Dienstag, 19. März 2024

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"Islamischer Staat" in Syrien besiegt
IS-Kämpfer "werden in den Untergrund gehen"

Eine Extremistenorganisation wie der IS müsse nicht nur militärisch, sondern vor allem ideologisch besiegt werden, sagte die Nahost-Expertin Kristin Helberg im Dlf. Dazu brauche es eine nachhaltige Strategie für die zerstörten Gebiete. Die entscheidende Frage sei, wie nun mit IS-Anhängern umgegangen werde.

Kristin Helberg im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 23.03.2019
Rauch steigt über der Stadt Baghus in Syrien auf.
Der Westen sollte mehr Verantwortung für die vom IS befreiten Gebiete übernehmen - fordert Kristin Helberg (pa/dpa/AP/Alleruzzo)
Tobias Armbrüster: Es ist das vorläufige Ende eines jahrelangen internationalen Militäreinsatzes und auch das Ende natürlich einer extrem grausamen Herrschaft. Die Terrormiliz Islamischer Staat hat ihren letzten Stützpunkt in Syrien verloren. Damit ist es nach mehr als fünf Jahren vorbei mit der IS-Präsenz in Syrien. Ob diese Terrormiliz allerdings jetzt wirklich besiegt ist oder ob sie sich einfach an anderer Stelle neu sammelt, darüber wird schon jetzt spekuliert.
Am Telefon hier im Deutschlandfunk ist jetzt die Publizistin und Autorin Kristin Helberg, sie ist eine der besten Kennerinnen des Nahen Ostens. Schönen guten Tag, Frau Helberg!
Kristin Helberg: Guten Tag, Herr Armbrüster!
Armbrüster: Frau Helberg, ist der IS jetzt am Ende?
Helberg: Der IS ist militärisch geschlagen, das können wir feststellen, aber wir müssen uns überlegen, dass man eine solche Extremistenorganisation eben nicht nur militärisch besiegen kann, sondern man braucht nachhaltig eine andere Strategie, vor allem, wie man sie ideologisch besiegen kann, und da war der Westen und das internationale Anti-IS-Bündnis doch sehr zurückhaltend und sehr fantasielos. Man hat rein auf militärische Mittel gesetzt, hat dabei auch weite Teile Ostsyriens zerstört, zum Beispiel die Stadt Ar-Raqqa. Das Entscheidende wird jetzt sein, zwei Dinge: erstens, was passiert in den Gebieten, die der IS einst kontrolliert hat, und was passiert mit den Kämpfern, mit den Anführern, aber auch mit Anhängern und Mitläufern dieser Organisation, wie gehen wir damit um und was für Lebensbedingungen werden wir in diesen Gebieten den Leuten zur Verfügung stellen können.
Europäische IS-Kämpfer "müssen wir zurücknehmen"
Armbrüster: Wie müsste man denn mit diesen Leuten, mit diesen ehemaligen Kämpfern umgehen?
Helberg: Nun zunächst mal werden die Anführer dieser Organisation ja schon jetzt von den Kurden möglichst festgenommen. Es gibt ein Gefängnis in Derik, da sitzen 400 der gefährlichsten IS-Kämpfer angeblich. Dort sind die kurdischen Kräfte, also die syrische demokratische Partei, die dort das Sagen hat, eigentlich schon überfordert. Das kostet wohl 20.000 Dollar pro Monat, diese Gefangenen allein zu versorgen, und es gibt wohl keinerlei Unterstützung, auch nicht der USA, der ja eigentlich der wichtigste Verbündete ist dieser Partei. Also wir sehen, dass die Kurden da doch überfordert sind. Wir haben gerade gehört, das Flüchtlingscamp al-Hol massenhaft überfüllt: 60.000, eigentlich für 10.000 eingerichtet. Das heißt, wir sehen, dass diese Gebiete, die ja zurzeit von den Kurden mehr oder weniger autonom regiert werden, doch sehr leiden, und wir sehen auch, dass, was der Westen zerstört hat bei der Einnahme zum Beispiel von Ar-Raqqa, der IS von dort vertrieben wurde, eben nicht bereit war, diese Stadt nachhaltig wieder aufzubauen. Ar-Raqqa ist bis heute schwer zerstört, keine Infrastruktur, Minen liegen dort immer noch, und die Menschen können nicht wirklich dorthin zurückkehren. Das zeigt, dass wir sehr halbherzig nur diesen IS bekämpft haben. Dazu zählt auch die Bundesregierung, weil wir mit unseren Aufklärungstornados auch an diesem Bündnis mitgewirkt haben. Also mehr Verantwortung für die Gebiete, die man nun befreit hat vom IS, und dann die Frage, wie gehen wir mit den IS-Anhängern um. Diejenigen, die europäische Nationalität haben, müssen wir zurücknehmen, denke ich, auch Deutschland hat dort eine Verantwortung, und es ist in jedem Fall der sicherere Weg, denn sonst könnten diese Leute ja mit deutscher Nationalität zu einem späteren Zeitpunkt auf eigene Faust zurückkehren, und das wäre sehr viel gefährlicher.
Autorin Kristin Helberg
Nahost-Expertin Kristin Helberg sagt, den IS-Kämpfern müsse jetzt dauerhaft etwas angeboten werden, um sie zu deradikalisieren und resozialisieren. (imago / Viadata)
Menschen ohne Perspektive "sind leichte Opfer"
Armbrüster: Wie groß ist denn die Gefahr generell von IS-Kämpfern, die jetzt aus diesen Gebieten, die da bis zuletzt gehalten wurden, die aus diesen Gebieten geflohen sind und jetzt möglicherweise in anderen Ländern, nicht unbedingt in Europa, sondern auch in Ländern Afrikas oder Asiens untergetaucht sind? Welche Gefahr geht von diesen sozusagen freilaufenden ehemaligen IS-Kämpfern aus?
Helberg: Nun diejenigen, die bis zum Schluss gekämpft haben für den IS sind natürlich massiv ideologisiert und sind tatsächlich richtige Anhänger dieses IS gewesen. Das ist richtig. Umso wichtiger ist es, sie ja jetzt gefangen zu nehmen und auch dauerhaft ihnen irgendetwas anzubieten, also Stichwort Deradikalisierung, Resozialisierungsprogramme in den Gefängnissen, wo sie jetzt ja auch schon sitzen, zum Teil in den kurdischen Gebieten. Wir sehen, dass überall dort, wo der IS geschlagen wurde, viele dieser Anhänger auch wieder in den Untergrund gehen. Wir sehen Anschläge im Irak, wir sehen, dass die Gruppe sich in anderen Gebieten wieder sammelt, in anderen Ländern auch der Region. Wir werden auch in Syrien sehen, dass natürlich wer eben nicht gefangen genommen wird, sich neu formieren wird, in den Untergrund gehen wird, und deswegen ist es so wichtig, sich zu überlegen, was für Lebensbedingungen schaffen wir dort auch für die Menschen, denn, wie gesagt, Menschen, die jeden Tag unterdrückt werden, die politisch nicht mitbestimmen können - im Irak werden die Sunniten nach wie vor systematisch von der Macht ausgeschlossen -, Menschen, junge Menschen, die keine Perspektive haben, die eigentlich nur mit Gewalt auch großgeworden sind in den vergangenen Jahren, die sind natürlich wieder ein leichtes Opfer für eine erneute Extremistengruppe. Das ist genau der Nährboden, den wir eigentlich solchen Extremisten entziehen müssten, und das tun wir viel zu wenig, weil wir dann doch wieder auf Regime setzen und politische Führer setzen, die autoritär herrschen und damit eigentlich genau jenen Nährboden schaffen, der nachher von Extremisten missbraucht werden kann.
"Nichts unterstützen, was das Assad-Regime plant"
Armbrüster: Frau Helberg, dann lassen Sie uns über die Lage und über die Möglichkeiten in Syrien sprechen. Es ist ja sehr einfach, eine Organisation, eine Terrormiliz, wie das jetzt geschehen ist, aus der Luft zu bekämpfen oder mit kurdischen Helfern on the ground sozusagen. Etwas völlig anderes ist es natürlich, solche zerstörten Gebiete dann wieder aufzubauen, vor allen Dingen in so einem Land wie Syrien, in dem die Machtverhältnisse ja alles andere als geklärt sind. Welche Möglichkeiten hätte denn Deutschland oder die Europäische Union, in Syrien solche Aufbauarbeit jetzt zu diesem Zeitpunkt zu leisten?
Helberg: Da müssen wir ganz klar unterscheiden zwischen den Gebieten, die vom Assad-Regime kontrolliert werden. Dort sollten wir uns nicht am Wiederaufbau beteiligen, weil der Wiederaufbau, wie Assad ihn plant, in erster Linie dazu dient, seine Anhänger zu belohnen. Wir sehen ja große Immobilienprojekte, von denen seine Kumpanen, seine Geschäftskumpanen profitieren. Damit festigen wir sozusagen die Strukturen dieses Regimes, die ja eigentlich auch mal zu dem Aufstand geführt haben. Wir sehen gleichzeitig, dass das Assad-Regime Gesetze erlassen hat, namentlich Gesetz Nummer zehn, mit dem es die Möglichkeit hat, Menschen zu enteignen. Das heißt, es geht eigentlich langfristig darum, diejenigen Syrer, die sich gegen dieses Regime mal erhoben haben, nicht wieder nach Syrien zurückzulassen, womöglich zu enteignen, dauerhaft demografische Veränderungen herbeizuführen. Das ist eine Form von politischer Säuberung. Also die Anhänger bleiben, wer sich unterwirft, darf bleiben, kann auch in Sicherheit leben in Syrien, aber wer gegen dieses Regime etwas unternommen hat oder auch nur in ehemals oppositionellen Gebieten gelebt hat, steht unter Generalverdacht und ist in Syrien nicht sicher. Vor diesem Hintergrund sollten wir also nichts unterstützen, was das Assad-Regime plant aufzubauen. Eine andere Frage ist, wie man in den kurdischen Gebieten vorgeht, und da sehen wir große Zurückhaltung aus einem ganz einfachen Grund, nämlich die kurdische Partei, die dort das Sagen hat, ist eine Schwesterpartei der PKK. Das ist aus Sicht der türkischen Regierung eine Terrororganisation. Die PKK ist auch in Europa gelistet. Deswegen tut sich der Westen extrem schwer, mit dieser Partei zusammenzuarbeiten, gerade die Bundesregierung.
Kurden wieder "Verlierer der Geschichte"
Armbrüster: Frau Helberg, und genau zu den Kurden noch ganz kurz eine kurze Frage mit Bitte um eine kurze Antwort: Was wird aus diesen kurdischen Kämpfern, die ja so wichtig waren im Kampf gegen den IS? Was wird aus denen jetzt, wenn der IS in Syrien besiegt ist?
Helberg: Ich denke, dass der Nordosten des Landes, das ist ein Viertel des syrischen Staatsgebietes, der kurdisch kontrolliert ist, gerade der wird über kurz oder lang wieder an das Regime fallen. Wir haben gerade die Ansage gehört vergangene Woche aus Damaskus, die Kurden hätten die Wahl zu kämpfen oder zu verhandeln, und der Plan, auch des russischen Präsidenten Putin, ist ja, zu sagen, für die Kurden ist es das geringere Übel, sich wieder mit dem Regime zu arrangieren, damit man eben nicht bombardiert wird in diesen Gebieten, und aus Sicht der Kurden ist tatsächlich Assad wahrscheinlich das geringere Übel im Vergleich zu Präsident Erdogan in der Türkei, der ja damit droht, diese Gebiete östlich des Euphrats anzugreifen und unter eine türkische Kontrolle zu bringen oder mit verbündeten syrischen Rebellen dort zu herrschen. Das möchten die Kurden nicht. Insofern sind sie wieder die Verlierer der Geschichte, denn diese Autonomie, die sie sich erarbeitet haben in den vergangenen Jahren, das wird so nicht bestehen bleiben. Assad wird darauf Wert legen, dass dieses Gebiet im Nordosten auch wieder komplett unter zentralistische Kontrolle von Damaskus fällt. Insofern war das das Ende der kurdischen Autonomie, und es wird, glaube ich, eine solche Verhandlungslösung geben. Die Kurden werden ein paar kulturelle Rechte kriegen. Sie dürfen Kurdisch sprechen, sie dürfen Newroz feiern, aber mit der Autonomie ist es dann zunächst vorbei.
Armbrüster: Live hier bei uns in den "Informationen am Mittag" war das die Nahostexpertin Kristin Helberg. Frau Helberg, vielen Dank für Ihre Einschätzungen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.