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Joan Wallach Scott
„Der neue und der alte französische Säkularismus“

Die gelebte Trennung von Staat und Kirche bedeutet nicht, dass damit die katholische Abwertung der Frau beendet ist. Das macht die Historikerin Joan Wallach Scott am Beispiel Frankreich deutlich. Säkularismus habe nichts mit Gleichberechtigung zu tun.

Von Jürgen König | 10.02.2020
Buchcover "Der neue und der alte französische Säkularismus". Als Hintergrund die französische Flagge
Für die Historikerin Joan Wallach Scott ist die Unterdrückung der Frauen Teil des Säkularismus (Hintergrund: Imago/ Buchcover Wallstein Verlag)
Ihrem Lebensthema Gender bleibt Joan Wallach Scott auch in diesem Buch treu. Ein Essay von knapp 50 Seiten, in der Übersetzung von Karin Wördemann für einen wissenschaftlichen Text bemerkenswert gut lesbar. Auch wer mit den heftigen französischen Säkularismus-Diskussionen der letzten Jahre nicht vertraut ist, findet Gefallen an der Schärfe, mit der die 78-jährige US-amerikanische Historikerin die Debatte zusammenfasst, analysiert und zuspitzt.
Auslöser ihres Essays waren die in Frankreich in den letzten Jahren verabschiedeten Gesetze zum Verbot muslimischer Kopftücher und Schleier: 2004 wurden sie an öffentlichen Schulen untersagt, seit 2010 ist jede Form der Verhüllung im öffentlichen Raum verboten. Joan Wallach Scott kritisiert die Gesetze ebenso wie die vorangegangenen Debatten.
"Anders als der Säkularismusdiskurs im 19. Jahrhundert bestimmt sich der neuere Diskurs fast gänzlich durch den Gegensatz zum Islam und macht die Geschlechtergleichheit zu einer seiner zentralen Forderungen. Der Islam, heißt es, sei gleichbedeutend mit der Unterdrückung von Frauen, während der ‚Säkularismus‘ die Gleichheit zwischen Männern und Frauen garantiere. Manche behaupten sogar, die Geschlechtergleichheit sei ein originärer Wert säkularer Nationalstaaten. Meine Arbeit […] stellt diese Verbindung in Frage."
Die Geschlechterungleichheit sei für die Säkularisierung westlicher Nationalstaaten grundlegend gewesen, so Scotts zentrale These.
Was die Aufklärung im Gepäck hatte
In einem historischen Abriss erinnert sie an Vertreter der Aufklärung, die im 18. Jahrhundert die Autorität der katholischen Kirche durch Werte der Wissenschaft und der Vernunft einschränken wollten. Dabei seien manche Unterscheidungen elementar geworden: die Abgrenzungen von Politik und Religion, öffentlich und privat, politisch und häuslich, von Vernunft und Affekt, Männern und Frauen.
"Der Säkularismus akzeptierte die Freiheit des privaten religiösen Gewissens so lange, wie dieses privat blieb; er definierte auch die Familie mit der Frau im Mittelpunkt als eine private Institution. Die Privatisierung der Religion und des Bereichs der Frauen führte im Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts zur Gleichsetzung von Frauen und Religion. […] Es war die Revolution von 1789, die diese Verknüpfung von Frauen mit Religion im politischen Diskurs der Republikaner verankerte."
Im Feudalismus seien Frauen gesellschaftlich wie politisch sehr viel präsenter gewesen – erst die Republik, so Joan Wallach Scott, habe die Frauen gänzlich in den Bereich des Häuslichen verbannt, habe ihnen jede politische Betätigung schwer, wenn nicht unmöglich gemacht.
Die Parallelen zwischen altem und neuem Säkularismus
Mit Blick auf den französischen Kolonialismus, insbesondere in Nordafrika, schlägt Scott die Brücke zur aktuellen Säkularismus-Diskussion. "Die Asymmetrie im Geschlechterverhältnis wurde im 19. Jahrhundert (und wird heute noch) durch einen Vergleich mit – vorwiegend arabisch/muslimischen – Bevölkerungen normalisiert, von denen es hieß, sie seien ‚wild‘ und ‚unzivilisiert‘. […] (Es gibt eine) lange Tradition, die mit französischen Frauen Handlungsfähigkeit verbindet – auch wenn diese Handlungsfähigkeit dazu führt, ‘ihren Willen freiwillig zu opfern‘ – und die den Mangel an solcher Handlungsfähigkeit mit muslimischen Frauen in Verbindung bringt."
Genau da setzt die Kritik Scotts an: Der "alte" Säkularismus habe letztlich nur dazu gedient, die Frauen zu unterdrücken, der "neue" Säkularismus verfolge im Grunde das Ziel, nun der muslimischen Frau ebenfalls jede Eigenständigkeit abzusprechen. Dass eine Muslima aus freiem Willen und mit guten Gründen den Schleier trage, sei im republikanischen Diskurs schlicht nicht vorgesehen.
"Ein Lehrsatz des Säkularismus in Vergangenheit und Gegenwart besagt, dass freie Entscheidung und Religion einen Widerspruch bilden."
Die Marianne symbolisiert die Kluft
Dass Schleier und Niqab tragende Frauen vom Verfassungsrat während der Beratungen zum Verhüllungsverbot nicht ein einziges Mal angehört wurden, empört Joan Wallach Scott, ebenso wie die ihrer Ansicht nach auch bei Soziologen und Politikern vorherrschende Auffassung, wonach verschleierte Frauen stets als "mutmaßliche Opfer ihrer Väter, Ehemänner, Brüder oder allgemein ihrer Religion" anzusehen sind, aus der man sie befreien müsse. Kaum jemand, so Scott, würde sich für die Lebens- und Glaubensrealitäten muslimischer Frauen interessieren, stattdessen werde unablässig auf die historischen Bilder und Werte der Republik verwiesen: mit dem "strategischen Einsatz der neuen laïcité" werde den Muslimen "die Anerkennung als Vollmitglieder der französischen Nation" verweigert.
"Wie es eine Abgeordnete der sozialistischen Partei 2010 in der Nationalversammlung ausdrückte: ‚wenn es ein Bild gibt, das einem einfällt, um die Kluft zu veranschaulichen, die das Tragen eines Niqab von der Republik trennt, dann ist es die (Nationalfigur der) Marianne: die Frau, die eine Jakobinermütze trägt, die sich mit stolzem Gesichtsausdruck, hochgetragenen Schultern, freiliegendem Busen […] bewegt. Diese Frau entblößt sich, zeigt sich selbst.‘ Der Gegensatz besteht zwischen der stolzen französischen Frau, die ihr Schicksal gewählt hat – ersichtlich an ihrer entblößten Brust – und der unterwürfigen Muslimin, die in Scham verhüllt ist."
Die Heftigkeit der Debatte findet Joan Wallach Scott verräterisch. "(Die Einwände der Kommentatoren haben etwas mit dem zu tun), was man das politische Unbewusste des französischen Republikanismus nennen könnte. Dieses Unbewusste gründet in einem nicht eingestandenen, aber dauerhaft vorhandenen Widerspruch zwischen politischer Gleichheit und dem Geschlechterunterschied im französischen Republikanismus. Der Widerspruch ist seit 1789 offensichtlich, und er verschwand auch nicht, als die Frauen im Jahr 1944 das Wahlrecht bekamen."
Gute Bestandsaufnahme mit Lücken
Man liest das Buch mit wachsendem Interesse, die Gedankengänge und Schlussfolgerungen sind originell, bieten reichlich Gesprächsstoff auch für deutsche Kopftuch-Diskussionen. Ein entscheidender Einwand gegen das Buch ist dieser: Joan Wallach Scott geht es erklärtermaßen nur darum, dass
"die starken Einwände gegen den Schleier weder als eine einfache und logische Antwort auf den Terrorismus noch als eine prinzipientreue Befürwortung der Geschlechtergleichheit verstanden werden dürfen. Es handelt sich stattdessen um ein Verfahren, die vorhandenen und fortbestehenden Ungleichheiten in der französischen Gesellschaft […] zu leugnen."
Die "patriarchalen Aspekte muslimischer Praktiken" will Joan Wallach Scott zwar "nicht leugnen", doch geht sie mit keinem Wort weiter darauf ein. Und das ist bedauerlich, denn so beschleicht den Leser immer wieder das Gefühl, dass hier ein gewichtiger Teil jener "Lebens- und Glaubensrealität muslimischer Frauen" ausgeklammert wird – was angesichts der Tatsache, dass Salafisten in manchen französischen Vorstädten schon die Kontrolle übernommen haben, am Ende dann doch: unzulässig wirkt.
Joan Wallach Scott: "Der neue und der alte französische Säkularismus",
Wallstein-Verlag, Reihe: Historische Geisteswissenschaften. Frankfurter Vorträge Bd. 10, 60 Seiten, 9,90 Euro.