Montag, 25. September 2023

Kommentar zu Demokratie
Viel Polit-Tratsch, wenig Zukunftsvisionen

In einer Demokratie braucht man eine streitbare Vorstellung von der Zukunft. Daran fehle es hierzulande, meint die Schriftstellerin Jagoda Marinic. Stattdessen verliere sich die Ampelkoalition im Klein-Klein. Das stärke die Rechtspopulisten.

03.09.2023

Finanzminister Christian Lindner (FDP) im Gespräch mit Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne) im Bundestag.
Man redet über Lindner gegen Habeck oder Habeck gegen Lindner: Politische Prozesse werden zu Klatsch und Tratsch aus Berlin. (picture alliance / Flashpic / Jens Krick)
Hoffnung ist ein zu großes Wort, um es in diesen aufgeregten Zeiten in den Diskurs einzubringen. Es scheint jedoch genau das zu sein, was in den letzten Monaten fehlte: Das Vertrauen in die Zukunft. Was, wenn eine demokratische Gesellschaft nur handlungsfähig bleibt, wenn die Mehrzahl ihrer Bürgerinnen und Bürger die Hoffnung hat, das gegenwärtige Tun werde in eine bessere Zukunft führen?

Politik-Tratsch statt Zukunftsideen

Seit Langem hört man von der Ampel zu wenig über die Gestaltung der Zukunft. Wo bleiben die Grundsatzreden darüber, in welche Art von Zukunft wir uns gerade hineinarbeiten? Auf die Pandemie folgte der Krieg, darauf die Aufzählungen von Krisenszenarien und die zu schnelle intellektuelle wie politische Kapitulation vor den vermeintlich ausgemachten Erfolgen und Bündnissen der autoritär regierten Länder.
In Deutschland reagieren wir kaum auf solche globalen Verschiebungen. Statt neue Strategien vorzustellen, werden Berliner Bürokratiepapiere durchgestochen, Politik und das Reden über Politik zunehmend personalisiert.
Man redet über Habeck gegen Lindner oder Lindner gegen Habeck, über Scholz wird gerne gesagt, er "scholze", nicht jedoch darüber, welche Folgen das hat. Politische Prozesse werden zu Klatsch und Tratsch aus Berlin, statt den Kampf um die besten Ideen gegen die anstehenden Krisen zu präsentieren. Kein Wunder, dass der ominöse „Kulturkampf“ etwas geworden ist, womit Politik gemacht werden kann: Mittels der Personalisierung von emotional aufgeladenen Themen bringt man verschiedene Lager gegeneinander auf.

Letzte Generation – Impulsgeber, nicht Feind

Die Letzte Generation könnte, statt auf Titelseiten großer Magazine zum Feind erklärt zu werden, Impulse geben. Statt sie zum Sündenbock zu machen, könnte man sagen: Sie erinnern eine Gesellschaft daran, dass es Hoffnung braucht, sonst verzweifeln Teile der Jugend. 
Die Angst, die durch Hoffnungslosigkeit entsteht, wissen Rechtsextreme und Rechtspopulisten politisch zu kapitalisieren. Sie versprechen Abschottung, wo Menschen sich überfordert fühlen. Sie versprechen sogar, sich vor dem Klima abschotten zu können, entgegen alle Rationalität. Das zu glauben ist eine Verzweiflungstat, verzweifelter als jede Klebeaktion der Letzten Generation.

Rechtspopulismus gedeiht wegen Hoffnungslosigkeit

Um Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu machen, braucht es mehr als kleinteilige Streitereien um Wärmepumpen. Klein-Klein-Debatten sind der falsche Ausweg aus der Ohnmacht, sei es für Politiker oder Medienschaffende: Streit auf Twitter? Wunderbar, reizen wir ihn aus. Soziale Fragen? Am besten die Ministerin für Familie und Soziales gegen den Finanzminister ausspielen.
Natürlich trägt die Ampel mit ihren fast intra-oppositionell anmutenden Regierungskämpfen einen großen Teil der Verantwortung für den Frust. Doch jene, die für eine kritische Öffentlichkeit sorgen könnten, spielen mit und lassen diese Unterforderungen des demokratischen Geistes zu.

Zukunftsvorstellung für Demokratie unabdingbar

Bürgerinnen und Bürger werden nicht über Nacht zu Anti-Demokraten. Zunehmend fehlt die Erfahrung, was an Demokratie und Diskurs sinnhaft sein könnte. Wenn Streit zum Shitstorm-Selbstzweck mutiert, um die eigene Klientel zu bedienen, verwirkt er sein demokratisches Potenzial. Es braucht den Glauben an das Konstruktive im Streit. Wo er fehlt, fehlen auch gemeinsame Ziele, dort kapern Anti-Demokraten die Hoffnungen der Bevölkerung: „Mit uns kann es besser werden!“, behaupten sie.
Das kann es nicht. Doch in einer Demokratie reicht es nicht aus, über die Leere und Fehler der Gegner zu sprechen. In einer Demokratie braucht man eine streitbare Vorstellung von der Zukunft, für die Einzelne sich einbringen sollen. So wäre es derzeit die Aufgabe konservativer politischer Parteien, das Konservative mit Zukunftsthemen zu füllen, statt die Eskalationsdynamiken in den USA zu kopieren. Ein Klimakanzler, zu dem Scholz sich im Wahlkampf selbst kürte, müsste regelmäßig Reden halten, in denen er seine Ziele klar kommuniziert und berichtet, wie er sie einhält, wo er sie überraschend übererfüllt.
Wie war das noch mit den guten Nachrichten? Auch die Grünen sollten sich trotz Regierungsbeteiligung fragen, für welche progressiven Ideen sie sich in ihrem Erwachsenenalter noch zuständig fühlen, statt zu Rechtfertigungspredigern des Kompromisses zu werden. Nach dem Sommer wäre der richtige Zeitpunkt, das Zukunftsloch endlich mit Inhalten zu füllen.