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Jüdische Bildung
Bete und lerne

Lernen als Gottesdienst: Schon seit der Antike kennt das Judentum neben dem Bethaus auch ein Lehrhaus - ein Ort der religiösen Bildung und der Auslegung der Thora. An diese Tradition knüpft Rabbinerin Elisa Klapheck jetzt an - mit dem "Jüdisch-Politischen Lehrhaus".

Von Christian Röther | 17.08.2017
    Schreiben an einer Torahrolle.
    Gemeinsam beten oder gemeinsam lernen - was ist für Juden wichtiger? (dpa / picture alliance / Daniel Bockwoldt)
    Die Geschichte der jüdischen Lehrhäuser hat womöglich schon vor zweieinhalb Jahrtausenden begonnen. In jener Zeit, als das Volk Israel aus dem babylonischen Exil zurückkehrt und in Jerusalem den Tempel wiederaufbaut. Offenbar muss damals auch die religiöse Bildung aufgefrischt werden. Die hebräische Bibel - also im christlichen Sprachgebrauch das "Alte Testament" - sie schildert, wie Schriftgelehrte die Bevölkerung unterrichten:
    "Und sie legten das Buch des Gesetzes Gottes klar und verständlich aus, sodass man verstand, was gelesen worden war."
    "Die Thora, die fünf Bücher Mose, wurden nicht mehr nur gesehen als eine Anleitung, wie man jetzt den Gottesdienst zu machen hat, sondern etwas, was man studieren kann, worüber man diskutieren kann. Wozu es auch verschiedene Meinungen gibt. Und so entstanden die Lehrhäuser im antiken Israel."
    Dieser Ansicht ist Elisa Klapheck, Professorin für Jüdische Studien in Paderborn und liberale Rabbinerin in Frankfurt am Main. Auch für Wolfgang Georgy von der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburg sind Lehrhäuser eine wichtige Tradition im Judentum.
    "Man kann sagen, dass der Begriff Lehrhaus immer eine sehr große Bedeutung gehabt hat. Es ist nicht einfach, dass Juden sich treffen, um gemeinsam zu beten, sondern viel wichtiger ist eigentlich noch, gemeinsam zu lernen."
    Wiederbelebung der Lehrhäuser
    Vor 100 Jahren steckt die jüdische Bildung erneut in einer tiefen Krise - diesmal nicht im babylonischen Exil, sondern in der europäischen Diaspora. So empfindet es damals zumindest der Philosoph und Historiker Franz Rosenzweig - und er wundert sich über einen intellektuellen Vorsprung der Nicht-Juden gegenüber Juden:
    Franz Rosenzweig
    Franz Rosenzweig (picture alliance / dpa)
    "Was im geistigen Deutschland schon die Spatzen von allen Dächern pfeifen, das gilt unter uns Juden noch als unerhörte Ketzerei."
    Viele Zeitgenossen stimmen Rosenzweigs Diagnose zu. Er schreibt von einem …
    "… jüdischen Bildungsproblem auf allen Stufen und in allen Formen. Wer helfen will, muss sich sputen, sonst findet er den Patienten nicht mehr am Leben."
    Der Patient, das ist der jüdische Gelehrtenstand. Franz Rosenzweig findet: Die Juden hätten sich durch die gesellschaftliche Emanzipation vom Judentum entfremdet - und eben auch von der religiösen Bildung. Rosenzweig will deshalb die jüdischen Lehrhäuser neu beleben, erklärt Elisa Klapheck.
    "Diese Tradition, die aber eigentlich uralt ist, die es immer gab, das Bait Midrash - Bait heißt Haus, Midrash heißt Auslegung, das Haus der Auslegung - das sind die Lehrhäuser. Das hat Franz Rosenzweig auf eine moderne Art und Weise gegründet. Das moderne jüdische Lehrhaus."
    Rosenzweig: "Jüdischen Lehrerstand geistig erneuern"
    Franz Rosenzweig wird 1886 in Kassel geboren, in eine liberale jüdische Familie. Sein Vater ist Fabrikant und Politiker. Rosenzweig studiert erst kurz Medizin, dann Geschichte und schließlich Philosophie. Er promoviert über Hegel und überlegt, zum Christentum zu konvertieren. Dann jedoch beginnt er, sich intensiv mit dem Judentum zu befassen.
    Im Ersten Weltkrieg meldet sich Rosenzweig freiwillig, wird vor allem als Sanitäter eingesetzt. An der Front in Mazedonien beginnt er mit seinem philosophischen Hauptwerk: "Der Stern der Erlösung". Ab 1920 dann leitet Rosenzweig in Frankfurt am Main das "Freie Jüdische Lehrhaus", mit dem Ziel …
    "… den jüdischen Lehrerstand in Deutschland gesellschaftlich und geistig zu erneuern. Der Lehrer und der Gelehrte müssen die gleiche Person sein."
    Rosenzweig will sich die Entfremdung der Juden vom Jüdischen zunutze machen. Laien sollen Laien lehren, Lehrer und Schüler die Rollen wechseln. So will er Wege finden, wie jüdisches Leben in der Moderne gelingen kann. Das "Freie Jüdische Lehrhaus" ist bis heute Vorbild für ähnliche Einrichtungen in Deutschland und der ganzen Welt.
    Franz Rosenzweig allerdings muss die Leitung schnell wieder abgeben. Wegen einer schweren Nervenerkrankung kann er sich bald nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen. Sein letztes Werk "Das neue Denken" diktiert er seiner Frau mit den Augenlidern. Rosenzweig stirbt 1929, kurz vor seinem 43. Geburtstag.
    Jüdische Bildung heute
    Die Idee der Lehrhäuser aber findet durch Franz Rosenzweig ihren Weg in die Moderne. Heute gibt es diverse jüdische Bildungseinrichtungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten. In Hamburg etwa ist das Lehrhaus nicht nur jüdisch, sondern wird von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit betrieben, erklärt Wolfgang Georgy von der Liberalen Jüdischen Gemeinde:
    "Wir bemühen uns, für vorwiegend christliche Teilnehmer deren eigene Religion auch im Lichte des Judentums zu interpretieren. Was sehr gut ankommt bei den Leuten. Dann ist noch ein weiterer politischer Zweck, dass man gegen Antisemitismus was tut, wo er auftritt. Und einfach sonst nur das gedeihliche Miteinander von Christen und Juden pflegt."
    In Frankfurt am Main, wo Franz Rosenzweig einst wirkte, will auch die Rabbinerin Elisa Klapheck das Lehrhaus wieder zum Leben erwecken.
    Die liberale Rabbinerin Elisa Klapheck
    Die liberale Rabbinerin Elisa Klapheck (Mark Heinemann)
    "Ich glaube, wir brauchen heute einen neuen Dialog zwischen Religion und Politik und wir brauchen eine Erneuerung der jüdischen Religion - so wie Franz Rosenzweig sich das vorgestellt hat - aber mit gesellschaftspolitischen Themen."
    "Europa ist jüdischer, als man denkt"
    Elisa Klapheck hat deshalb das "Jüdisch-Politische Lehrhaus" gegründet. In einer ersten Veranstaltung ging es um jüdische Einflüsse im europäischen Recht.
    "Europa ist jüdischer, als man denkt. Diese Rechtstraditionen - zum Beispiel die Idee der Menschenrechte - die sind über das Christentum, aber auch über sagen wir mal die Französische Revolution - über säkulare Entwicklungen - haben die sich in Europa durchgesetzt. Aber sie kommen ganz stark aus diesem jüdischen Rechtsdenken von Anfang an, aus dem Alten Testament, aus der Thora."
    In der zweiten Veranstaltung soll es um jüdische Einflüsse im Arbeitsrecht gehen. Als "Vater des deutschen Arbeitsrechts" gilt der jüdische SPD-Politiker Hugo Sinzheimer, ein Zeitgenosse von Franz Rosenzweig. Er war vom jüdischen Denken geprägt, sagt Elisa Klapheck:
    "Es gibt eine Tradition im Judentum - schon im Talmud - über die Arbeitsverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Und im Talmud wird schon davon gesprochen, dass der Arbeitgeber in einer ganz anderen Machtposition ist als der Arbeitnehmer."
    Das Arbeitsrecht versucht, diese Machtverhältnisse auszugleichen. Eine ursprünglich jüdische Idee, die so alt ist, wie es auch die jüdischen Lehrhäuser sind.
    "Mir ist es wichtig, zu zeigen, dass die jüdische Tradition auch eine allgemeine Tradition ist", sagt Klapheck. "Es ist keine Tradition des Ghettos. Und da stellt man doch manchmal fest, dass man jüdischer ist als man denkt, ohne Jude zu sein."
    'Eigentum verpflichtet' in der jüdischen Wirtschafts- und Sozialethik
    mit Oberbürgermeister Peter Feldmann, Rabbinerin Prof. Dr. Elisa Klapheck und Rechtsanwalt Abraham de Wolf
    Dienstag, 22. August 2017, 19:00-21:00 Uhr, Trude Simonsohn-Saal der Johann Wolfgang Goethe Universität (Campus Westend, Casino-Gebäude), Frankfurt am Main
    Anmeldung bis 18. August an protokoll@stadt-frankfurt.de