Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Jens Beckert
"Imaginierte Zukunft"

Vorhersagen und Visionen sind willkommene Pfeiler zur wirtschaftlichen Orientierung, aber sie können auch in die Irre führen. Der Soziologe Jens Beckert macht auf dieses Phänomen aufmerksam und plädiert dafür, Fiktion und Fakten besser zu trennen.

Von Thomas Fromm | 30.07.2018
    Buchcover " Imaginierte Zukunft"/ Jens Beckert 2012
    " Imaginierte Zukunft" von dem Soziologen Jens Beckert (Buchcover Suhrkamp Verlag / Hintergrund dpa / picture-alliance)
    Wenn die Chefs großer Konzerne durch die Finanzmetropolen der Welt ziehen, wenn sie wichtige Investoren treffen, um sie von ihrem letzten Strategiewechsel zu überzeugen, wenn Start-up-Firmen Kapitalgeber suchen und zeigen wollen, dass ihre kleine Firma im Grunde das nächste große Ding ist - dann nennt man diese Ausflüge ins große Geld "Road-shows". Und eigentlich ist damit alles gesagt. Es ist nämlich meistens genau das: eine Show, eine besondere Spielart des Erwartungsmanagements. Ziel: Vertrauen schaffen, Geld einsammeln, für gute Stimmung sorgen.
    Mit großen Visionen große Erwartungen wecken
    Der Soziologe Jens Beckert zeigt in seinem Buch die Funktionsweise solcher Shows. Indem Manager und Investoren so tun, als sei Wirtschaft eine rationale und planbare Disziplin, wollen sie die Zukunft steuern und zwar möglichst lukrativ. Manchmal kann das funktionieren. Aber es kann eben auch ganz fürchterlich danebengehen.
    "Vor allem wird eine eigene Realität erzeugt, indem Annahmen ins Spiel gebracht werden, die über die Wiedergabe empirischer Fakten hinausgehen. […] Naturgemäß beschreiben Werke der literarischen Fiktion nicht nur beobachtbare Wahrheiten; aber auch Erwartungen für die wirtschaftliche Zukunft beschränken sich nicht auf Tatsachen."
    Erwartungen aufbauen, Geschichten erzählen, Zukunftsszenarien zur Realität erklären - wenn aus der Wirtschaft eine Art großes Illusionstheater wird, geht es oft um Narrative. Erstaunlich ist, wie gut das immer wieder funktioniert. Elon Musk, der Chef des kalifornischen Elektroautobauers Tesla, und EZB-Chef Mario Draghi zum Beispiel haben etwas sehr Wichtiges gemeinsam: Beide wissen, wie das Geschäft mit der Zukunft funktioniert. Man braucht ein attraktives Versprechen, ein möglichst vollmundiges, und wenn man dabei das Image eines Erlösers und Weltenretters hat, schadet dies auch nicht.
    Rhetorische Marktbeeinflussung
    Im besten Fall kann man - wie Elon Musk - die Kunden für das Versprechen schon im Voraus zahlen lassen. Für sein neues Elektroauto "Model 3" bekam der Unternehmer seit dem Frühjahr 2016 Tausende von Vorbestellungen. Menschen waren bereit, 1000 Euro Anzahlung für ein Auto auf den Tisch zu legen, das so noch gar nicht auf dem Markt war - nur um schon mal auf der Liste der privilegierten Käufer zu landen. Dann aber bekam das Unternehmen Probleme mit der Produktion und kam beim Bau seiner Autos nicht mehr mit. Kunden forderten ihr Geld zurück, der wundersame Elektroautopionier war ein Stück weit entzaubert.
    Auch Mario Draghi beherrscht die Kunst des Erwartungsmanagements. Der Präsident der Europäischen Zentralbank brauchte im Sommer 2012 nur drei Worte, um den Euro gegen die Attacken der Finanzmärkte zu schützen: "Whatever it takes". Er werde alles Erforderliche tun, um den Euro zu verteidigen, kündigte er an.
    Für die Spekulanten, die mitten in der großen Finanzkrise auf den Crash der Eurozone wetteten, hieß das: Die Notenbank wird kämpfen. Mario Draghi lag, wie sich später herausstellte, mit der "Whatever it takes"-Rede goldrichtig. Auch wenn es erst einmal vor allem Rhetorik war, wie Jens Beckert schreibt.
    "Draghis Rede änderte nichts an der objektiven wirtschaftlichen Situation Griechenlands oder Portugals, aber sie beeinflusste die Erwartungen der Investoren, die sich wiederum auf die Wirtschaftslage auswirkten. Sämtliche Marktteilnehmer erzählen Geschichten, um die Zuversicht der Investoren zu beeinflussen, dass sich die Märkte in eine bestimmte Richtung entwickeln werden. Wenn ein Börsenanalyst die Entwicklung des Preises einer bestimmten Aktie voraussagt und seine Prognose begründet, will er Vertrauen in eine fiktionale Erwartung wecken, welche die Investoren dazu bewegen würde, diese Aktie zu kaufen (oder zu verkaufen)."
    Neue Perspektiven auf viel diskutierte Phänomene
    Der Autor des Buches ist Soziologe und hat eine andere Herangehensweise als ein Wirtschaftswissenschaftler. Das schafft Distanz zum Studienobjekt und bietet gleichzeitig Erklärungen, die Ökonomen so kaum liefern würden.
    Anhand der Finanzkrise lässt sich das sehr schön rekonstruieren: Am Anfang stand die Fiktion eines lohnenden Investments. Fiktion, weil es eigentlich ganz anders war: Im Grunde ging es um brandgefährliche Hypothekenpapiere, die - als risikoarm und renditestark ausgewiesen, von den Ratingagenturen für gut und sicher befunden - paketweise quer über den Globus geschickt wurden. Dann brachen die Immobilienpreise in den USA ein, Tausende von Darlehen platzten und damit eine Blase, die so niemand vorher gesehen hatte oder sehen wollte. Dabei war die Geschichte der risikolosen Rendite eigentlich doch eine gute Geschichte gewesen.
    Weniger Fiktion, mehr Fakten
    Aber Märkte, das war die große Lehre aus jenen Jahren, verhalten sich oft weder rational noch effizient. Fiktionale Erwartungen in der Literatur sind das eine. Fiktionale Erwartungen in der Wirtschaft das andere.
    "Die Immobilienblase, die der Krise von 2008 vorausging, die Überbewertung der Internetaktien und die Unterschätzung der mit südeuropäischen Staatsanleihen verbundenen Risiken sind Beispiele aus jüngerer Zeit, die zeigen, dass falsche Bewertungen durch die Finanzmärkte an der Tagesordnung sind."
    Menschen, die mit Wirtschaft zu tun haben, sollten das Buch des Soziologen lesen. Die eine oder andere Zukunftsvision werden sie danach vielleicht anders sehen. Menschen, die nicht viel mit Wirtschaft zu tun haben, sollten es ebenfalls lesen. Denn es hilft, auch jene Phänomene der Wirtschaft einzuordnen, die man schon immer eher im Science-Fiction-Bereich verortet hatte.
    Und wenn es am Abend eines langen Börsentages heißt, dass den "Aktienmärkten die Phantasie" gefehlt habe oder dass ein Unternehmen, das Aktien ausgeben will, keine überzeugende "Börsenstory" hat, dann ist das erst einmal kein Drama. Im Gegenteil. Wo die Phantasie fehlt, lassen sich Fakten und Fiktion leichter auseinanderhalten.
    Jens Beckert, "Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus",
    Suhrkamp Verlag, 569 Seiten, 42 Euro.