den Inhalt von 320 Säcken. Das ist nicht wenig. Es geht natürlich sehr langsam, wenn man das von Hand macht. Aber die Erfahrungen, die wir dabei gemacht haben, die sind es ja eben, die uns dazu veranlassen zu sagen, wir müssen das Tempo erhöhen. In diesen Säcken schlummern noch sehr viele wichtige Unterlagen. Wir wissen das nicht nur aus eigener Erfahrung, sondern auch, weil wir die Befehle der Staatssicherheit kennen noch aus dem November 1989, wo deutliche Prioritäten gesetzt wurden, was vernichtet werden soll.

    Remme: Welche Indizien gibt es, was man vom Inhalt der Säcke erwarten darf?

    Birthler: Ich fange mal mit diesem Befehl vom 22. November 1989 an. Da wurde gesagt, vorrangig sollen vernichtet werden IM-Akten, Akten zur Bearbeitung innerer Feinde, wie es hieß, zur Arbeit im Operationsgebiet - das ist der Westen - und Akten, in denen es um die Dialogpartner unserer Partei, Volksvertreter, Funktionäre von Staatsorganen, Parteien, Organisationen und so weiter geht. Und die Erfahrung, die wir mit der manuellen Rekonstruktion gemacht haben, ist auch so, dass der Anteil von solchen Akten in diesen Säcken gemessen am Gesamtbestand relativ hoch ist. Dann kommt noch eine Besonderheit hinzu: Wir finden in diesen Säcken natürlich besonders viele Vorgänge aus der allerletzten Zeit der DDR, weil in der Panik, in der die Stasi-Offiziere damals vorgingen, haben sie natürlich vor allen Dingen erst mal das gegriffen und vernichtet, was sie vor Händen hatten, was auf dem Schreibtisch lag, in den Handakten und so weiter. Wir wissen also, dass es sich lohnt. Um etwa ein Beispiel zu nennen, weil ich hier gerade aus dem Prenzlauer Berg telefoniere. Von dem Dichter Sascha Anderson war, als die Stasi-Unterlagen-Behörde gegründet wurde, nicht ein Stück Papier da. Das haben wir alles aus diesen zerrissenen Akten rekonstruiert.

    Remme: Diese automatische Rekonstruktion, wenn sie denn fertig ist, ist das dann ein Dokument, das über jeden Zweifel erhaben ist, oder ist das ein Dokument das sagt, so könnte es ausgesehen haben?

    Birthler: Sie meinen jetzt was die Qualität der Rekonstruktion betrifft?

    Remme: Ja.

    Birthler: Ja, das sieht man schon. Aber wir haben eben - das muss man auch noch sagen -, die Situation: Wenn dieses Papier IT-gestützt zusammengesetzt wurde, ist unsere Arbeit noch nicht beendet. Dann haben wir erst mal einzelne Blätter in der Hand. Dann müssen aus den einzelnen Blättern erst mal Akten werden und die Akten müssen zu Archivgut werden. Das heißt sie müssen archivisch erschlossen werden, damit man nachher auch findet was man braucht.

    Remme: Werden diese rekonstruierten Dokumente öffentlich gemacht?

    Birthler: Ja, nach den Regeln des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist ja einerseits ein Aktenöffnungsgesetz, andererseits aber auch ein Datenschutzgesetz. Menschen, die früher von der Staatssicherheit überwacht wurden oder Repressionen ausgesetzt waren, die sollen ja jetzt nicht erneut Schaden erleiden. Es heißt jeder darf die ihn selbst betreffenden Akten uneingeschränkt sehen. Wir erhoffen aber, dass es für viele Opfer sehr, sehr wichtig ist, um herauszufinden, wie die Stasi in ihr Leben eingegriffen hat. Wir wissen aber aus Erfahrung, dass wir auch in diesen zerrissenen Akten noch sehr viele Informationen haben über Mitarbeiter der Stasi, über inoffizielle Mitarbeiter, die bis jetzt vielleicht noch annehmen, dass ihre Akten ein für alle Mal verschwunden sind.

    Remme: Frau Birthler, ich habe die Arbeit der Kollegen in Zirndorf erwähnt. Geht die Arbeit von Hand denn parallel weiter, oder wird die nun eingestellt?

    Birthler: Das muss sie, denn bis wir die ersten Ergebnisse aus dieser maschinellen Rekonstruktion in Händen haben, wird ja noch über ein Jahr vergehen. Jetzt wird erst mal ein Jahr die Hard- und Software weiterentwickelt und dann geht es erst los. Wir können es uns gar nicht leisten, jetzt ein Jahr Stillstand zu haben.

    Remme: Der Herr Nickolay hat von Millionen-Beträgen gesprochen. Frau Birthler, stehen Kosten, also Aufwand und Ertrag in vernünftigem Verhältnis zueinander?

    Birthler: Auf jeden Fall! Auf jeden Fall, wenn man den Wert von Stasi-Unterlagen kennt, der sehr groß ist, und der ist relativ gesehen bei den Unterlagen in diesen Säcken wo möglich noch größer.