Sonntag, 10. Dezember 2023

Justizreform in Israel
Netanjahu gegen die Demokratie

Netanjahus umstrittene Justizreform spaltet weiter die israelische Öffentlichkeit. Die Proteste reißen nicht ab. Jetzt verhandelt der Oberste Gerichtshof des Landes über einen der Kernpunkte der Reform - die Beschneidung der eigenen Kompetenzen.

12.09.2023
    Israels Premierminister Benjamin Netanyahu während der Abstimmung zur Justizreform in der Knesset.
    Einen zentralen Punkt der Justizreform von Premierminister Benjamin Netanyahu hat die Knesset im Juli trotz Protesten gebilligt. Jetzt befasst sich der Oberste Gerichtshof damit (picture alliance / newscom / Debbie Hill)
    Trotz monatelanger Proteste hunderttausender Menschen hatte das israelische Parlament am 24. Juli 2023 ein Kernstück der Justizreform der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu beschlossen. Die sogenannte Angemessenheitsklausel wurde abgeschafft und den Richtern die Möglichkeit genommen, Entscheidungen der Regierung als „unangemessen“ einzustufen und außer Kraft zu setzen. Kritiker werfen der Regierung vor, so die demokratische Gewaltenteilung auszuhebeln.
    Seit dem 12. September 2023 befassen sich alle 15 Richter des Obersten Gerichts mit insgesamt acht Petitionen zur Abschaffung der Angemessenheitsklausel. Die Beratungen könnten mehrere Wochen dauern. Eine Entscheidung könnte nach Einschätzung von Experten erst im Januar 2024 ergehen. Der israelische Justizminister Jariv Levin kritisierte, der Gerichtshof halte die Anhörung ohne die nötigen Befugnisse ab.

    Inhaltsverzeichnis

    Worum geht es bei der Justizreform in Israel?

    Der Umbau des israelischen Rechtssystems zielt vor allem darauf ab, die Gerichtsbarkeit des Landes zu schwächen und die Macht von Parlament und Regierung zu stärken. Die Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wirft dem Höchsten Gericht vor, sich zu sehr in politische Entscheidungen einzumischen.
    Einiges haben die Massenproteste allerdings erreicht: Die israelische Regierung möchte nach Angaben von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu einen wesentlichen Teil der ursprünglich geplanten Reform nicht weiter vorantreiben.
    „Die Idee einer Aufhebungsklausel, nach der das Parlament, die Knesset, die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs mit einer einfachen Mehrheit aufheben kann, habe ich verworfen“, sagte Netanjahu im Juni 2023 dem „Wall Street Journal“.
    In Israel überprüft der Oberste Gerichtshof die Rechtmäßigkeit von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen. Das Land hat keine geschriebene Verfassung. Stattdessen gibt es eine Sammlung von Grundgesetzen, die zusammen eine Art Verfassung bilden. Weil es unter anderem keine zweite Parlamentskammer gibt, kommt dem Obersten Gericht die Rolle zu, die Regierung zu kontrollieren.

    Wie will Netanjahu seine Pläne durchsetzen?

    Justizminister Jariv Levin hatte die Reformpläne im Januar 2023 vorgestellt. Erst kurz zuvor war die rechts-religiöse Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vereidigt worden. Sie gilt als die am weitesten rechts stehende Regierung der israelischen Geschichte.
    Regierungschef Benjamin Netanjahu hatte die Justizreform im März 2023 nach massivem Druck zunächst gestoppt, im Juni dann aber in abgeschwächter Form wieder auf die Agenda gesetzt.
    Die Reform besteht inzwischen aus einer großen Anzahl von Einzelgesetzen. Das ermöglicht es der Regierung, die Reform Stück für Stück durchzubringen. Ein wesentlicher Teil der Reform ist die bereits vom Parlament beschlossene Abschaffung der Angemessenheitsklausel. 
    Demonstranten zelten in der Nähe der Knesset, um gegen die Justizreform der israelischen Regierung zu protestieren.
    Demonstranten zelten in der Nähe der Knesset, um gegen die Justizreform der israelischen Regierung zu protestieren. (picture alliance / AA / Mostafa Alkharouf)
    Justizminister Jariv Levin sagte der Zeitung "Haaretz" nach der Schlussabstimmung, die Regierung habe "den ersten Schritt in dem historischen Prozess getan, das Justizsystem zu korrigieren und die Befugnisse wiederherzustellen, die der Regierung und der Knesset über viele Jahre hinweg genommen wurden“. Die Opposition hatte die finale Abstimmung boykottiert und die Kammer unter "Schande"-Rufen verlassen.
    Kritiker befürchten, dass die Reform Korruption und die willkürliche Besetzung hochrangiger Posten begünstigen könnte. Anfang 2023 hatte das Höchste Gericht die Ernennung des Vorsitzenden der Schas-Partei, Arie Deri, zum Innenminister wegen dessen krimineller Vergangenheit als „unangemessen“ eingestuft. Daraufhin musste Netanjahu seinen Vertrauten entlassen. Beobachter erwarten, dass die Regierung dies wieder rückgängig machen will.

    Warum ist der Protest gegen die Justizreform so heftig?

    Vielerorts herrschte auf den Straßen Israels immer wieder Aufruhr, denn die Justizreform wird in weiten Teilen der Zivilgesellschaft als schwerer Anschlag auf die Demokratie des Landes interpretiert.
    Handgemenge zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten vor der Knesset: Im israelischen Parlament wird über einen entscheidenden Teil der Justizreform abgestimmt.
    Handgemenge zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten vor der Knesset: Seit Monaten demonstrieren Zehntausende gegen die Justizreform. (picture alliance / AA / Mostafa Alkharouf)
    Der frühere Regierungschef Ehud Barak schrieb in einem Gastbeitrag der Zeitung „Haaretz“, Israel befinde sich in der schwersten Krise seiner Geschichte. Das Land stehe kurz davor, zu einer „De-facto-Diktatur“ zu werden.
    Seit etlichen Monaten gibt es besonders an den Wochenenden überall im Land Demonstrationen mit Zehntausenden von Teilnehmern. Demonstranten besetzten Autobahnen, Universitäten verkündeten einen vorläufigen Unterrichtsstopp, Reservisten der Armee erschienen nicht zum Dienst. Auch der Hafen von Haifa wurde blockiert. Die Protestbewegung ist eine der größten in der Geschichte Israels und umfasst breite Gesellschaftsteile.

    Wie reagiert das Ausland auf die Justizreform in Israel?

    Vor allem aus den USA, dem traditionell engsten Verbündeten, ist der Druck auf die israelische Regierung groß. US-Präsident Joe Biden hat die Justizreform scharf kritisiert. Er sei als überzeugter Unterstützer Israels besorgt, sagte Biden auf die Frage nach dem Zustand der dortigen Demokratie.
    Bundeskanzler Olaf Scholz sagte bei einem Besuch von Netanjahu im März in Berlin, man verfolge mit großer Sorge, was in Israel passiere. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich beunruhigt über den Umbau des Rechtsstaates in Israel. Das ist bemerkenswert, denn der Bundespräsident äußert sich selten offen in außenpolitischen Dingen.
    Der frühere israelische Botschafter in der Bundesrepublik, Schimon Stein, stellte sich am 18. Juli hinter die Demonstrierenden. Er warnte vor einer "Orbánisierung" Israels. Man dürfe nicht zulassen, dass das Land sich ähnlich wie Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán auf den Weg Richtung "illiberale Demokratie" bewege.

    ahe, mick, pto, mfied, dpa, KNA, rtr, AP, AFPD