Archiv

Jenny Offill: „Wetter“
Ästhetik atmosphärischer Turbulenz

Jenny Offills Roman „Wetter“ ist eine genaue, warmherzige und schonungslose Betrachtung des US-amerikanischen Alltags. Eine literarische Wetteraufzeichnung aus der Perspektive einer nur auf den ersten Blick unscheinbaren Bibliothekarin. Puritanisch und komisch.

Von Christian Metz |
Vordergrund: Buchcover "Wetter" sowie ein Portrait der Autorin Jenny Offill / Hintergrund: Stockimage Wolken
Man kann der Literatur allerhand Ahnungslosigkeiten vorwerfen. Aber vom Wetter versteht sie wirklich was. Zeus’ Blitz und Donner, Boccaccios pestbrütende Sommerhitze oder Shakespeares "Sturm" sind literarische Bestimmungen der Wetter- und der gesellschaftlichen Stimmungslage. Jetzt hat die New Yorker Erfolgsautorin Jenny Offill dieses literarturatmosphärische Wissen in ihrem Roman "Wetter" aktualisiert. Ihr gegenwartsdiagnostisches Notat basiert auf einem unter anderem verhaltensbiologisch wie naturwissenschaftlich geschulten Blick:
"Man hat Würmer aus der Kanalisation untersucht und festgestellt, dass sie hohe Konzentration von Paxil und Prozac enthielten. Wenn Vögel diese Würmer fraßen, flogen sie nicht weit, bauten komplizierte Nester, wirkten aber desinteressiert daran, sich zu paaren."
Der Wurm ist, was er frisst. Auch der Vogel nistet speisegetreu. Da sich aber die Wirkungen von menschlichen Antidepressiva über die Nahrungskette bis zu den Vögeln übertragen, lässt sich am Verhalten der letzteren der Status quo der US-Gesellschaft ablesen. Aus dem Traumreich höchster Mobilität ist längst das Land der Zuhausegebliebenen geworden, die ihr Eigenheim unablässig aus- und umbauen. Die Fortpflanzungsrate sinkt bei gesteigerter Nestpflege.

Lust auf Empirie

So empirisch informiert, analytisch klug, verspielt und gewitzt erzählt "Wetter". Und zwar auf einem gleichbleibend hohen Niveau. Zum Beispiel das liebestheoretische Sprichwort "Gleich und Gleich gesellt sich gern", trägt im Roman seinen Fachterminus "assertative Paarung". Ist es schlimm, wenn ähnliche Partner sich passgenau finden?
"Das Problem dabei, sagte sie, sei, dass es einem völlig vernünftig vorkommt, wenn man es tut. Als würde ein Schlüssel in ein Schloss passen und die Tür öffnen. Die Frage sei aber: Ist das wirklich das Zimmer, in dem man sein Leben verbringen will?"
Der passende Schlüssel mag schnell zur Hand sein. Doch lebenswert wäre es, sich andere Räume zu eröffnen. In solchen Wendungen steckt der Clue zu Offills Erzählen. Als ginge es darum, sich ständig neue Räume zu erschließen, reiht der Roman ein Denkbild an das andere. Er verzichtet auf eine durchgehende Handlung. Sondern setzt sich lieber aus lauter einzelnen Splittern zusammen. Aus "Glimpses", die sich – Eindruck für Eindruck – zu einer Chronologie des Alltags fügen. So entsteht die Beschreibung dessen, was atmosphärisch in der Luft liegt, gemeinhin aber unbemerkt bleibt. An einer Stelle ist dieses Verfahren sehr schön beschrieben, als es heißt:
"Manche Sachen liegen einfach in der Luft und fliegen herum", sagt sie, und ich denke an Blätter, etwas, was sich füllt und sich unbemerkt ansammelt."
Was einfach in der Luft liegt, ansammeln. Das ist eine Selbstbeschreibung des Romans. Denn selbstverständlich darf man bei den Blättern, die sich füllen, an die Seiten von Offils Buch denken. Ohne dabei allerdings zu vergessen, dass dieser Roman zwar federleicht erzählt wirkt, die Arbeit mit diskrepanten Textschnipseln aber höchst anspruchsvoll ist.

Krieg dem Klima

Hauptfigur und Erzählerin dieses außergewöhnlichen Erzählprojekts in Personalunion ist Lizzie, eine New Yorker Bibliothekarin. Sie gewinnt sehr schnell Kontur durch ihre Beobachtungen und durch ihre eigene – von Melanie Walz wunderbar lakonisch ins Deutsche übertragene – Sprache. In ihrem Leben indes läuft sie Gefahr, im Unscheinbaren zu verschwimmen, da sie sich ausschließlich durch ihre Beziehungen zu ihrem Sohn Elia, ihrem Mann Benn und ihrem Bruder Henry, einem Ex-Junky, definiert. Lizzie organisiert die Welt dieser drei Männer voller Umsicht, aber auch mit einer erschreckenden Tendenz zur Selbstpreisgabe. Schwer zu beurteilen, inwiefern sie in diesen Beziehungsverstrickungen Täterin oder Opfer ist. Zumal alle anderen Figuren in diesem Eheroman konsequent nur durch Lizzies Perspektive geschildert werden. Ohnmächtig wirkt sie keineswegs, aber im Leser wächst doch der Wunsch, ein beziehungsreinigendes Gewitter möge aufziehen.

Neobürgerliches Prosperieren im Zeichen des Klimawandels

Das Wetter lässt sich nicht beeinflussen. Das Klima hingegen schon. Die Grundfrage dieses Romans lautet: Wie Verhalten wir uns täglich, wenn wir wissen, dass die Klimakrise das Leben unserer Nachkommen bedroht? Achten wir weiter auf das Wetter? Gehen wir ungebrochen unseren Gewohnheiten nach? Oder gelingt uns der Wechsel zu einer langfristigen Perspektive? Lizzies ehemalige Dozentin Sylvia bringt diesen Konflikt auf den Punkt:
"Angenommen, Sie gehen mit Freunden zum Picknick in einen Park. Das ist natürlich moralisch völlig neutral, aber wenn Sie zusehen, wie Kinder im See ertrinken, und weiter essen und plaudern, sind Sie zu Ungeheuren geworden."
Wie ein Ungeheuer kommt sich Lizzie inmitten ihrer Freuden und Sorgen vor. Scheint es ihr doch, als würde sie mit ihrem ausbalancierten Lebensstil das Ertrinken der Kinder hinnehmen. Aus diesem Unbehagen wächst sich der Eheroman zum apokalyptischen Szenario aus. Zunächst beginnt Lizzie nur ein paar einzelne Gegenstände zu horten. Dann erkundigt sie sich nach Maßnahmen, die ihrer Familie im Katastrophenfall nützlich sein könnten. Am Ende schlittert sie in die vielfältige Prepper-Szene hinein, die ihrerseits eine nicht zu verachtende Schnittmenge zu rechtem Gedankengut aufweist. Diesem Abgrund neigt sich die so federleichte Erzählung zu. Aus dem Wunsch nach Selbstermächtigung entwächst die Sehnsucht nach einem Umsturz, mit dem vermeintlich die Welt zu retten sei. Mit Offils Roman verspricht das Wetter dieses literarischen Frühlings zwar nicht durchgehend sonnig, aber doch faszinierend zu werden.
Jenny Offill: "Wetter"
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Melanie Walz.
Piper Verlag, München. 208 Seiten, 20 Euro.