Mittwoch, 24. April 2024

Justizreform in Israel
Netanjahu gegen die Demokratie

Israels Oberstes Gericht hat ein Kernelement von Netanjahus umstrittener Justizreform gekippt. Es erklärte eine Gesetzesänderung für nichtig - sie hätte die Kompetenzen des Gerichts beschnitten. Wie es weitergeht, ist noch unklar.

02.01.2024
    Die 15 Richter am Obersten Gerichtshof Israels bei der Anhörung der Petitionen gegen die Abschaffung der "Angemessenheitsklausel" im September 2023.
    Der Oberste Gerichtshof Israels hat die Abschaffung der Angemessenheitsklausel wieder aufgehoben. (AFP / DEBBIE HILL)
    Die Änderung hatte dem Gericht die Möglichkeit genommen, gegen „unangemessene“ Entscheidungen der Regierung, des Ministerpräsidenten oder einzelner Minister vorzugehen. So kann das Oberste Gericht in Israel etwa die Ernennung von Ministern verhindern, wie dies auch Anfang 2023 der Fall war, als das Höchste Gericht die Ernennung des Vorsitzenden der Schas-Partei, Arie Deri, zum Innenminister wegen dessen krimineller Vergangenheit als „unangemessen“ eingestuft hatte.
    Diese Macht des Obersten Gerichts ist der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und vor allen Dingen auch seinen nationalistischen strengreligiösen und auch rechtsextremen Koalitionspartnern ein Dorn im Auge, berichtete ARD-Korrespondent Björn Dake. Kritiker hatten gewarnt, dass die Gesetzesänderung Korruption und die willkürliche Besetzung wichtiger Posten fördern könnte.
    Ob Netanjahu den Urteilsspruch so akzeptieren wird, ist noch unklar. Seine Likud-Partei kritisierte aber schon, es sei bedauerlich, dass das Oberste Gericht ein solches "Urteil im Herzen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung in Israel“ ausgerechnet zu einer Zeit fälle, in der Soldaten aus dem rechten sowie dem linken Lager ihr Leben im Krieg gefährdeten.
    Der geplante Umbau der Justiz hatte die israelische Gesellschaft tief gespalten, was sich auch in dem nur mit knapper Mehrheit gefällten Urteil der Obersten Richter zeigte. Hunderttausende hatten monatelang gegen die Justizreform demonstriert. Die regelmäßigen Massenproteste endeten erst mit dem Hamas-Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober.

    Inhaltsverzeichnis

    Worum geht es bei der Justizreform in Israel?

    Der Umbau des israelischen Rechtssystems zielt vor allem darauf ab, die Gerichtsbarkeit des Landes zu schwächen und die Macht von Parlament und Regierung zu stärken. Die Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wirft dem Höchsten Gericht vor, sich zu sehr in politische Entscheidungen einzumischen.
    Einiges haben die Massenproteste allerdings erreicht: Die israelische Regierung möchte nach Angaben von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu einen wesentlichen Teil der ursprünglich geplanten Reform nicht weiter vorantreiben.
    „Die Idee einer Aufhebungsklausel, nach der das Parlament, die Knesset, die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs mit einer einfachen Mehrheit aufheben kann, habe ich verworfen“, sagte Netanjahu im Juni 2023 dem „Wall Street Journal“.
    In Israel überprüft der Oberste Gerichtshof die Rechtmäßigkeit von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen. Das Land hat keine geschriebene Verfassung. Stattdessen gibt es eine Sammlung von Grundgesetzen, die zusammen eine Art Verfassung bilden. Weil es unter anderem keine zweite Parlamentskammer gibt, kommt dem Obersten Gericht die Rolle zu, die Regierung zu kontrollieren.

    Wie will Netanjahu seine Pläne durchsetzen?

    Justizminister Jariv Levin hatte die Reformpläne im Januar 2023 vorgestellt. Erst kurz zuvor war die rechts-religiöse Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vereidigt worden. Sie gilt als die am weitesten rechts stehende Regierung der israelischen Geschichte.
    Regierungschef Benjamin Netanjahu hatte die Justizreform im März 2023 nach massivem Druck zunächst gestoppt, im Juni dann aber in abgeschwächter Form wieder auf die Agenda gesetzt.
    Die Reform besteht aus einer großen Anzahl von Einzelgesetzen. Das ermöglicht es der Regierung, die Reform Stück für Stück durchzubringen.
    Demonstranten zelten in der Nähe der Knesset, um gegen die Justizreform der israelischen Regierung zu protestieren.
    Demonstranten zelten in der Nähe der Knesset, um gegen die Justizreform der israelischen Regierung zu protestieren. (picture alliance / AA / Mostafa Alkharouf)

    Warum ist der Protest gegen die Justizreform so heftig?

    Vielerorts herrschte auf den Straßen Israels immer wieder Aufruhr, denn die Justizreform wird in weiten Teilen der Zivilgesellschaft als schwerer Anschlag auf die Demokratie des Landes interpretiert.
    Handgemenge zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten vor der Knesset: Im israelischen Parlament wird über einen entscheidenden Teil der Justizreform abgestimmt.
    Handgemenge zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten vor der Knesset: Seit Monaten demonstrieren Zehntausende gegen die Justizreform. (picture alliance / AA / Mostafa Alkharouf)
    Der frühere Regierungschef Ehud Barak schrieb in einem Gastbeitrag der Zeitung „Haaretz“, Israel befinde sich in der schwersten Krise seiner Geschichte. Das Land stehe kurz davor, zu einer „De-facto-Diktatur“ zu werden.
    Besonders an den Wochenenden gab es überall im Land Demonstrationen mit Zehntausenden von Teilnehmern. Demonstranten besetzten Autobahnen, Universitäten verkündeten einen vorläufigen Unterrichtsstopp, Reservisten der Armee erschienen nicht zum Dienst. Auch der Hafen von Haifa wurde blockiert. Die Protestbewegung ist eine der größten in der Geschichte Israels und umfasst breite Gesellschaftsteile.

    Wie reagiert das Ausland auf die Justizreform in Israel?

    Vor allem aus den USA, dem traditionell engsten Verbündeten, ist der Druck auf die israelische Regierung groß. US-Präsident Joe Biden hat die Justizreform scharf kritisiert. Er sei als überzeugter Unterstützer Israels besorgt, sagte Biden auf die Frage nach dem Zustand der dortigen Demokratie.
    Bundeskanzler Olaf Scholz sagte bei einem Besuch von Netanjahu im März in Berlin, man verfolge mit großer Sorge, was in Israel passiere. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich beunruhigt über den Umbau des Rechtsstaates in Israel. Das ist bemerkenswert, denn der Bundespräsident äußert sich selten offen in außenpolitischen Dingen.
    Der frühere israelische Botschafter in der Bundesrepublik, Schimon Stein, stellte sich am 18. Juli hinter die Demonstrierenden. Er warnte vor einer "Orbánisierung" Israels. Man dürfe nicht zulassen, dass das Land sich ähnlich wie Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán auf den Weg Richtung "illiberale Demokratie" bewege.

    ahe, mick, pto, mfied, dpa, KNA, rtr, AP, AFPD